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Die Schere zwischen Stadt und Land klafft immer weiter auseinander. Die Menschen zieht es in die Metropolen. In letzter Konsequenz schwinden auf den Dörfern die Einwohner, Perspektiven und Zuversicht. Die Bundesregierung will mithilfe des Agraretats gegensteuern und setzt in der ersten Beratung des Einzelplans 10 (18/9200) am Donnerstag, 8. September 2016, nach den Worten von Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) auf die Förderung „vitaler ländlicher Räume und gesunde, ausgewogene Ernährung“. Fast 5.9 Milliarden Euro sollen nach den Plänen der Haushälter dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Jahr 2017 zur Verfügung gestellt werden. Das sind 300 Millionen Euro mehr als in diesem Jahr.
Doch besonders unter den Landwirten weicht die Zuversicht angesichts schlechter wirtschaftlicher Aussichten. Viele Betriebe erwirtschaften nicht mehr genug, um ihre Kosten zu decken. Insofern wollte Schmidt die Etataufstockung als ein gutes Zeichen verstanden wissen. „Wir müssen einen angemessenen Beitrag zur Entlastung beisteuern“, sagte der Minister, der die Fortführung des „hohen Zuschusses bei der landwirtschaftlichen Unfallversicherung“ hervorhob.
Erhalten bleibt der bereits im Haushalt 2016 eingestellte Zuschuss zur Landwirtschaftlichen Unfallversicherung in Höhe von 78 Millionen Euro, der mit insgesamt 178 Millionen die Agrarbetriebe ohne zusätzlichen bürokratischen Aufwand kostenseitig entlasten helfen soll. Der Zuschuss war gewährt worden, nachdem durch die Krim-Krise der Absatzmarkt in Russland weggefallen war und der Rohstoffpreis für Milch sich stetig verschlechtert hatte. Darüber hinaus stellte der Minister in Aussicht, dass mithilfe eines nationalen Bürgschaftsprogramms im Laufe der Beratungen weitere Unterstützung gewährt wird.
Doch die Ursachen der Milchkrise könne der Staat nicht alleine regeln, meinte Schmidt, denn die Erzeuger würden gegenwärtig faktisch allein das Risiko tragen. „Da muss eine bessere Balance gefunden werden.“ Die Genossenschaften müssten ihrer Verantwortung gegenüber ihren Genossen gerecht werden, forderte der Agrarminister, der zwischen allen Marktbeteiligten vermitteln wolle.
Die Grünen sahen die Verantwortung jedoch nicht bei der Wirtschaft, sondern bei der Bundesregierung und dem Bauernverband. „Seit 1975 sind über 600.000 Bauernhöfe verschwunden“, zählte Friedrich Ostendorff (Bündnis 90/Die Grünen) auf. „Seit Ende 2016 haben jeden Tag zehn bis 15 Milchviehbetriebe aufgegeben“, rechnete der Abgeordnete weiter vor. Die Milchüberproduktion werde im Handel verramscht. Das sei die Folge der Liberalisierung der Landwirtschaft, die im Wesentlichen auf die Politik der Union und großer Interessenverbände zurückgehe.
Das sei kein Strukturwandel, sondern ein „Gemetzel im ländlichen Raum“, spitzte Ostendorff zu, der die derzeitige Krise als Zusammenbruch der bäuerlichen Landwirtschaft in Europa verstanden wissen wollte. „Nichts wird unternommen, um die bäuerlichen Betriebe zu erhalten“, kritisierte er. Alle Vorschläge zur Bekämpfung der Krise seien bekämpft worden, ohne Lösungen anzubieten. Am Ende müsse die Stärkung der bäuerlich ökologischen Landwirtschaft stehen.
Dass in vielen Dörfern nur noch ein Schulbus fahre und sich die Menschen zurecht abgehängt fühlen würden, meinte auch Dr. Kirsten Tackmann (Die Linke). Derzeit seien die Auswirkungen einer katastrophalen Agrarinfrastrukturpolitik auf dem Land zu beobachten. Landwirtschaftsfremde Investoren würden die Preise für Ackerland hochtreiben, obwohl diese nicht mit der Landwirtschaft zu refinanzieren seien. „Da dürfen wir nicht zugucken“, sagte Tackmann.
Im Speziellen würden die Milchviehbetriebe zu Bittstellern gemacht, im Allgemeinen werde aktuell kein landwirtschaftliches Produkt zu einem angemessenen Preis bezahlt. Selbst Brot-Roggen bringe mehr bei der energetischen Verwertung statt als Lebensmittel: „Das ist pervers.“ Liquiditätshilfen würden deshalb den Betrieben nicht reichen, um Löhne zu zahlen. Mit Steuergeldern finanzierte Zugaben bei der Unfallversicherung seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Ganz so düster wollte Johann Saathoff (SPD) die Zukunft auf dem Land nicht sehen. Der Sozialdemokrat hob das Bundesprogramm für ländliche Entwicklung (BULE) mit einem Budget von 20 Millionen Euro hervor, das für die Entwicklung ländlicher Räume diene. Gefragt seien Konzepte, die über Investitionen in reine Infrastruktur hinausgehen sollten und einen Ansatz zur sozialen Dorferneuerung ermöglichen. Konzepte des Zusammenlebens der Menschen in den Dörfern sollten gefördert werden. Außerdem müsse mehr Wertschöpfung durch Veredelung in die ländlichen Räume zurückgeholt werden. Das betreffe vor allem regionale Produkte, die regional vermarktet werden können.
Für das Hauptinstrument der nationalen ländlichen Förderpolitik, die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ – kurz GAK –, sind 15 Millionen Euro mehr eingeplant worden. Dazu summieren sich noch weitere 100 Millionen Euro für Maßnahmen des präventiven Hochwasserschutzes, die im Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms im Einzelplan 60 der Allgemeinen Finanzverwaltung dem Landwirtschaftsetat zukünftig zugeschlagen werden sollen. Damit stünden dem Bund insgesamt 765 Millionen Euro für die GAK zur Verfügung, um Investitionen auf dem Land zu fördern und Infrastruktur zu erneuern.
Die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe war zuvor bereits Juli auf Grundlage eines Regierungsentwurfs (18/8578, 18/8958, 18/9074) reformiert worden, um das Förderspektrum auszuweiten. Neben der Unterstützung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes können in Zukunft der Tourismus außerhalb landwirtschaftlicher Betriebe, die Umnutzung nichtlandwirtschaftlicher Bausubstanz sowie Investitionen in nichtlandwirtschaftliche Kleinstbetriebe mit Steuermitteln aus dem GAK-Topf finanziert werden.
Neben dem Bund geben die Bundesländer Geld zur GAK dazu. Das Fördervolumen liegt insgesamt bei über einer Milliarde Euro.
Nach Ansicht des Vorsitzenden des Ausschusses für Landwirtschaft, Alois Gerig (CDU/CSU), muss dafür Sorge getragen werden, dass die Landwirte mehr Wertschätzung erhalten und Wertschöpfung gewinnen. „Die Landwirte dürfen nicht mit der Last alleine gelassen werden.“ In Deutschland werde weltweit die höchste Qualität an Lebensmitteln produziert. „Insbesondere der Handel muss seinen Beitrag dazu leisten, dass Lebensmittel ihren Preis haben und nicht verramscht werden dürfen.“
Die Ernährungspolitik soll mit der Einrichtung und Finanzierung eines neuen Instituts für Kinderernährung beim Max-Rubner-Institut und des Bundeszentrums für Ernährung (BZfE) neue Impulse bekommen. „Damit sind wir auf dem richtigen Weg“, meinte Gerig. Als Kompetenzzentrum zu Ernährungsfragen wird das Institut an die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) angegliedert und soll Anfang 2017 die Arbeit aufnehmen.
Darüber hinaus will das Schmidt-Ministerium im Bereich Nachhaltigkeit, Forschung und Innovation mit 25 Millionen Euro für das Bundesprogramm Energieeffizienz im Gartenbau zehn Millionen Euro mehr ausgeben. Außerdem sollen in die Innovationsförderung zukünftig 57 Millionen Euro statt 39 Millionen Euro investiert werden. Der größte Anteil des Etats fließt in die landwirtschaftliche Sozialpolitik, die rund 66 Prozent des Budgets vereinnahmt. Insgesamt 3,92 Milliarden Euro teilen sich hauptsächlich in rund 2,24 Milliarden Euro für die Zuschüsse zur Alterssicherung der Landwirte und 1,45 Milliarden Euro für die Zuschüsse zur Krankenversicherung der Landwirte auf. (eis/08.09.2016)