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In einem der Empfangsräume führt der Künstler Anselm Kiefer in einem beeindruckenden Monumentalgemälde die geschichtliche Bedingtheit des Menschen vor Augen. Zu der Gedichtzeile von Ingeborg Bachmann "Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang" öffnet er den Blick auf eine Art archäologisches Grabungsfeld. Der Betrachter erblickt einen mächtigen Lehmziegelturm, der an Zikkurate aus dem Zweistromland erinnert. Zu den Rändern hin zerfällt er bereits und gleicht sich dem umgebenden Boden an.
Der lehmfarben-monochrome Farbton des Gemäldes und seine schrundige Oberfläche mit ihren dunklen, wie Brandflecken wirkenden Partien wirken, als wäre das Werk aus dem Baumaterial des dargestellten Lehmziegelturms gefertigt. Der Eindruck eines archäologischen Grabungsfelds, dessen Darstellung zwischen Realitätsinszenierung und Illusionscharakter wechselt, wird durch Bruchstücke von Keramikgefäßen und durch Schriftzettel, die im Bild befestigt sind, noch verstärkt. Die Gedichtzeile von Ingeborg Bachmann ist am oberen Rand des Gemäldes in die Malschicht hineingeschrieben.
Die Zeile stammt aus dem Gedicht "Exil" aus dem Jahr 1957. In ihm beschreibt Ingeborg Bachmann die Situation eines Exilanten, dem außer seiner deutschen Sprache keine spirituelle Geborgenheit geblieben ist: "Ein Toter bin ich der wandelt / gemeldet nirgends mehr [...] abgetan lange schon / und mit nichts bedacht / Nur mit Wind mit Zeit und mit Klang". Der Immaterialität von Wind, Zeit und Klang stehen die scheinbar fest gegründeten Türme gegenüber. Sie sind Sinnbilder der Macht und wie der Turm von Babylon auch Sinnbilder der Selbstüberhebung menschlicher Macht, wenn sie sich im Entwurf einer grenzenlosen Utopie anmaßt, es mit dem Göttlichen aufzunehmen. Indem der Maler in die Lehmüberreste des Turmes, der im Laufe vieler Jahrhunderte zerfallen ist, die Augenblickserscheinungen Wind, Zeit und Klang hineinschreibt, macht er sinnfällig, dass das scheinbar Feste und das Flüchtige vor der Ewigkeit gleich sind. In diesem Sinne lebt auch der Mensch auf Erden gleichsam im Exil. Seine utopischen Entwürfe gleichen dem nicht festzuhaltenden, unbeständigen Hauch des Windes.
Das Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys hatte bestimmenden Einfluss auf Anselm Kiefer, da er seinen Blick auf die geschichtliche Gebundenheit des Individuums lenkte. Kiefers Gemälde und Installationen, die mit Fragmenten der Realität ausgestaltet sind, thematisieren sowohl konkrete historische Ereignisse als auch mythologische Erzählungen. Das Gemälde im Reichstagsgebäude beschreibt mit dem Bild eines Zikkurats oder einer Pyramide den historisch nachweisbaren Urgrund der biblischen Mythologien. Es appelliert vom Boden dieses historisch-mythologischen Grabungsfelds, den Flüchtigkeitscharakter des eigenen Handelns und Planens zu erkennen und das Schicksal der Vergänglichkeit willig anzunehmen.
geboren 1945 in Donaueschingen, lebt und arbeitet in Barjac, Frankreich.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages
Aus der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages