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Das Palais Schaumburg in Bonn war in den fünfziger und sechziger Jahren Sitz des Bundeskanzleramtes. © Bundespresseamt/Unterberg
Einhellig haben sich Experten in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien am Mittwoch, 1. Juni 2016, für eine Erforschung der Geschichte des Bundeskanzleramtes hinsichtlich personeller Kontinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus ausgesprochen. Die sechs geladenen Historiker schlossen sich damit einem entsprechenden Antrag der Fraktion Die Linke (18/3049) an. Prof. Dr. Norbert Frei von der Friedrich-Schiller-Universität Jena verwies übereinstimmend mit seinen Kollegen darauf, dass entsprechende historische Untersuchungen zu vielen Bundesministerien und obersten Bundesbehörden bereits abgeschlossen oder in Arbeit seien. Die Geschichte des Bundeskanzleramtes stelle bislang eine Lücke dar, die geschlossen werden sollte.
Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke und Prof. Dr. Jost Dülffer, die beide der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (BND) angehören, plädierten dafür, die Vergabe des Forschungsauftrages nicht wie im Fall des BND zu organisieren. Der BND habe den Forschungsauftrag selbst formuliert und die vier Mitglieder der Kommission ernannt. Zwar habe die Unabhängigkeit der Kommission darunter nicht gelitten, sagte Dülffer. Man sollte jedoch trotzdem einen anderen Weg suchen, um etwaigen Verdächtigungen zuvorzukommen. Die beiden Historiker sprachen sich dafür aus, den Forschungsauftrag im Rahmen eines Wettbewerbs zu vergeben.
Dr. Ulrike Jureit vom Hamburger Institut für Sozialforschung sagte, der Forschungsauftrag dürfe sich nicht auf ein reines Auszählen von NS-belasteten Personen im Kanzleramt und biografische Darstellungen beschränken. Ebenso wie Christian Mentel vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam plädierte sie dafür, den Forschungsauftrag möglichst weit zu fassen. Es müsse um eine qualitative Betrachtung von Transformationsprozessen im postdiktatorischen System gehen und um die Rolle, die das Personal und der bürokratische Apparat in diesem Prozess gespielt haben.
In diesem Sinne argumentierten auch alle anderen Historiker. Ebenso müsse die Rolle der DDR-Propaganda gegen das Kanzleramt im Zusammenhang mit den personellen NS-Kontinuitäten untersucht werden. Weitgehend einig zeigten sich die Experten, dass sich der zu erforschende Zeitraum bis in die 1980er-Jahre erstrecken sollte.
Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Prof. Dr. Andreas Wirsching, warnte vor einer erneuten Politisierung der Forschungsergebnisse. Das Thema der personellen NS-Kontinuitäten müsse entpolitisiert und historisiert werden. (aw/02.06.2016)