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**** NACH § 117 GOBT AUTORISIERTE FASSUNG ****
*** bis 10.10 Uhr ***
Deutscher Bundestag
194. Sitzung
Berlin, Freitag, den 30. September 2016
Beginn: 9.02 Uhr
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es gibt nur eine kleine zusätzliche Mitteilung bzw. die Notwendigkeit, etwas zu vereinbaren, bevor wir in die Tagesordnung einsteigen. Es gibt eine Vereinbarung der Fraktionen, den Entwurf eines Gesetzes zur Flexibilisierung des Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben auf der Drucksache 18/9787 auch an den Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft zur Mitberatung zu überweisen. – Das leuchtet offenkundig fast allen sofort ein. Dann können wir das so beschließen. Dann wird so verfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2016
Drucksache 18/9700
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f)
Sportausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache 60 Minuten dauern. – Auch das ist unstreitig. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drei Themen waren uns in diesem Jahr beim Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit besonders wichtig: erstens die wirtschaftliche Entwicklung, zweitens der dramatische Anstieg rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalt und drittens die Rentenangleichung.
Über die in dem Bericht zum Ausdruck gebrachte Sorge über die Zunahme rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalttaten und deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung gab es eine breite Berichterstattung. Unter den verschiedenen Kommentaren, auch von politischer Seite, gab es eine Menge Kommentare mit dem Tenor, eine so klare Benennung der Gefahren, die vom Anstieg des Rechtsextremismus ausgehen, tue dem Osten insgesamt nicht gut. Da war sogar von einem angeblich neuen Osthass und dergleichen mehr die Rede.
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle einmal etwas zu meinem Amtsverständnis sagen. Ich betrachte es als meine Aufgabe, die Probleme, die der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse entgegenstehen, klar und deutlich zu benennen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ja, natürlich sind das Erstarken von Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein gesamtdeutsches Phänomen und ein gesamtdeutsches Problem; aber die Zahlen sind eindeutig. Es gibt nichts daran zu beschönigen, dass es in Ostdeutschland erstens eine massive Zunahme dieser Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr gibt und dass zweitens laut Verfassungsschutzbericht für 2015 die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten bezogen auf 1 Million Einwohner in jedem ostdeutschen Bundesland deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder liegt. Sollen wir vielleicht so tun, als gäbe es diesen Befund nicht?
Nach Einschätzung des BKA ist für das Jahr 2015 vom höchsten Stand der politisch motivierten Kriminalität seit der Einführung dieses Definitionssystems im Jahre 2001 auszugehen. Sollen wir das auch ignorieren? Sollen wir darüber hinweggehen, in der Hoffnung, dass sich das alles irgendwie von selbst erledigt? Sollen wir darüber schweigen? Sollen wir es tatsächlich so machen wie die drei Affen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen?
Wir leben in einem Land, in unserem Land, wo Flüchtlingsheime angezündet und Menschen über die Straße gejagt werden, weil sie eine andere Hautfarbe haben. Diese Vorkommnisse haben auch weltweit für Aufmerksamkeit und Entsetzen gesorgt. Wenn das kein Grund ist, Alarm zu schlagen! Wann soll man das bitte schön denn eigentlich tun,
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
wann, wenn nicht jetzt? Und wer sollte es denn tun, wer, wenn nicht wir?
Ich habe es in der vergangenen Woche gesagt, und ich wiederhole es hier: Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz stellen eine sehr ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar. Ein entschlossenes Handeln der Bundesregierung, der Länder, der Kommunen und der Zivilgesellschaft ist notwendig, um den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland zu sichern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, ich betone hier nochmals ausdrücklich: Die ganz überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen ist nicht fremdenfeindlich oder rechtsextrem. Aber diese überwältigende Mehrheit ist leider im Moment noch eine zum Teil schweigende Mehrheit. Es sind aber alle gefordert, dem braunen Spuk noch entschiedener, noch lauter, noch deutlicher entgegenzutreten und diejenigen zu unterstützen, die das schon seit vielen Jahren tun.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Diese Menschen und die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich gegen Extremismus und für Demokratie und Toleranz einsetzen, brauchen Planungssicherheit. Das empfiehlt der Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses, und das ist im Koalitionsvertrag festgelegt. Auf dieser Grundlage hat Bundesministerin Manuela Schwesig einen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz erarbeitet, um von der Förderung einzelner Modellprojekte hin zu einer bundesweiten, mit den Ländern abgestimmten Förderung der Präventionsarbeit zu gelangen. Ich finde, das ist ein wichtiger und ein richtiger Schritt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt das gute Wort vom Aufstand der Anständigen; es steht viel auf dem Spiel. Das ist wichtig für unsere moralische Integrität, und das ist auch deshalb wichtig, weil der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands, freundlich formuliert, äußerst verhalten verläuft.
Ja, in 26 Jahren deutscher Einheit ist sehr viel erreicht worden, wirtschaftlich und sozial. Wir sind im Osten Deutschlands fast bei der wirtschaftlichen Stärke des EU-Durchschnitts angekommen. Darauf können wir mit Recht stolz sein; ich bin es jedenfalls.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Aber der Abstand zur Wirtschaftskraft Westdeutschlands lässt sich nicht leugnen und nicht schönreden; dazu bin ich jedenfalls auch nicht bereit.
Mir ist schon klar: Das sind alles ziemlich unbequeme Wahrheiten. Manche Leute in diesem Land sind offenbar der Meinung, dass man den Ostdeutschen diese Wahrheiten nicht zumuten dürfte. Deshalb macht man lieber ein bisschen Schönfärberei hier und ein bisschen Propaganda da. Dann wundert man sich hinterher darüber, dass so viele Leute AfD wählen, weil sie den etablierten Parteien kein Wort mehr glauben. Die Ostdeutschen halten die Wahrheit sehr wohl aus. Sie haben schon ganz andere Dinge ausgehalten. Sie haben einer ganzen Reihe von widrigen Umständen zum Trotz Großartiges geleistet und unglaublich viel erreicht. Was die Ostdeutschen wirklich nicht mehr ertragen, ist die Unwahrheit. Ich kann deshalb nur dringend davor warnen, bei der im Koalitionsvertrag klar und eindeutig vereinbarten Rentenangleichung erneut Glaubwürdigkeit zu verspielen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Ministerin Nahles hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die vollständige Angleichung bis zum Jahr 2020 vorsieht. Ich vertraue bei der Umsetzung auf die Unterstützung von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich vertraue da selbstverständlich auch auf unsere Bundeskanzlerin, die vor zwei Jahren in einem Interview gesagt hat, dass die Renteneinheit 2020 erreicht sein soll und dass sie bis 2017 ein Gesetz anstrebt, das den Fahrplan zur vollständigen Angleichung der Rentenwerte in Ost und West festschreibt.
Ich vertraue darauf, dass wir sagen, was wir tun, und dass wir tun, was wir sagen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun die Kollegin Susanna Karawanskij für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Susanna Karawanskij (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wenn du etwas werden willst, musst du in den Westen gehen. – Das hat nicht jemand in den 90er-Jahren gesagt, sondern das habe ich letzte Woche in meinem Wahlkreis in Oschatz zu hören bekommen. Dass das nach 26 Jahren immer noch in den Köpfen drin ist und auch ein Teil der Wahrheit ist, ist irgendwie schlimm.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dann würde ich mal anfangen, zu arbeiten!)
Das erklärte Ziel, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West herzustellen, ist nach einer Generation noch nicht erreicht. Da frage ich mich, wie lange der Versuch noch dauern soll. Noch eine weitere Generation, 50 Jahre? Wann wird das Ziel endlich erreicht? Das ist doch eine Bankrotterklärung Ihrer Regierungspolitik. Sie haben es über ein Vierteljahrhundert nicht geschafft, dieses Ziel zu verwirklichen.
(Beifall bei der LINKEN)
Neben der treffenden Analyse, dass vor allem der ländliche Osten ganz schön abgehängt ist, liefern Sie kein Zukunftsprogramm, keinen Entwurf, was man dagegen tun kann und welche Maßnahmen man ergreifen sollte. Sie lassen die Menschen im Regen stehen. Ja, die Menschen sind enttäuscht. Sie sind zum Teil wütend. Sie sind auch besorgt, und manchmal haben sie resigniert. Sie sind schlicht und ergreifend machtlos. Sie müssen immer wieder diesen Kampf aufnehmen, immer wieder darauf pochen, dass sie nicht wie Degradierte behandelt werden. Das geschieht nicht durch offene Anfeindungen, das geschieht auch nicht durch eine Ohrfeige, sondern das geschieht ganz still, zum Beispiel auf dem Lohnzettel, auf dem Rentenbescheid und im Portemonnaie. Der Kfz-Mechaniker bekommt immer noch durchschnittlich 500 Euro weniger, obwohl er dieselbe Ausbildung genossen hat, vielleicht sogar beim selben Ausbilder. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist nicht mehr erklärbar.
Der Osten wird älter. Auch das stellen Sie in Ihrem Bericht fest, und zwar nicht zum ersten Mal. Über ein Viertel der Pflegebedürftigen lebt im Osten. Aber auch die Pflegekräfte bekommen im Osten durchschnittlich 500 Euro weniger. Dieses Missverhältnis wird nicht von allein verschwinden. Es ist unglaublich, dass diese Einkommensschere immer noch vorhanden ist. Es ist eine politische Aufgabe, dieses Gleichgewicht herzustellen. Da kann man nicht mit einem Fingerzeig sagen, dass irgendjemand diese soziale Gerechtigkeit herstellen soll. Es ist unsere Aufgabe, es ist die Aufgabe des Staates, diese soziale Gerechtigkeit herzustellen.
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist schon krass, wenn man sich die Tabellen zur Altersarmut anschaut. Unter den Menschen, die in Rente gehen oder in 20 Jahren in Rente gehen werden, ist das Risiko, als Rentner arm zu sein, im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Warum eigentlich? Das muss doch nicht so sein; das ist änderbar. Es ist jemandem, der die DDR nur noch aus Geschichtsbüchern kennt, doch nicht mehr erklärbar, warum er erstens weniger verdient und zweitens auch noch weniger Rentenpunkte sammelt. Wir wollen die steuerfinanzierte Angleichung des Rentenwertes Ost an die allgemeinen Rentenwerte unter Beibehaltung des Umrechnungsfaktors der ostdeutschen Entgelte. Ich kann es auch einfacher sagen: Wir wollen Augenhöhe und Gleichheit.
(Beifall bei der LINKEN – Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Wachen Sie doch mal auf, Frau Kollegin!)
Denn die Menschen arbeiten hart – auch das zeigt der Bericht –, sie bringen sich ein und rackern. Und wozu? Um zu erkennen und erzählt zu bekommen, dass sie immer noch anders bewertet werden als die Menschen in den alten Ländern, dass ihre Arbeit weniger wert ist, dass der Torgauer, Wermsdorfer oder Schkeuditzer weniger leistet oder weniger produktiv ist?
Sie erkennen in Ihrem Bericht an, dass trotz der Kleinteiligkeit der Wirtschaft das Wirtschaftswachstum im Osten steigt, dass es im Vergleich zum Westen aber stagniert, und das Ganze bei 67 Prozent. Bei der Vermögensverteilung ist es noch düsterer: 44 Prozent des Westniveaus! Wir sehen an dieser Stelle eine Spaltung. Wir sehen sie auch bei den Kommunen. Natürlich gibt es auch im Westen ländliche Regionen und Kommunen, die strukturell benachteiligt sind. Das Problem ist allerdings, dass dies im Osten den Normalfall darstellt, im Westen nicht. Natürlich gibt es Kommunen wie Gelsenkirchen oder Bremen. Doch im Vergleich ist der ganze Osten Gelsenkirchen; das macht den Unterschied aus.
(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch hoch drei!)
Die Kommunen müssen wieder handlungsfähig, überlebensfähig und zukunftsfähig gemacht werden. Da ist es nicht sonderlich attraktiv, wenn die öffentliche Daseinsvorsorge abgebaut wird. Die Abwärtsspirale von niedrigen Einnahmen, verhältnismäßig hohen Sozialabgaben und der lächerlichen Höhe der Investitionen – wir haben immer noch einen Investitionsstau von über 130 Milliarden Euro – kann man nicht mit Kleckerbeträgen und auch nicht mit finanziellen Probierportionen stoppen. Es muss über eine umfassende Gemeindefinanzreform nachgedacht werden. Wir Linke haben dazu Vorschläge eingebracht.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Karawanskij, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wendt zulassen?
Susanna Karawanskij (DIE LINKE):
Nein, ich bin gerade in Fahrt.
(Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das merken wir.
(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Ja, nur in die falsche Richtung!)
Susanna Karawanskij (DIE LINKE):
Wir wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickeln. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, wie wir die Bund-Länder-Finanzbeziehungen tatsächlich solidarisch gestalten können. Wir wollen auch eine langfristige Förderung von strukturschwachen Regionen in Ost und West durch einen Solidarpakt III. Wenn Sie wirklich an der Herstellung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West interessiert sind, dann setzen Sie sich doch damit einmal auseinander, anstatt die Anträge der Linken immer nur reflexartig abzulehnen, nur weil Ihnen der Absender nicht passt.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Osten ist alt, der Osten ist arm – er wird sogar noch ärmer –, und der Osten ist rechts. Frau Gleicke, Sie haben gerade gesagt: Mit Erschrecken stellt die Bundesregierung fest, dass die Zahl der fremdenfeindlichen und rechtsextremistischen Übergriffe im Osten zugenommen hat. – Das ist tatsächlich schlimm. Das ist vor allen Dingen für die Menschen schlimm, die sich tagtäglich engagieren, trotzdem den Mund aufmachen und Flagge zeigen. Doch der Befund ist nicht neu, und er ist auch nicht überraschend. Es ist seit Jahren erforscht und nachgewiesen, dass wir ein Problem mit Rassismus und rechten Einstellungen haben. Die Frage ist doch: Was folgt daraus? Abgesehen davon, dass der Bericht dies konstatiert, geht er nicht auf die vielfältigen Ursachen ein. Es fehlt an einer Zukunftsperspektive. Was wollen Sie denn unternehmen, um das zu ändern? Ich muss sagen: Da haben Sie in der Vergangenheit wirklich gepennt oder das Problem nicht ernst genommen.
(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Ach was! Es ist eine Frechheit, das von Ihnen hören zu müssen!)
Seit über 15 Jahren wissen wir, dass wir im Osten manifeste rechte Strukturen haben. Anstatt langfristig geeignete Institutionen zu fördern, haben Sie jahrelang Programme mit einer Dauer von zwei bis drei Jahren aufgelegt. Man konnte sich mit Projekten bewerben und musste beschreiben, wie sie zur Demokratieförderung beitragen. Das Ganze war meistens zeitlich begrenzt und prekär. Dann wurde evaluiert, und es wurden Best Practices gesammelt, aber sie wurden institutionell nicht weiter fortgeführt. Was ist denn dagegen einzuwenden, das Bekenntnis abzugeben, dass antirassistische Bildungsarbeit Grundkonsens ist,
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Grundkonsens bei der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer, beim Studium, im Kindergarten und in der Grundschule? Das ist doch gar kein Problem.
Mir geht es nicht darum, hier eine Kluft zwischen Ost und West aufzumachen und zu sagen, was besser oder schlechter ist.
(Stefan Zierke [SPD]: Zu spät! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Ha, ha! – Nein, natürlich nicht!)
Der Osten ist zum Teil anders. Wenn man sich zum Beispiel die Erwerbsquoten von Frauen anschaut und sieht, dass alleinerziehende Frauen im Osten fast immer selbstbewusst Vollzeit arbeiten,
(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Ich dachte, wir kämpfen für Vollzeitarbeit!)
dann lässt sich schon feststellen, dass sich die biedere, vielleicht altbackene Form des Hausfrauendaseins doch ein bisschen gewandelt hat. Daran kann man doch anknüpfen. Das sind die Ansatzpunkte für ein fortschrittliches und zukunftsorientiertes Bild, das dann auch für Gesamtdeutschland gelten kann.
Meine Damen und Herren, ich, meine Generation und auch meine Fraktion, die Linke, haben keine Lust mehr, möglicherweise noch einmal ein Vierteljahrhundert zu warten, bis Sie die deutsche Einheit hergestellt haben.
(Lachen bei der CDU/CSU)
Wachen Sie auf! Tun Sie etwas! Geben Sie den Menschen Zukunftsperspektive, Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Mark Hauptmann das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Mark Hauptmann (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Geschätzte Zuschauer! Ich freue mich, dass wir in dieser Stunde der Debatte über den Jahresbericht wieder einen besonderen Gast unter unseren Zuschauern haben. Ich freue mich, einen Thüringer Landsmann begrüßen zu können, nämlich den Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Lieber Roland Jahn, herzlich willkommen zu dieser Debatte.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es freut uns, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit zeigen, dass wir uns schätzen. Ich glaube, es spricht für Sie, aber auch für uns, dass wir beide sagen können: Es ist gut, dass in diesen Jahresbericht nicht nur das Thema „Aufarbeitung der DDR-Diktatur“ aufgenommen wurde, welches aus der Perspektive der letzten 25 Jahre beleuchtet wird, sondern dass darin vor allem auch über den zukünftigen Umgang mit den Stasiunterlagen Aussagen getroffen wurden. Deswegen ein herzlicher Dank auch an die Staatssekretärin und ihr Haus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren, bevor ich auf wesentliche Punkte dieses Jahresberichtes eingehe, erlauben Sie mir bitte einen kurzen Hinweis an die geschätzte Kollegin der Linken und eine Bemerkung zum Thema Rente.
Zur Rente ist das Zitat der Bundeskanzlerin schon genannt worden: Es gibt einen klaren Fahrplan in diesem Land, und der besagt: Angleichung 2020. Was wir nicht brauchen, ist eine populistische Debatte der Linken, die sagt: Wir wollen die Höherbewertung der Ostlöhne beibehalten, gleichzeitig sollen sich die Ost- und Westrenten aber auf demselben Niveau befinden. Fragen Sie doch einmal jemanden aus Gelsenkirchen, Delmenhorst oder Trier-Saarburg, was die sagen! Wo bleibt deren Lohnausgleich? Wo bleibt deren Hochstufung?
Wir wollen in Deutschland ein generationengerechtes Rentenmodell für das gesamte Land. Deswegen verabschieden Sie sich bitte von Ihren Wunschvorstellungen!
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann diese Jammerei der Linken nicht mehr hören.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich bin stolz auf dieses Land und darauf, was wir in diesem Land in den letzten 26 Jahren erreicht haben. Bei Ihnen ist der Jammerton zum Kammerton geworden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Das, was wir erreicht haben, ist übrigens einmalig in dieser Welt. Kein anderes Land weltweit hat in den vergangenen 26 Jahren eine solche Leistung vollbracht. Das sollten wir in den Vordergrund stellen.
Natürlich ist noch nicht alles hundertprozentig erreicht. Sie sprechen aber immer vom halbleeren Glas. Dabei ist das Glas längst mehr als dreiviertel gefüllt. Hier müssen wir aufwachen und sagen, was wir in diesen 26 Jahren Umbruchzeit erlebt haben.
Wo einst rigide Planwirtschaft herrschte, florieren jetzt innovative Start-ups und ein innovativer Mittelstand. Wo einst die Natur unter staatlicher Aufsicht der DDR verseucht wurde, wandern jetzt Touristen durch Naturschutzgebiete.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja! So ist es!)
Wo einst Menschen sechs Jahre früher gestorben sind, haben wir jetzt eine höhere Lebenserwartung. Das haben wir in 26 Jahren deutsche Einheit erreicht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wenn wir uns in diesem Land einmal von Rostock bis Sonneberg und von Frankfurt/Oder bis Eisenach umschauen, dann erleben wir Betriebe, die international wettbewerbsfähig sind, und einen Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung, der heute höher als im EU-Durchschnitt liegt. Das alles sind Entwicklungen, auf die wir letztendlich stolz sein dürfen.
Was richtig ist – ich glaube, hier zeigt auch der Jahresbericht kein verzerrtes Bild –, ist, dass wir, wie viele andere Länder auch, noch Herausforderungen zu bewältigen haben. Diese Herausforderungen müssen wir mit aller Tatkraft angehen. Wir haben in den neuen Ländern eine höhere Arbeitslosenquote, eine niedrigere Produktivität und geringere Steuereinnahmen. Aber die Wirtschaftskraft hat sich in den letzten Jahren extrem entwickelt. Hier müssen wir mithelfen, diese Lücke weiter zu verringern.
Ich möchte, weil wir derzeit den Gesamthaushalt für das Jahr 2017 debattieren, sagen: Hier setzen wir nicht auf das Gießkannenprinzip, sondern hier machen wir eine Förderung auf den Punkt. Egal ob das bei INNO-KOM oder bei ZIM ist, einem Programm für unseren Mittelstand: Wir fördern gezielt innovative Ideen. Wir fördern gezielt eine mittelständische Struktur.
Eines ist in den neuen Ländern ganz klar zu sehen: Dort ist die Wirtschaftsstruktur anders als im Westen. Wir haben keine Supertanker im Sinne von vielen großen DAX-Firmen. Aber wir haben sehr viele mittelgroße Unternehmen, unsere Schnellboote. Diese Unternehmen müssen wir für den internationalen Markt und die Globalisierung fit machen. Hier haben wir seitens der Bundesregierung und auch mit Blick auf den Haushalt 2017 bereits Maßnahmen getroffen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Hauptmann, ich habe den Eindruck, Sie sind nicht ganz so in Fahrt.
(Heiterkeit)
Könnten Sie sich vorstellen, eine Zwischenfrage des Kollegen Tempel zuzulassen?
Mark Hauptmann (CDU/CSU):
Ist das eine Aufforderung, noch weiter in Fahrt zu kommen, Herr Präsident?
(Heiterkeit – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)
Aber ich lasse die Zwischenfrage gerne zu.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt der Landsmann aus Thüringen!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Bitte.
Frank Tempel (DIE LINKE):
Danke schön. – Herr Hauptmann, einmal unter Thüringern: In meinem Landkreis, dem Altenburger Land – das liegt von Ihnen aus gesehen auf der anderen Seite von Thüringen –, muss sich gegenwärtig die Hälfte aller Vollzeitbeschäftigten aufgrund der Löhne, die sie bekommen, und aufgrund des bestehenden Rentensystems auf Altersarmut einstellen.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Schwachsinn!)
Jeder Dritte bei uns muss in den Westen fahren, um den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen, weil die Löhne bei uns nicht ausreichen. Würden Sie auch das als Gejammere bezeichnen? Diese Klagen nehmen wir mit in dieses Haus. Das sind Thüringer, Leute aus dem Osten, die bitte schön hier vertreten werden wollen.
Mark Hauptmann (CDU/CSU):
Erstens. Geschätzter Herr Kollege, wenn ich mich über das Altenburger Land informieren will, dann vertraue ich den Aussagen des direkt gewählten Abgeordneten des Altenburger Landes. Er sitzt in meiner Fraktion. Zweitens. Das Bild, das Sie von Thüringen und den neuen Bundesländern zeichnen, ist doch im Jahr 2016 nicht mehr zutreffend.
(Frank Tempel [DIE LINKE]: Das sind Zahlen! Fakten!)
Schauen Sie sich doch bitte an, was passiert ist. Wir haben in Thüringen die niedrigste Arbeitslosigkeit seit 26 Jahren. Wir haben die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit in der Geschichte unseres Landes. Es gibt in meinem Wahlkreis mehr Einpendler aus Franken als Auspendler, das heißt aus der Thüringer Region ins benachbarte Bundesland. Das sind Beispiele dafür, dass das Programm, der Aufbau Ost, in den letzten 25 Jahren gewirkt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sehr geehrte Damen und Herren, ich habe davon gesprochen, dass wir weiter daran arbeiten müssen, die Infrastruktur und die Wirtschaft voranzubringen. Damit bin ich beim Thema Infrastruktur. Man vergisst immer so leicht, wie es früher war. Früher sind wir auf der Fahrt von Leipzig nach Berlin über Betonplatten gepoltert.
(Dagmar Ziegler [SPD]: Wenn man ein Auto hatte!)
Heute haben wir eine moderne Infrastruktur, in die seit 1991, Herr Kollege, 94 Milliarden Euro investiert wurden. Für jedermann ist der Vorteil dieser Infrastruktur sichtbar.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Heute stehen wir im Stau! Das ist viel besser!)
Eine Fahrtdauer von einer Stunde und 45 Minuten von Berlin nach Erfurt mit dem Schnellzug hat es noch nie zuvor gegeben. Diese Verbesserungen in der Verkehrsinfrastruktur, die wir zu Wasser, auf der Straße und auf der Schiene sehen, setzen wir jetzt fort, indem wir uns auf die digitale Infrastruktur konzentrieren. Das Thema Breitbandausbau im ländlichen Raum betrifft vor allem den Osten dieser Republik, wo wir an dieser Infrastruktur weiter arbeiten und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern.
Wir dürfen – das ist das Weltbild der Union in dieser Regierungskoalition – die Menschen in den Städten und im ländlichen Raum nicht gegeneinander ausspielen; denn für uns ist jeder Mensch, egal wo er in Deutschland lebt, ein Individuum, das wir fördern wollen und müssen und in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft rücken müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen brauchen wir aktive ländliche Räume. Deswegen fördern wir sie seitens der Bundesregierung über die GRW-Politik und über verschiedene Maßnahmen. Aber was natürlich nicht hilft – da bin ich schnell wieder beim Kollegen der Linken –, ist eine Thüringer Linksregierung, die das einreißt, was wir als Bund mit Fördermitteln aufgebaut haben. Ich meine die Gebietsreform, bei der den Menschen vor Ort Infrastruktur wieder weggenommen wird: das Landratsamt, die Kreissparkasse, verschiedene Dinge, mit denen man den ländlichen Raum bewusst ausdünnt.
In diesen Räumen haben die Menschen das Gefühl, zurückgelassen zu werden, Bürger zweiter Klasse zu sein. Das schafft natürlich auch Räume für Extremismus und Populismus und somit auch die Voraussetzung für den Aufstieg Ihrer Partei und der AfD.
(Zuruf von der SPD: Sie haben da doch lange genug regiert!)
Das müssen wir verhindern, sehr geehrte Damen und Herren! Deswegen brauchen wir eine Stärkung des ländlichen Raumes und kein Ausdünnen und kein Zurückziehen aus diesem Bereich.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich habe bereits angesprochen, was wir im infrastrukturellen Bereich und in der Wirtschaft erreicht haben. Wichtig ist auch, was wir im sozialen Bereich erreicht haben. Die Kollegin hat vorhin angesprochen, welche Unterschiede es noch zwischen Ost und West beim Lohngefüge gibt. Man darf dabei nicht vergessen, dass wir die Arbeitslosenzahl massiv verringert haben. Dass 97 Prozent der tariflichen Entgelte in Ostdeutschland das Westniveau erreicht haben, zeigt doch, dass der Prozess, den wir in den letzten 26 Jahren in Gang gesetzt haben, erfolgreich ist.
(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Den Bericht haben Sie nicht wirklich gelesen?)
All dies widerspricht völlig dem Vorgehen, den Menschen einzureden, dass alles schlecht und mies sei. Indem Sie alles nur kaputtreden, erzielen Sie höchstens partikulär politische Erfolge für Ihre Seite.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in den letzten 26 Jahren viel erreicht. Der Osten Deutschlands hat zweifelsohne – das bestätigt auch jeder Jahresbericht – von der deutschen Einheit überproportional profitiert. Wir müssen jetzt weitergehen und auf der Grundlage der derzeitigen Ausgangslage die nächsten Schritte einleiten. Sie bestehen darin, zu sagen: Wir brauchen maßgeschneiderte Programme für den Mittelstand. Wir müssen ihn automatisieren, digitalisieren, internationalisieren und fit für die Weltmärkte und die Globalisierung machen.
Wenn ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin, sehe ich, dass man da unheimlich gut aufgestellt ist, dass wir eine hohe Exportquote haben, dass wir innovative Ideen haben, die ihresgleichen suchen, und dass wir Hidden Champions auch im ostdeutschen Mittelstand haben. Das macht mich letztendlich stolz.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
Mark Hauptmann (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss. – Ich bin stolz auf unser vereintes Deutschland und das, was wir geleistet haben. Ich freue mich – genauso wie hoffentlich viele von Ihnen – auf den Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Katrin Göring-Eckardt spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Hauptmann, ich finde es sehr schön, dass Sie so stolz sind und sich so wohl fühlen. So schlimm wie manch anderem in Ihrer Fraktion und aus Thüringen scheint Ihnen die rot-rot-grüne Regierung in unserem Bundesland nicht zu bekommen.
(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Doch!)
Darüber freue ich mich sehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Meine Damen und Herren, wir verstehen den Bericht zum Stand der Deutschen Einheit hier im Haus gern als eine Art jährliches Ritual und als Pulsmesser für die Entwicklung der fünf noch immer neuen Länder. Das Interesse ist, nun ja, unterschiedlich. Es muss mehr sein als das – zumindest wenn man das ernst nimmt, was man meint, wenn man von der deutschen Einheit spricht, wenn man mehr meint als die Aufholjagd des Ostens bei den Wirtschafts- und Lebensverhältnissen mit dem Ziel der Angleichung an den Westen. „An welchen Westen eigentlich?“, fragt man sich da. Geht es um die Angleichung an das Ruhrgebiet, an Baden, an die Eifel, an Holstein? Manche Regionen im Westen haben heute mehr Aufholbedarf. Manchen Regionen im Osten geht es richtig gut. Frau Karawanskij, ich nehme es Ihnen, ehrlich gesagt, übel, dass Sie das nicht akzeptieren, dass Sie das nicht ansprechen können.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ideologisch verblendet!)
Denn auch daraus entsteht Identität, auch daraus entsteht der Anspruch auf mehr, auch daraus entsteht, dass es nicht allen Regionen in Ostdeutschland schlecht geht, dass es manche geschafft haben und manche eben nicht. Deswegen geht es nicht dem ganzen Osten schlecht. Das ist Quatsch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es muss bei der Debatte über diesen Bericht um unser ganzes Land gehen. Nichtsdestotrotz beschreibt der Bericht in diesem Jahr – und das ist richtig – alarmierend die Zunahme der Fremdenfeindlichkeit. Er wird noch von der Realität eingeholt. In Dresden fanden in dieser Woche feige, abscheuliche Sprengstoffanschläge auf ein Gotteshaus und ein Kongresszentrum statt, all das wenige Tage vor den offiziellen Einheitsfeierlichkeiten. Es sollte eigentlich vor allem eine Feier der Wiedervereinigung zu einem weltoffenen, freiheitlichen, toleranten Deutschland sein. Ein Zeichen sollte gesetzt werden, gegen Fremdenfeindlichkeit in Bautzen, in Freital, in Heidenau, gegen die Ausschreitungen, die nicht ein Angriff auf Fremde waren, sondern ein Angriff auf unsere Freiheit und unsere Demokratie.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])
Stattdessen bestimmen Sprengstoffanschläge das Bild des Jahrestages.
Noch wissen wir zu wenig über die Täter. Dennoch: Die Polizei vermutet einen fremdenfeindlichen Hintergrund. 2016 – das sagt der Bericht aus – hatten wir in Deutschland insgesamt bisher doppelt so viele fremdenfeindliche Straftaten wie im ganzen Jahr 2015. Inzwischen sind es 1 800. 1 800! Das ist in der Tat besorgniserregend. Und diejenigen, die den Anschlag auf die Moschee verübt haben, haben bewusst in Kauf genommen, dass dort Menschen verletzt werden. Sie haben signalisiert: Ihr gehört nicht hierher, ihr gehört nicht zu uns. – Nein, das ist nicht deutsche Einheit, wie ich sie mir vorstelle, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)
Im Jahresbericht finden sich jetzt starke Worte. Von Radikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft ist die Rede – richtig. Die Ausschreitungen in Sachsen, die davor waren, werden benannt – richtig. Es ist davon die Rede – auch richtig –, dass wir in Ostdeutschland den niedrigsten Ausländeranteil und die höchste Fremdenfeindlichkeit haben. Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde, das muss man erst einmal hinkriegen, meine Damen und Herren.
Es geht aber eben auch – deswegen ist es gut, dass Roland Jahn hier sitzt; ich freue mich darüber – immer um die Frage: Was ist eigentlich innerhalb der DDR-Zeit an Aufarbeitung des Nationalsozialismus passiert? Haben wir nicht einfach nur festgestellt, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen? Haben wir nicht zu wenig aufgearbeitet, was das eigentlich auch für diesen Teil des Landes bedeutet hat?
Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahren standen wir selbst in Ost und West uns fremd gegenüber. Obwohl wir alle Deutsche sind, schien uns manchmal mehr zu trennen, als uns verbunden hat. 40 Jahre Sozialismus und 26 Jahre Mauer hinterlassen tiefe Spuren, Unsicherheit, Verunsicherung. Und ja, wir hatten Jammerossis und Besserwessis. Trotzdem kann man sagen: Wir sind aufeinander zugegangen, wir haben voneinander gelernt, und wir haben angefangen, unser Land gemeinsam zu gestalten.
Ja, es gibt sie, die Fremdenfeinde, die Ausländerfeinde. Trotzdem ist es so, dass wir andere, die wir für Demokratie, Offenheit und Toleranz in unserer Gesellschaft stehen, mehr sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deswegen bleibe ich dabei: Wir, sie brauchen eine Stimme. – Das heißt nicht, dass der Alarm im Bericht falsch wäre. Das heißt, wir sollten uns darauf besinnen, auch zu sagen, was jetzt nach vorne hin geschehen muss. Das heißt eben, dass man kein Integrationsgesetz machen sollte, was mehr ein Integrationsverhinderungsgesetz ist und was einen Stein nach dem anderen in den Weg legt. Dann kriegt man nicht Einheit, sondern dann gibt man auch noch denen Recht, die mit fremdenfeindlichen Parolen durchs Land laufen, meine Damen und Herren.
Deswegen meine große Bitte: Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen, dann geht es um mehr als um Ost oder West. Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen, dann geht es um das Zusammenleben und den Zusammenhalt in unserem Land. Wenn wir deutsche Einheit ernst meinen, dann geht es auch um diejenigen, die erst kurze Zeit in diesem Land sind. Dann geht es darum, mit ihnen gemeinsam Demokratie zu bauen und auszubauen, gegen Fremdenfeinde zu agieren und deutlich zu machen: Das ist unser Land, das ist unsere Demokratie. Wir werden sie verteidigen und gemeinsam, auch mit den jetzt Dazugekommenen, gestalten. Darum geht es. Dafür braucht es Leidenschaft und gerne auch Streit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Poschmann für die SPD.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Sabine Poschmann (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Ruhrgebiet sagt man: In alte Gräben soll man nicht noch Spundwände einziehen. Ich glaube, auch das sollten wir hier im Parlament vermeiden und gemeinsam versuchen, alte Gräben zu überwinden.
Rechtsextremismus kennt keine Himmelsrichtungen und auch keine Ländergrenzen. Es gibt ihn im Osten wie im Westen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Rechtsextreme Gesinnung ist eine zentrale Herausforderung für unsere Demokratie geworden. Das muss uns allen klar sein. Aber wir werden uns auch von Wirrköpfen und Straftätern nicht vom Weg abbringen lassen und weiter daran arbeiten, für alle Menschen in Deutschland gleichwertige Bedingungen zu schaffen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ein Schlüssel ist die Wirtschaftspolitik. Was wir benötigen, ist ein gesamtdeutsches Fördersystem, das strukturschwachen Regionen in Ost und West gleichermaßen auf die Beine hilft, und zwar auch nach 2019, wenn der Solidarpakt II ausläuft.
An den ersten Stellschrauben der aktuellen Förderarchitektur haben wir bereits gedreht. Wir haben auf den Osten beschränkte Förderprogramme für alle Länder geöffnet. Das wird aber nicht reichen. Wir müssen vor allen Dingen die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ auf neue Füße stellen. Sie ist neben anderen Programmen das wichtigste Instrument, um strukturschwachen Regionen unter die Arme zu greifen. Wir brauchen ein Fördersystem, das Geld in die Regionen schickt, die es auch wirklich nötig haben. Und wir müssen die betroffenen Regionen bzw. Kommunen in die Lage versetzen, dass sie die Kofinanzierung stemmen können, insbesondere aber auch, dass sie personell die Projekte einstielen und nach vorne bringen können, um die Fördergelder überhaupt abzuschöpfen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Eine gute Wirtschaftspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird aber nur Erfolg haben, wenn sie auch von einer guten Arbeitsmarktpolitik flankiert wird. Wir müssen uns intensiver um jene Menschen kümmern, die sich bereits jetzt von jeglichem Fortschritt abgekoppelt fühlen und für sich keine Perspektive mehr sehen. Wir müssen dauerhaft für diejenigen Beschäftigung organisieren, denen der Weg zur Teilhabe am Berufsleben versperrt geblieben ist. Das funktioniert meiner Meinung nach am besten mit einem neuen sozialen Arbeitsmarkt, wie er zu Recht von vielen gefordert wird.
Die Konjunktur läuft gut, die Auftragsbücher von Unternehmen vieler Branchen sind voll. Trotzdem finden Langzeitarbeitslose nach wie vor nur selten einen Job im Osten wie im Westen. In Sachsen-Anhalt sind 40 Prozent aller Langzeitarbeitslosen zwei bis fünf Jahre ohne Job, 13 Prozent sogar länger. In anderen Regionen Ostdeutschlands sieht das ganz ähnlich aus. Und im Westen? Sie werden Städte und Kreise finden, in denen der Anteil der Langzeitarbeitslosen über 50 Prozent liegt. Wir sollten uns ehrlich machen und eingestehen: So sinnvoll unsere bisherigen Instrumente sind, den harten Kern der Langzeitarbeitslosen erreichen wir nicht. Wir brauchen einen sozialen Arbeitsmarkt, der dauerhaft ausfinanziert ist und feste, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung garantiert.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
Ich bin mir ganz sicher: Wenn es uns gelingt, Menschen durch Arbeit und Teilhabe die Tür zu einem neuen, besseren Leben zu öffnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann wird es uns auch gelingen, das Vertrauen dieser Menschen zurückzugewinnen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Monika Lazar ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rassismus und Rechtsextremismus sind ein Problem im ganzen Land, deren Bekämpfung die Politik aller Ebenen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen muss. Aber man muss auch benennen, dass es in Ostdeutschland, bezogen auf die Einwohnerzahl, im letzten Jahr fünfmal mehr rassistische Übergriffe gab. Deshalb ist es gut, dass im diesjährigen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit der Rechtsextremismus als eines von drei zentralen Problemfeldern genannt wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Ja, wir haben ein Rassismusproblem im Osten. Das sage ich gerade auch als sächsische Abgeordnete. Die Einschätzung im Bericht, Ostdeutschland werde nur als weltoffene Region Entwicklungschancen haben, wird am Beispiel von Dresden eindrucksvoll belegt: Der von Pegida angerichtete Imageschaden hat Tourismus und Wirtschaft beeinträchtigt, und die Zahl der Studierenden ist gesunken. Aber ganz unabhängig vom wirtschaftlichen Schaden ist entscheidend, dass das Problem „rechte Gewalt“ überall endlich ernst genommen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Überall in unserem Land hat es 2015 einen dramatischen Anstieg von rechtsmotivierter Gewalt gegeben, aber besonders die Namen einiger sächsischer Orte sind nun bundesweit bekannt: In Heidenau, Freital, Meißen, Bautzen, Clausnitz und an anderen Orten ist die Situation eskaliert. Rassistinnen und Rassisten haben sich von verbalen Drohungen zu realen, teils lebensbedrohlichen Taten aufgemacht. Es scheint, als ob Teile der Gesellschaft besonders in Ostdeutschland Gewalt gegen Geflüchtete tolerieren und als ob Anschläge auf Unterkünfte als legitimes Ziel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert werden. Das dürfen wir nicht hinnehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Es nützt eben nichts, die Probleme zu ignorieren und diejenigen, die sich auch in schwierigen Gegenden für unsere Demokratie engagieren, als Nestbeschmutzer zu verunglimpfen, wie es leider immer noch passiert. Die Probleme müssen offen benannt werden, und die Engagierten müssen auch von der lokalen Politik ernst genommen und unterstützt werden.
Die Verrohung und auch die immer niedrigere Hemmschwelle für Beleidigungen zeigen, wie tief die Gräben in unserer Gesellschaft geworden sind. Als Demokratinnen und Demokraten ist es unsere Aufgabe, für unsere Demokratie zusammenzustehen, statt nach rechts zu blinken; denn es bringt nichts, sich Rassistinnen und Rassisten anzubiedern. Die Wählerinnen und Wähler entscheiden sich zum Schluss ja doch für das Original.
Gerade angesichts unserer eigenen Geschichte ist es unverständlich, dass es offenbar schwerfällt, Menschen, die in Not zu uns kommen, einen sicheren Platz zum Leben zu bieten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich hoffe, dass auch dieser Bericht ein Anlass ist, um das zu ändern.
Auch der Feiertag am nächsten Montag wäre eine gute Gelegenheit, dass wir uns bewusst machen, dass Demokratie kein Automatismus ist – die Ostdeutschen unter uns wissen, wovon wir reden –, sondern dass wir uns alle täglich für unsere Gesellschaft engagieren und unsere freiheitlichen Errungenschaften verteidigen müssen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Eckhardt Rehberg für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eckhardt Rehberg (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Karawanskij, „Wer etwas werden möchte, muss in den Westen gehen“, so hieß es. Ich habe zwei Söhne; auch die wollten in den Westen. Ich habe sie überzeugt, nach dem Abitur in Wismar zu studieren. Sie haben heute beide einen guten Job in Rostock und Umgebung. Sie wollten in den Westen gehen, aber ich habe ihnen klar gemacht: Bleibt hier, weil ihr hier alle Chancen in der Zukunft habt. Wenn Sie sagen: „Der Osten ist arm“, dann entgegne ich Ihnen: Diese Region hat in den letzten 25 Jahren die positivste Entwicklung einer Region in Europa und sogar auf der Welt genommen, die es je gegeben hat – durch das Engagement der Ostdeutschen und durch die Solidarität der Westdeutschen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Kersten Steinke [DIE LINKE])
Deswegen ist der Osten nicht arm.
Der Osten ist auch nicht alt. Junge Menschen haben dort alle Chancen. Wer so redet wie Sie, der wird nicht dafür sorgen, dass sich mancher, der vor 10, 15 oder 20 Jahren in die alten Länder gegangen ist, womöglich gehen musste, weil zu Hause kein Arbeitsplatz für ihn war, entschließt, wieder zurückzukommen. Ich kann Ihnen für mein Heimatland sagen: In Rostock, in Wismar, in Stralsund werden Arbeitskräfte, Fachkräfte gesucht. Junge Menschen, die zurückkommen, Mann oder Frau, Familien haben dort alle Chancen: Ein Studium ist möglich, Kitaplätze und vernünftige Schulen sind vorhanden. – Wer so redet wie Sie, der trägt zur Vergreisung Ostdeutschlands bei.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zum Dritten hieß es: Der Osten ist rechts. – Sie stigmatisieren mit diesem Ausspruch 16 Millionen Menschen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Detlef Müller [Chemnitz] [SPD] – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht ja so nicht im Bericht!)
Die Überschrift einer Presseerklärung von Staatssekretärin Gleicke lautete: „Rechtsextremismus ist ernste Bedrohung für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder“.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja! – Matthias Schmidt [Berlin] [SPD]: Das stimmt auch! – Daniela Kolbe [SPD]: Das steht im Bericht der Bundesregierung, nicht wahr?)
Wissen Sie, was mir am Wochenende passiert ist? Schulkolleginnen und -kollegen kamen in einem Baumarkt auf mich zu und sagten: Ecki, ich bin aber kein Nazi. – Sie fühlten sich stigmatisiert. Wer heute bei der Debatte über den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2016 seine Äußerungen auf das Thema Rechtsextremismus verengt,
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Tut doch niemand!)
dem kann ich nur sagen: Thema an dieser Stelle schlichtweg verfehlt!
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)
Nun noch zu ein paar Fakten. Sie behaupten, dass die Altersarmut im Osten mit Wucht zunehmen werde. Tatsächlich verhält es sich völlig anders.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Überhaupt nicht wahr!)
Heute sind 3,1 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in den alten Bundesländern in der Grundsicherung. Im Osten sind es 1,7 Prozent.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Daniela Kolbe [SPD]: Das wird sich ja ändern!)
Es gibt eine Studie der Uni Rostock, in Auftrag gegeben vom Landtag Mecklenburg-Vorpommern, die auch für das nächste Jahrzehnt keine wesentliche Zunahme erkennen lässt. Ich will Ihnen auch sagen, warum.
Ich verweise auf Seite 44 des Berichts, Punkt 4.4 „Alterssicherung und Rentenangleichung“. Wenn man da im letzten Absatz von der Rentenangleichung schreibt, muss man aber auch sagen, Frau Staatssekretärin Gleicke – Sie haben ja von Glaubwürdigkeit gesprochen –, dass dann 6 Millionen Ostdeutsche zukünftig weniger Rente bekommen werden, weil politisch und rechtlich die Höherwertung der Löhne um aktuell 15 Prozent zwangsläufig wegfallen muss.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Stimmt doch gar nicht!)
Das muss man dann aber bitte auch sagen. Wenn man dies nicht sagt, Frau Gleicke, dann werden irgendwann 6 Millionen Ostdeutsche auf ihrem Rentenbescheid mitbekommen, dass sie zukünftig weniger Rente erhalten werden. Die eine Wahrheit gehört zur anderen dazu. Ich kann nicht durch die politische Landschaft laufen und den Rentnern suggerieren, dass sie die Rentenangleichung bekommen, ohne den 6 Millionen ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu sagen, dass sie dann einen Nachteil haben werden.
(Beifall des Abg. Andreas G. Lämmel [CDU/CSU])
Wer das gemacht hat, war die Bundesarbeitsministerin Frau Nahles. An der sollte sich so mancher ostdeutsche Ministerpräsident ein Beispiel nehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gab zu dem Bericht einen ganz spannenden Artikel in der Zeit mit dem Titel „Mut zur guten Laune“, in dem die Meinung vertreten wird, dass dieser Bericht, so wie er abgefasst ist, schlechte Laune verbreitet.
(Dr. Karamba Diaby [SPD]: Das ist doch Quatsch!)
Es kommt natürlich immer darauf an, welche Vergleiche man bei der wirtschaftlichen Entwicklung zieht. Natürlich kann man immer Ost und West vergleichen. Aber wenn man zum Beispiel Holstein oder die Pfalz ständig mit München oder Hamburg vergleichen würde, dann würde man für erstere auch eine unterdurchschnittliche Wirtschaftskraft feststellen. Da sollten wir alle uns gelegentlich überlegen – das ist für mich auch Sinn dieser Debatte zum Bericht zum Stand der Deutschen Einheit –: Wo standen wir vor 25 Jahren, wo standen wir vor 20 Jahren, und wo stehen wir heute?
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Rehberg, der Gute-Laune-Bär!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am beeindruckendsten finde ich die Entwicklung im Behindertenbereich.
(Dr. Franz Josef Jung [CDU/CSU]: Das ist wahr!)
Waren Sie 1990 mal in einer Behinderteneinrichtung? Gehen Sie doch heute einmal hin! Es gibt einen alten Grundsatz: Du erkennst die Gesellschaft daran, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht. – Wie der real existierende Sozialismus in der DDR mit Behinderten, mit Alten, mit Kranken, mit Pflegebedürftigen umgegangen ist, das war menschenunwürdig.
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sonja Steffen [SPD] und Halina Wawzyniak [DIE LINKE])
Denken Sie an moderne Krankenhäuser, moderne Universitäten, moderne Hochschulen! Kollege Hauptmann hat auf die Infrastruktur hingewiesen. Ich finde es herausragend, dass Alexander Dobrindt und Wolfgang Schäuble vereinbart haben, 4 Milliarden Euro für den Breitbandausbau zur Verfügung zu stellen. In mein Heimatland fließen 700 Millionen Euro Fördermittel. Die Landesregierung wird das mit 300 Millionen Euro komplettieren. Das ist Zukunft. In meinem Heimatland kann ich jungen Menschen sagen, dass sie in zwei bis drei Jahren überall 50 Megabit haben werden.
(Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Bei mir leider nicht!)
Breitbandausbau ist für mich Zukunft, und das ist auch Zukunft für die ländlichen Räume, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ich habe noch einmal beim Wirtschaftsministerium nachgefragt: Gab es in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten zehn Jahren wegen der NPD – sie ist 2006 in den Landtag eingezogen – irgendeine Absage, oder ist ein Tourist weniger gekommen? Ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden in diesem Jahr wahrscheinlich die 30-Millionen-Marke bei der Touristenzahl knacken. Das ist die höchste Zahl, die es je gegeben hat. Und das Wirtschaftsministerium hat mir geantwortet: Nein, ganz im Gegenteil. Eine malaysische Investorengruppe hat drei Werften gekauft; die Beschäftigtenzahl soll verdoppelt werden. Auf Rügen ist die Ansiedlung eines türkischen Unternehmens, Großrohrleitungsbau, zu verzeichnen. Schweizer Medizinfirmen kommen. – Ich könnte die Liste endlos fortführen.
Ja, es sind kleine Unternehmen, 20, 30, 40, 50 Arbeitsplätze, aber es sind hochwertige Arbeitsplätze, die da kommen. Es sind keine Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich – ganz im Gegenteil. Deswegen sollten wir uns auch vorsehen, ehe wir davon sprechen, dass der Rechtsextremismus eine ernstzunehmende Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung sei. Wer so etwas in den Vordergrund rückt, bringt natürlich andere zum Nachdenken, ob es sich lohnt und ob es interessant ist, in den neuen Bundesländern zu investieren.
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Unglaublich! – Zurufe von der SPD)
Für Mecklenburg-Vorpommern kann ich sagen: Der Rechtsextremismus ist keine Gefahr gewesen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD und der LINKEN)
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen – ich habe ihn schon einmal vor gut zehn Jahren hier im Bundestag angesprochen; ich glaube, es war meine erste Rede –: Wir hatten in dieser Woche ein Gespräch mit Stiftungen. Unisono waren alle Stiftungen der Meinung, dass wir bei der politischen Bildung in der Schule erheblichen Nachholbedarf haben. In keinem deutschen Bundesland wird bis zur zehnten Klasse ausführlich auf die beiden Diktaturen in Deutschland, auf die braune und auf die rote Diktatur, eingegangen.
(Dr. André Hahn [DIE LINKE]: In Sachsen kann man Geschichte abwählen!)
Es ist einfach keine Zeit. Deswegen mein Vorschlag: Lieber etwas weniger die Antike, das Römische Reich, das Mittelalter behandeln. Es muss doch in der neunten und zehnten Klasse Zeit und Gelegenheit sein, 16- und 17-Jährige mit der Geschichte und Politik des 19. und 20. Jahrhunderts bekannt zu machen. Ich glaube, wer diese Diktaturen bzw. Unrechtsstaaten nicht im Geschichtsunterricht nahegebracht bekommt, der wird nicht den Wert von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat heute einschätzen können.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Daniela Kolbe [SPD])
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Stefan Zierke für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Stefan Zierke (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Rehberg, das ist ein Bericht der Bundesregierung, der vom Kabinett beschlossen wurde. Von daher sollten wir uns doch alle diesem Bericht stellen, und zwar ehrlich. Ich danke Iris Gleicke ausdrücklich, dass dieser Bericht ehrlich ist. Nur wer Ehrlichkeit lebt, kann auch ehrlich weiterarbeiten.
(Beifall bei der SPD)
Wenn wir etwas verschweigen, dann können wir die Ursache nicht finden und nicht die entsprechenden Instrumente anwenden. Iris Gleicke hier jetzt einen Vorwurf zu machen, ist dem eigentlich nicht angemessen. Iris ist eine der Kolleginnen, die ich als Ostdeutscher schätze, weil sie wirklich die ostdeutschen Interessen durchsetzt,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
und zwar gegen viele andere, die noch nicht in der vereinten Bundesrepublik angekommen sind.
Ich möchte hier im Bundestag aber auch noch einmal die Wertschätzung für die Ostdeutschen zum Ausdruck bringen. Was die Ostdeutschen seit der Wende geleistet haben, ist wirklich enorm. Sie haben mit Umbrüchen gekämpft. Sie haben auch damit gekämpft, dass auf einmal Naturräume, die früher zum Wirtschaften da waren, komplett zu geschützten Kernzonen wurden. Auf all das mussten sie sich neu einstellen. Der Tourismus wurde in diesem Zusammenhang schon benannt.
Ich möchte für uns als SPD-Fraktion auch etwas zu den Linken sagen.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wir haben gar nichts gesagt!)
Sie taten so, als würde die Bundesregierung gar nichts machen,
(Mark Hauptmann [CDU/CSU]: So ist es!)
als würden wir gar nichts für die Wertschätzung der Ostdeutschen tun.
Wir haben, was Sie nie geglaubt haben, den Mindestlohn durchgesetzt.
(Beifall des Abg. Willi Brase [SPD])
Der Mindestlohn verhilft 1 Million Ostdeutschen zu einer besseren Situation. Das ist etwas Gutes; das kann man ruhig sagen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das hat diese Bundesregierung gemacht. Wir haben im letzten Jahr gegen den Widerstand des Finanzministeriums dafür gesorgt, dass die Regionalisierungsmittel auskömmlich neu verhandelt wurden. Mit 200 Millionen Euro mehr im Jahr hat die SPD erreicht,
(Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Hohoho!)
dass auch wieder Regionalzüge im ländlichen Raum fahren können.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Nachdem die ostdeutschen Länder beinahe abgeschmiert wären! – Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut! Soll ich jetzt mal aus dem Nähkästchen plaudern? – Gegenruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das wissen wir doch, Herr Rehberg!)
Was hat die SPD noch gemacht? Dieser Bericht enthält etwas, was viele sagen: Die innere Sicherheit ist ein Problem. – Wir haben dafür gesorgt, dass 3 000 Bundespolizisten mehr eingestellt werden sollen. Es sollen noch mehr kommen, bis zu 20 000 fordern wir. Das ist auch ein Beitrag, den wir dafür leisten.
Aber nun noch einmal zu den Unterschieden zwischen Ost und West. Da muss ich auf das eingehen, was Herr Rehberg zu den Renten gesagt hat. Die Angleichung der Renten ist das, worauf die Ostdeutschen warten, Herr Rehberg. Die Rentenpunkte haben nicht unbedingt etwas damit zu tun.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Was hat nichts miteinander zu tun? – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Lassen Sie ihn doch erst einmal ausreden! – Dagmar Ziegler [SPD]: Erst mal zuhören! Kopf einschalten! Nachdenken! Dann reden!)
Das hat etwas mit den Löhnen zu tun. Und wenn wir für gleiche Löhne in Ostdeutschland kämpfen, dann geht es dabei auch um das gleiche Rentenniveau derjenigen, die heute arbeiten. Das dürfen Sie nicht verschweigen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)
Das, was Sie sagen, stimmt einfach nicht. Kämpfen wir dafür, dass es in Ostdeutschland gleiche Löhne gibt, dann gibt es auch gleiche Renten! Das ist Fakt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Gleiche Löhne gibt es doch nirgends!)
Eines noch: Sie fragen immer, wieso die Wirtschaft nicht in Gang kommt. Dazu kann ich Ihnen aus meiner Region ein gutes Beispiel bringen. Die Stromkosten in Ostdeutschland sind die höchsten der ganzen Republik – für die Haushalte, für den Mittelstand und das Industriegewerbe. Das kann man bei der Bundesnetzagentur sehr gut nachschauen. Das ist ein Standortnachteil für ostdeutsche Unternehmen und Haushalte. Lassen Sie uns doch jetzt daran arbeiten, diesen Standortnachteil für Ostdeutsche zu beseitigen.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Dann, glaube ich, nehmen uns die Ostdeutschen auch wieder wahr und sagen: Ja, die machen was für Ostdeutschland.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Arnold Vaatz ist der nächste Redner ist dieser Debatte für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Arnold Vaatz (CDU/CSU):
Lieber Herr Zierke, ich muss erst mal auf Ihren letzten Satz eingehen. Was Sie da über die Renten erzählt haben, das verwirrt ja mehr, als es klarstellt. Es ist doch ganz einfach: Selbstverständlich sind die Renten von den Löhnen abhängig. Und selbstverständlich werden die Renten höher, wenn die Löhne steigen.
(Stefan Zierke [SPD]: Richtig!)
Aber in dem Moment, in dem sich die Löhne angleichen, gleichen sich nach der jetzigen Formel auch die Renten automatisch an. Deshalb brauchen wir eigentlich überhaupt nichts daran zu ändern. Das ist der Punkt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Selbstverständlich hatte Eckhardt Rehberg völlig recht: Wenn Sie über höhere Renten sprechen, dann dürfen Sie das nicht nur denen gegenüber anpreisen, die dadurch Vorteile haben, sondern Sie müssen auch diejenigen ehrlich ansprechen, die Nachteile davon haben. Und Sie müssen die Nachteile quantifizieren.
(Stefan Zierke [SPD]: Kämpfen für gleiche Löhne!)
Und wenn Sie das nicht machen, dann ist das nur die halbe Wahrheit, und die halbe Wahrheit ist gleichzeitig eine halbe Lüge, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Frau Karawanskij, ich muss mich auch mit Ihnen noch kurz auseinandersetzen. Sie waren im Jahr 1989 neun Jahre alt, wie ich dem Kürschner entnommen habe. Deshalb können Sie nichts für den Zustand, in dem die DDR gewesen ist, als sie in die Wiedervereinigung reingeschlittert ist.
(Dagmar Ziegler [SPD]: Reingeschlittert? Aus Versehen?)
Deshalb wäre es vielleicht ganz gut, wenn Sie mal mit den Altvorderen Ihrer Partei reden und die mal fragen würden, weshalb sie eigentlich, nachdem sie die Wirtschaft vom Markt gefegt haben, darüber jammern, dass die Wirtschaft weg ist. So haben wir das damals vorgefunden. Wenn diese „großartige“ Leistung Ihrer Altvorderen nicht gewesen wäre, dann hätten wir uns mit der deutschen Wiedervereinigung gar nicht weiter befassen müssen. Denn der Unterschied, über den wir klagen, ist durch die Politik zustande gekommen, die die Partei, der die Altvorderen damals angehört haben, dort gemacht hat.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Vaatz, darf Ihnen die Kollegin Wolff eine Zwischenfrage stellen?
Arnold Vaatz (CDU/CSU):
Ja, na klar. Selbstverständlich.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Wolff, bitte.
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD):
Sehr geehrter Herr Vaatz, vielen Dank, dass ich diese Zwischenfrage stellen darf. – Ich möchte ein Stück in Ihrer Rede zurückgehen. Sie haben vorhin gesagt: Wenn es um die Rentenangleichung Ost/West geht, dann gehört zur ganzen Wahrheit dazu, den jetzt berufstätigen Menschen zu sagen, dass es auch Nachteile gibt und Verlierer geben wird.
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das ist doch wahr!)
Sie haben gleichzeitig behauptet: Wer diese ganze Wahrheit nicht sagt, der erzählt eine halbe Lüge. – Das möchte ich nicht so im Raum stehen lassen. Sind Sie bereit, Herr Vaatz, anzuerkennen, dass die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Nahles, genau auf diese Punkte hingewiesen hat und sehr wohl gesagt hat,
(Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das war aber auch die Einzige! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
dass es Schwierigkeiten und Nachteile gibt und dass wir genau an der Stelle ansetzen müssen, dass wir beim Lohngefüge etwas tun und gemeinsam dafür arbeiten müssen, damit Löhne in den neuen Bundesländern in der Zukunft anders aussehen und dementsprechend auch die Renten anders ausfallen werden?
(Beifall bei der SPD)
Arnold Vaatz (CDU/CSU):
Frau Wolff, ich antworte Ihnen gerne. Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass ich nicht die verehrte Frau Sozialministerin Nahles angesprochen habe, sondern den frei gewählten und nur seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten Zierke. Es ging um das, was er gesagt hat, und nicht um das, was die Ministerin gesagt hat. Was die Ministerin gesagt hat, hat mein Kollege Eckhardt Rehberg vorher überzeugend herausgearbeitet.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte heute in dieser Debatte auf keinen Fall versäumen, etwas zu sagen, was meines Erachtens dringend erforderlich ist. Ich möchte der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland West meinen Dank aussprechen für die enorme Solidarleistung, die sie zustande gebracht hat, damit der Aufbau in Ostdeutschland zur größten Erfolgsgeschichte in Europa und in der Welt werden konnte.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Im Augenblick führen wir eine Diskussion über den aufkeimenden Rechtsradikalismus in Deutschland.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er keimt nicht auf! Er ist schon lange da!)
Ich kann nur sagen: Dieser Rechtsradikalismus hat tiefe Wurzeln. Wer sich damit genauer befasst hat, weiß: Er stammt schon aus der Zeit der DDR.
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dann ist es aber auch wirklich kein Aufkeimen!)
– Dann sagen wir eben „um sich greifen“. Entschuldigung, wenn ich das falsche Wort verwendet habe; aber Sie wissen, was ich meine. – Die Skinheads gab es damals schon.
Diese Entwicklung hat enorm an Umfang gewonnen, und es ist tatsächlich eine Angelegenheit, die uns belastet, besonders uns aus Dresden. Uns belastet Pegida, und uns belastet die Tatsache, dass die Demonstrationen nicht aufhören.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie denn dagegen?)
Deshalb muss man sich umso mehr fragen, ob wir durch unsere Diskussion hier tatsächlich dazu beitragen, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Ich bin der Meinung, dass das bei uns irgendwie suboptimal verläuft. Wir wären wesentlich glaubwürdiger, wenn zum Beispiel ein einziges Wort über die Ereignisse in Connewitz, einem Stadteil von Leipzig, fallen würde. Es gibt nämlich auch Linksradikale, die mit Pflastersteinen Polizeistationen angreifen; aber darüber fiel hier in der ganzen Debatte bisher kein Wort. Ich halte es für selbstverständlich, dass wir auch darüber reden, wenn wir glaubwürdig sein wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir sollten auch darüber reden, wie die Hemmschwellen für Gewalt abgebaut wurden. Was war denn in Westdeutschland der 60er- und 70er-Jahre los? Die Gewalt gegen Sachen, der Terrorismus, die Mörderbanden und die klammheimliche Sympathie auch von politischen Kräften gegenüber dem Extremismus – all das hat um sich gegriffen. Das war bedauerlich, dem musste man entgegentreten. Aber es gab leider auch einen Abbau der Hemmschwellen für Gewalt im Osten.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir reden viel über Respekt. Ich will Ihnen ein Beispiel für Respekt nennen und erläutern, wie das in Ostdeutschland gewirkt hat. Allen, die damals dabei waren – dazu zähle ich und meine Generation –, hat sich dieses Bild eingeprägt, und wir werden uns daran erinnern, bis wir gestorben sind.
Können Sie sich noch an den 18. März 1990 erinnern?
(Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Ja!)
Es fanden die ersten – und die einzigen – freien Volkskammerwahlen in Ostdeutschland statt. Wissen Sie, was am Abend los war, nachdem die Allianz für Deutschland, die unser Freund Franz Josef Jung damals mitgegründet hat, die Wahlen gewonnen hatte? Am Wahlabend wurde vor laufenden TV-Kameras ein Bild gezeigt, auf dem der damalige grüne Politiker, später SPD-Politiker Schily zu sehen war. Er hielt eine Banane in der Hand, womit er symbolisieren wollte: Das ist der Grund, warum die Ostdeutschen die Wiedervereinigung wollen: Sie wollen mal Bananen essen. – Wer auf diese Art und Weise den Freiheitswillen, den Mut und die Bereitschaft zum Risiko in Ostdeutschland bis zum Gehtnichtmehr herabwürdigt, der muss sich nicht wundern,
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
wenn es eine Gegenreaktion auf eine solche Arroganz und Herabwürdigung gibt, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es billig!)
Kommen wir zur nächsten Behauptung, der Osten sei rechts. Schauen Sie sich einmal die AfD, die als rechte Partei gilt, an. Wer sind denn die Führer der AfD? Frau Petry kommt aus dem Westen, Herr Höcke kommt aus dem Westen, Frau von Storch kommt aus dem Westen, und auch Herr Gauland kommt aus dem Westen. Wunderbar, der Osten ist rechts! Ich glaube, mehr braucht man dazu nicht zu sagen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eine kurze Bemerkung zum Thema Westen. Ich glaube, das Vertrauen in die intellektuelle Qualität des öffentlichen Urteils im Westen hat von Anfang an gelitten. Wer sich noch daran erinnert, dass in den 70er- und 80er-Jahren im Westen niemand mehr Beachtung gefunden hat, der das Thema deutsche Einheit in den Mund genommen hat, und dass später die ganze westdeutsche Gesellschaft nicht bemerkt hat, welchem kollektiven Irrtum sie unterlegen ist, muss sich doch nicht wundern, wenn man in Ostdeutschland jetzt sagt: Im Westen sagen sie, die Erde ist rund, also ist die Erde eckig.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das ist ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Zum Schluss will ich zum Thema deutsche Einheit noch eine zusätzliche wichtige Bemerkung machen. Seit langem beobachten wir, dass der Westen auf dem Weg in den Osten ist – geistig. Dafür gibt es jetzt ein leuchtendes Beispiel. Ich wollte gestern eigentlich einen Brief an den Oberbürgermeister von Trier schreiben; ich habe es aber unterlassen. Dort entsteht gerade eine Karl-Marx-Statue, von China bezahlt, 6,50 Meter hoch.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Tolle Sache! Eigentlich wollte ich dem Oberbürgermeister dazu gratulieren und ihm den Vorschlag machen, dass die Stadt Trier, weil ja durch die Wiedervereinigung der Name „Karl-Marx-Stadt“ frei geworden ist,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
den Antrag stellt, sich in „Karl-Marx-Stadt“ umzubenennen.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Stefan Zierke [SPD]: Mann, Mann, Mann!)
Vielleicht ist ja bei Frau Grütters auch noch ein bisschen Geld übrig. Dann könnte man ein Programm für den Ankauf von alten Lenin-Statuen machen. Die Polen sind froh, wenn sie sie loswerden. In mancher polnischen Scheune ist vielleicht auch noch eine alte Stalin-Statue unter Stroh und unter Säcken versteckt.
(Unruhe bei der SPD – Stefan Zierke [SPD]: Kabarett!)
Die könnte man aufkaufen und dann ein fantastisches Panorama in Karl-Marx-Stadt, früher Trier, errichten – Karl Marx im Kreise seiner Schüler. Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit hätten Sie einen großen Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung geleistet und gleichzeitig gezeigt, wie sich die Entwicklung im Westen vollzogen hat.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Berichts der Bundesregierung auf der Drucksache 18/9700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/9847 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. – Das ist offensichtlich unstreitig. Also sind die Überweisungen so beschlossen.
Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der
194. Sitzung – wird am
Dienstag, den 4. Oktober 2016
auf der Website des Bundestages unter „Dokumente“, „Protokolle“, „Endgültige Plenarprotokolle“ veröffentlicht.