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15. Wahlperiode
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   154. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 27. Januar 2005

   Beginn: 12.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Die Sitzung ist eröffnet.

   Der Kollege Peter Rauen hat gestern seinen 60. Geburtstag gefeiert. Ich darf ihm dazu im Namen des Hauses die besten Wünsche übermitteln.

(Beifall)

   Außerdem gebe ich bekannt, dass der Kollege Jann-Peter Janssen mit Wirkung vom 24. Januar 2005 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Lars Klingbeil am selben Tag die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr herzlich.

(Beifall)

   Hinsichtlich der Besetzung von Gremien möchte ich Sie informieren, dass ich auf Vorschlag des Haushaltsausschusses die Kollegen Bernhard Brinkmann für die Fraktion der SPD, Jochen-Konrad Fromme für die Fraktion der CDU/CSU und Otto Fricke für die Fraktion der FDP sowie die Kollegin Anja Hajduk für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen als Mitglieder des Verwaltungsrates der neu errichteten Bundesanstalt für Immobilienaufgaben benennen werde.

   Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Unterschiedliche Meinungsäußerungen aus Koalition und Bundesregierung zu Studiengebühren

(siehe 153. Sitzung)

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren

(Ergänzung zu TOP 22)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Cornelia Pieper, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Impulse für eine internationale Ausrichtung des Schulwesens – Den Bildungsstandort Deutschland auch im Schulbereich stärken

– Drucksache 15/4723 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Innenausschuss

ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 23)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Entwurf eines Rahmenbeschlusses über die Vorratsspeicherung von Daten, die in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste verarbeitet und aufbewahrt werden, oder von Daten, die in öffentlichen Kommunikationsnetzen vorhanden sind, für die Zwecke der Vorbeugung, Untersuchung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten, einschließlich Terrorismus

Ratsdok.-Nr. 8958/04

– Drucksachen 15/3696 Nr. 2.15, 15/4748 –

Berichterstattung:Abgeordnete Axel Schäfer (Bochum)Michael Grosse-Brömer Jerzy Montag Sibylle Laurischk

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Immobilienwirtschaft sicherstellen – Immobilien und Versicherungsmakler stärken

– Drucksache 15/4714 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)Rechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

   Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.

   Darüber hinaus ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 10, 12, 13, 16, 18 und 23 d abzusetzen und morgen den Tagesordnungspunkt 20, Änderung des Bundeswahlgesetzes, bereits nach dem Tagesordnungspunkt 15, Änderung der Art. 35 und 87 a des Grundgesetzes, aufzurufen.

   Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:

Der in der 152. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus (19. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.

Gesetzentwurf der Abgeordneten Olaf Scholz, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Jutta Dümpe-Krüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Umsetzung europäischer Antidiskriminierungsrichtlinien

– Drucksache 15/4538 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)InnenausschussRechtsausschuss FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft VerteidigungsausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96

   Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahreswirtschaftsbericht 2005 der Bundesregierung

Den Aufschwung stärken – Strukturen verbessern

– Drucksache 15/4700 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)FinanzausschussAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Jahresgutachten 2004/2005 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

– Drucksache 15/4300 –

Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f)FinanzausschussAusschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Gesundheit und Soziale SicherungAusschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

   Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

   Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Wolfgang Clement.

Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dem bedrückend beeindruckenden Gedenken an die unfassbaren Verbrechen der Deutschen ist es nicht ganz leicht, jetzt über den Jahreswirtschaftsbericht zu sprechen, über ökonomische Daten und Fakten, über Statistiken und Perspektiven. Gerade in einer Zeit, in der rechtsradikale Geister in unserem Land sich wieder zu Wort melden, und zwar in einer die Opfer schmähenden und, wie ich meine, damit uns beleidigenden, geradezu obszönen Art und Weise, ist das Bemühen um Wachstum, um Arbeitsplätze und um eine neue Balance der sozialen Gerechtigkeit sicher nicht die einzige Antwort, die wir zu geben haben, aber eine der Antworten, die in einer solchen Phase der Geschichte der Bundesrepublik wichtig sein können.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

   Ich möchte mich vor diesem Hintergrund auch gegen so manches Zerrbild wehren, das von unserem Land gezeichnet wird. Diese Bundesrepublik Deutschland ist ungeachtet aller Diskussionen eine der wirtschaftsstärksten Nationen der Welt; das wissen wir. Es ist ein Land der sozialen Marktwirtschaft. Es ist ein soziales und ökologisch verantwortetes Land, in dem wir leben. Es gibt nicht viele Länder auf der Welt mit vergleichbaren ökonomischen Daten, mit einer vergleichbaren sozialen Sicherheit und mit einer vergleichbaren ökologischen Ausstattung zum Schutz von Klima und Umwelt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb wenden wir uns mit dem Jahreswirtschaftsbericht, den Sie offensichtlich schon seit Tagen in der Hand haben – das entnehme ich der zum Teil munteren Kritik –, auch gegen den immer noch grassierenden Negativismus in Deutschland; das ist darin auch im Einzelnen belegt. Wir tun das mit Hinweis auf die Stärken, auf die Pluspunkte unseres Landes. Davon will ich Ihnen einige nennen:

   Erstens. Man muss offensichtlich häufig wiederholen, dass dieses Land so exportstark ist wie zurzeit kein anderes auf der Welt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Kein anderes Land auf der Erde hat im Jahre 2003 mehr Waren erfolgreich exportiert als die Bundesrepublik Deutschland. Es spricht alles dafür, dass dies auch im vergangenen Jahr der Fall gewesen ist, dass wir also von dieser Exportstärke nichts verloren haben.

   Ich verweise zweitens auf die hohe preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Wir haben nämlich in unserem Land in den letzten Jahren eine außerordentlich moderate und konstante Entwicklung der Lohnstückkosten zu verzeichnen gehabt – anders als in den meisten anderen Ländern des Euroraums. Nicht zuletzt dadurch hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, gemessen an den realen Lohnstückkosten, erheblich verbessert. Im Verein mit dem guten Image der deutschen Wirtschaft und der hohen Qualität deutscher Produkte hilft dies, Marktanteile auch angesichts eines im Verhältnis zum Euro schwachen Dollars zu verteidigen.

   Ich verweise als dritte Stärke auf die geringen Inflationsraten in Deutschland. Der harmonisierte Index der Verbraucherpreise ist in Deutschland zwischen 1995 und 2004 jährlich um 1,3 Prozent gestiegen. Im gesamten Euroraum betrug die Inflationsrate 1,9 Prozent.

   Ich verweise viertens auf die außerordentlich niedrige Steuerquote in Deutschland: 21,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mit dieser Steuerquote stehen wir im internationalen Vergleich hervorragend da. Wenn ich noch die Abgabenquote nennen darf – sie erhält man, wenn man zu der Steuerquote die Sozialversicherungsbeiträge hinzurechnet –: Wir liegen mit 36,2 Prozent nach Großbritannien mit 35,9 Prozent an zweiter Stelle; wir liegen aber deutlich vor Frankreich mit 44,2 Prozent oder Italien mit 41,1 Prozent. Der Prozess der Senkung der Steuerquote geht ja weiter. Gerade haben wir die letzte Stufe der Steuerreform 2000 umgesetzt, die die Unternehmen und die Bürger noch einmal um 6,8 Milliarden Euro entlastet. Ebenso geht der Prozess der Senkung der Lohnnebenkosten weiter. Ab 1. Juli werden die Unternehmen – das kommt insbesondere den kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland zugute – durch die Senkung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung um rund 4,5 Milliarden Euro entlastet. All dies sind Instrumente und Maßnahmen, mit denen wir die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft in Deutschland verbessern.

   Ich will fünftens noch auf die hohe technologische Leistungsfähigkeit in Deutschland verweisen. Auch da liegen wir international vorn. Nach den Erfindern aus den USA haben deutsche Erfinder im Jahr 2003 die meisten Patente in der Welt angemeldet. Der deutsche Anteil am Aufkommen aller Patente in der Welt liegt bei 19 Prozent.

   Als sechsten Pluspunkt verweise ich darauf, dass die Forschungs- und Entwicklungsausgaben bei uns in Deutschland seit Jahren ansteigen. Wir liegen jetzt bei 2,5 Prozent des Bruttosozialprodukts. Ich bin damit nicht zufrieden; wir alle sind damit nicht zufrieden. Das muss weiter steigen. Aber wir haben diese Ausgaben Schritt für Schritt erhöht und liegen zurzeit vor den großen europäischen Industrienationen, aber beispielsweise nicht vor den USA oder Japan. Wir müssen dringend die Aufwendungen für Wissenschaft und Forschung erhöhen. Deshalb werden wir ja nicht müde, an Sie, die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP – insbesondere der Union –, zu appellieren, durch Zustimmung zum steuerlichen Subventionsabbau dazu den Weg freizumachen. Ich denke hier etwa an die Eigenheimzulage.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die deutsche Position in diesem Bereich ist trotzdem gut. Wir haben bei allem, was wir im Bildungssystem zu korrigieren und zu reformieren haben – wir alle wissen, worüber wir sprechen –, dennoch keinen Grund, unser Licht gleich völlig unter den Scheffel zu stellen. Es ist schon bemerkenswert, dass nur in den USA und in der Schweiz der Anteil derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die über einen Abschluss des Sekundarbereichs II, nämlich das Abitur, verfügen, höher ist. Aber wir wissen, dass unser Schulwesen deutlich besser werden muss. Ferner wissen wir – jetzt greife ich einen Aspekt aus meinem Geschäftsbereich auf –, dass wir das Verhältnis zwischen Schulen und Betrieben dringend verbessern müssen. Ich setze darauf, dass wir mit dem Ausbildungspakt auf diesem Gebiet weiterkommen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich die Kampagne wichtiger deutscher Unternehmen, die gestern in Berlin gestartet worden ist. Unter dem Stichwort „Wissensfabrik“ wollen sie 1 000 Unternehmen zusammenbekommen, die durch Patenschaften mit Schulen und ihr Engagement dazu beitragen wollen, dass die Orientierung in unseren Schulen auf das Berufs- und Wirtschaftsleben intensiver und der Übergang in das Berufs- und Arbeitsleben für viele Schülerinnen und Schüler verbessert wird. Ich habe darauf schon in unserer letzten Debatte hingewiesen.

   Ich verweise auf den siebten Pluspunkt, nämlich die hervorragende Infrastruktur in Deutschland, und zwar nicht nur im verkehrlichen Bereich, sondern auch in den Bereichen der Nachrichtenübermittlung und der Energieversorgung.

   Angesichts der Diskussion, die wir um das Energiewirtschaftsgesetz führen – achter Pluspunkt –, ist es mir sehr wichtig, deutlich zu machen, dass wir bezogen auf die Strom- und Gasnetze zwar selbstverständlich Wettbewerb brauchen, dabei aber auch darauf achten müssen, dass die Investitionsfähigkeit unserer Energieversorgungsunternehmen erhalten bleibt; denn wir brauchen eine sichere Energieversorgung. Ich unterstreiche noch einmal das, was ich gestern schon öffentlich gesagt habe: Daneben müssen die energieintensiven Unternehmen in Deutschland ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten können. Das sind insbesondere die Unternehmen, die in außerordentlich hohem Maße auf die Versorgung mit Strom angewiesen sind, wie beispielsweise die Aluminiumindustrie. Wir müssen alles tun, damit diese Unternehmen, diese Industrien, diese Branchen am Standort Deutschland bleiben können.

(Beifall bei der SPD)

Sie gehören zum Cluster der Automobilindustrie in Deutschland und zu anderen. Deshalb müssen wir bei der sehr wichtigen Reform des Energiewirtschaftsrechts mit Augenmaß vorangehen.

   Als neunten Punkt hebe ich die Bedeutung des sozialen Friedens in Deutschland hervor. Ich habe den Eindruck, bei mancher Diskussion wird vergessen, wie wichtig es ist, dass in Deutschland zwischen Unternehmen und Gewerkschaften ein hohes Maß an sozialem Frieden erzeugt worden ist, sodass beispielsweise die Zahl der durch Streik verloren gehenden Arbeitstage im internationalen Vergleich außerordentlich niedrig ist. Und zwar wurde trotz der vielen Warnungen und Befürchtungen von Ihrer Seite und ungeachtet der Forderungen, die Gesetze zu ändern, auf dem Wege der betrieblichen Vereinbarungen in den Unternehmen in Deutschland eine Flexibilität herbeigeführt, Herr Kollege Brüderle, die ihresgleichen sucht: 50 Prozent der heute in Deutschland Erwerbstätigen arbeiten nach flexiblen Arbeitszeiten. Ich weiß nicht, wie viele Volkswirtschaften schon so weit sind. 40 Prozent der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeiten auf der Basis von Arbeitszeitkonten. Wir brauchen diese Flexibilität, die auf freiwillige Weise, ohne gesetzliche Änderungen, ohne Eingriffe in die Tarifhoheit und -freiheit hergestellt worden ist. Wir setzen darauf, dass dies weitergeht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, das sind einige der Aspekte, die uns veranlassen, zu sagen, dass es in Deutschland wirtschaftlich aufwärts geht. Das zeigt das wirtschaftliche Wachstum, das wir im vergangenen Jahr hatten, und das, was wir für dieses Jahr erwarten. Die 1,6 Prozent sind nicht zu hoch veranschlagt. Das wissen alle Beteiligten. Wir brauchen mehr wirtschaftliches Wachstum, um in Deutschland mehr Beschäftigung erzeugen zu können. Aber wir sind auf dem Pfad des wirtschaftlichen Wachstums. Es bleibt richtig: Die Phase der Stagnation ist vorbei. Es kommt jetzt darauf an, uns insbesondere mit einer Fortsetzung der zügigen Reformarbeit darauf zu konzentrieren, den Aufschwung in Deutschland in einen lang anhaltenden Wachstumsprozess übergehen zu lassen und dazu alle unsere Kräfte zu mobilisieren.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das Gleiche haben Sie letztes Jahr auch gesagt!)

– Richtig, Herr Kollege. Deshalb werde ich nicht müde werden, dies auch jetzt wieder zu sagen. Darin finde ich immer mehr Unterstützung, Herr Kollege Hinsken. Das ist vielleicht etwas, was Sie beachten sollten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist sehr gut, dass gerade heute die Gesellschaft für Konsumforschung nach einer Befragung von 2 000 Bürgerinnen und Bürgern mitgeteilt hat, dass sich das Konsumklima in Deutschland im Dezember deutlich verbessert habe, dass die aus den Untersuchungen dieser Gesellschaft seit Oktober 2004 berechneten Daten eindeutig nach oben zeigten, dass sich alle Einzelindikatoren – die Einkommenserwartungen der Bürger, die Konjunkturerwartungen der Bürger und ihre Neigung zu Anschaffungen – in einem deutlichen Aufwärtstrend befänden und dass die Zuversicht vieler Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Entwicklung der Einkommen aufgrund des größten Schrittes, den wir getan haben, wachse. Sie werden verstehen, dass ich dies sehr begrüße. Ich versuche ja entgegen Ihren Unkenrufen, die Bürgerinnen und Bürger zum Konsum zu ermutigen. Ich begrüße natürlich, dass gerade jetzt der Ifo-Geschäftsklimaindex, die ZEW-Konjunkturerwartung der Analysten und die Ergebnisse der Untersuchung der GfK veröffentlicht wurden. Alle Indikatoren, die uns zurzeit vorliegen, weisen nach oben. Deshalb ist meine Bitte an Sie: Verabschieden Sie sich von Ihrer Neigung zum Pessimismus und zur Schwarzmalerei

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und wirken Sie daran mit, alles zu tun, was notwendig ist, um die Stimmung in Deutschland zu verbessern und die wirtschaftliche Erholung zu unterstützen.

   In unserem Jahreswirtschaftsbericht sagen wir sehr deutlich – das habe ich gestern noch deutlicher zu sagen versucht –: Es dauert länger als erwartet, bis sich die wirtschaftliche Erholung auch auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Ich habe bezüglich der aktuellen Daten darauf hingewiesen: Anfang Januar dieses Jahres haben wir die bisherigen Systeme der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, der staatlichen und der kommunalen Fürsorge, zu einem System zusammengeführt. Dadurch nehmen wir einige 100 000 Menschen – niemand von uns weiß zur Stunde, wie viele es genau sind; es können 200 000, 300 000 oder noch mehr Menschen sein –, die bisher Sozialhilfe bezogen haben und erwerbsfähig sind bzw. als erwerbsfähig gelten, aber nicht in der Arbeitslosenstatistik aufgeführt waren, in die Arbeitsvermittlung auf. Der Effekt ist, dass wir die Dunkelziffer des Arbeitsmarktes um diese Arbeit suchenden Menschen verringern.

   Gleichzeitig entsteht dadurch im Januar dieses Jahres vom Arbeitsmarkt in Deutschland ein Bild, das viel komplizierter als je zuvor ist. Darauf will ich in aller Klarheit und Deutlichkeit hinweisen; denn ich weiß, wie solche Entwicklungen auch interpretiert werden können. Die momentan stattfindende saisonal begründete Verschlechterung der Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Tatsache, dass sich die Arbeitsagenturen auf die Technik des Zusammenführens von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe konzentrieren mussten, vor allen Dingen aber, dass jetzt Menschen, die bisher Sozialhilfe bezogen haben, in der Arbeitslosenstatistik auftauchen – all dies wird dazu führen, dass die Arbeitsmarktzahlen, die wir für die kommenden Monate erwarten, mit denen, die wir bisher gewohnt waren, nicht vergleichbar sein werden.

   Dennoch sage ich: Wir müssen damit rechnen, dass die durchschnittlichen Arbeitslosenzahlen in diesem Jahr steigen. Das hat mit dem Überhang aus dem Jahr 2004 zu tun. Ende des Jahres 2004 gab es in Deutschland etwa 90 000 Arbeit Suchende mehr, als zuvor kalkuliert worden war. Im Jahr 2005 wird sich dieser Überhang – gerechnet auf den Jahresdurchschnitt – in einer Größenordnung von etwa 50 000 bemerkbar machen. Wenn wir den aus der Hartz-IV-Reform resultierenden statistischen Effekt berücksichtigen – das haben weder die Sachverständigen in ihrem Gutachten noch wir getan; wir können ihn auch nur ungefähr beziffern –, dann rechnen wir für das Jahr 2005 im Jahresdurchschnitt mit einer Erhöhung der Arbeitslosenzahlen um 150 000.

(Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Ein Minus ist etwas anderes! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster (SPD): Da fuchtelt er schon wieder herum!)

– Das ist nur schwer zu verstehen, Herr Kollege. Dennoch wird es zu der Entwicklung kommen, dass die Arbeitslosigkeit – das jedenfalls ist unsere Erwartung, die in unseren Darstellungen auch belegt ist – im Jahresverlauf um etwa 200 000 sinken wird, sodass die Arbeitslosenzahlen Ende 2005 – das erwarten wir – um etwa 200 000 niedriger sein werden als Ende 2004.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Das alles ist noch nicht die große Wende am Arbeitsmarkt, die ohnehin niemand auf Knopfdruck herbeiführen kann und für die es auch kein Patentrezept gibt. Aber das ist der Beginn einer Phase – wir sind überzeugt davon –, die peu à peu zu einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland führen wird, auch wenn sich die Zahlen zu Beginn dieses Jahres in einer für diejenigen, die sich nicht mit den einzelnen Effekten beschäftigen können, erschreckenden Weise verschlechtern werden. Das ist die gegenwärtige Situation.

   Eine weitere Bitte, die ich an alle, die mithelfen wollen, richte, ist: Lassen Sie uns vor allen Dingen darauf konzentrieren, die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland zu senken. Uns allen, den Arbeitsagenturen, den Arbeitsgemeinschaften und den Kommunen stehen die entsprechenden Instrumente zur Verfügung. Wir alle haben andere und mehr Instrumente zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit als je zuvor.

   Ich setze darauf, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger, diejenigen, die in Unternehmen, Verwaltungen, Instituten und Institutionen Verantwortung tragen, Manager, Unternehmer, Personalräte, Betriebsräte und vor allen Dingen diejenigen, die in der Jugendarbeit Verantwortung tragen, dabei helfen, dass nach Möglichkeit – darum habe ich schon einmal gebeten – in vielen, möglichst in allen Regionen Deutschlands Jugendkonferenzen stattfinden und dass wir uns auf jeden Fall mit dem Thema Jugendarbeitslosigkeit beschäftigen; denn es ist dringend notwendig, der allgemeinen Arbeitslosigkeit den Nachwuchs zu entziehen.

   Ich habe gesagt, dass wir die Reformarbeit fortsetzen müssen. Dazu sind im Jahreswirtschaftsbericht die Ansätze genannt. Es geht um die Fortsetzung der Reform der sozialen Sicherungssysteme. Wir nennen als Ziel, die Lohnnebenkosten in Deutschland mittelfristig unter 40 Prozent zu bringen. Ich nenne die Marktliberalisierung und den Bürokratieabbau. Ich habe schon auf die Notwendigkeit eines unverfälschten Wettbewerbs im Hinblick auf die Strom- und Gasnetze hingewiesen. Ich verweise auf das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das wir jetzt an das europäische Recht anpassen müssen; das bedeutet dann weniger Bürokratie für die Unternehmen und mehr Eigenverantwortung in der Rechtsanwendung. Ich verweise auf die von uns beabsichtigte Reform des Vergaberechts für die öffentliche Beschaffung. Auch wenn der BDI und andere das kritisieren: Das ist wichtig, weil das öffentliche Auftragswesen auf diese Weise transparenter und anwendungsfreundlicher wird. Ich verweise auf die Notwendigkeit der Reform der Mittelstandsfinanzierung, der Gründungsfinanzierung, an der wir arbeiten und von der ein Teil auch davon abhängt, ob wir durch den Wegfall der Eigenheimzulage die Mittel bekommen, um mit der Wirtschaft zusammen einen Seed-Kapital-Fonds für die Gründung von technologieorientierten Unternehmen aufzubauen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich verweise auf den Aufbau Ost, bei dem wir durch die stärkere Konzentration auf die regionalen und sektoralen Potenziale in Ostdeutschland – beispielsweise durch Innovationskonferenzen, beispielsweise durch Clusterkonferenzen – mehr Bewegung in die wirtschaftliche, in die strukturelle Entwicklung zu bringen versuchen. Es werden im Laufe dieses Jahres eine Reihe von Innovationskonferenzen und eine Reihe von Clusterkonferenzen stattfinden, die wir schon angekündigt haben.

   Ich will aber auch deutlich machen, meine Damen und Herren, dass zum Erfolg, zum Wachstum in Deutschland auch die Einordnung unserer Politik in den europäischen und in den weltweiten Rahmen gehört. Deshalb haben wir – der Bundeskanzler, der Bundesfinanzminister und ich – sehr deutlich gemacht und ich will das unterstreichen: Jawohl, wir brauchen in Deutschland eine Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Pakt auch dem Ziel dient, das die Staats- und Regierungschefs uns und sich in Lissabon gesetzt haben: das Wachstum zu fördern. Das können wir nicht mit einer mechanistischen Politik erreichen, sondern dafür müssen wir mit Rücksicht auf die konjunkturellen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union angemessen flexibel reagieren können.

   Ich verweise auf die Notwendigkeit, den Binnenmarkt in Europa zu vervollkommnen, insbesondere durch eine weitere Öffnung der Dienstleistungsmärkte, und plädiere deshalb für eine konstruktive und zügige Beratung und Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie – selbstverständlich, wie wir es in unserem Bericht deutlich machen, unter Wahrung der berechtigten Schutzbelange der Mitgliedstaaten etwa im Arbeitsrecht, etwa im Gesundheitsrecht, etwa im Bereich der inneren Sicherheit.

   Ich verweise auf die Notwendigkeit der Modernisierung der europäischen Industriepolitik. Wir brauchen – und dazu haben der Bundeskanzler, der französische Präsident und der britische Premier die Signale gesetzt – eine Erneuerung, eine Renaissance der Industriepolitik hier in Europa. Wir sind auf dem Wege, dies zu praktizieren, beispielsweise bei der Automobilindustrie, bei der europäischen Chemikalienpolitik und auf anderen Feldern. Gerade auf den Märkten in der Welt, auf denen die deutsche und die europäische Industrie im weltweiten Wettbewerb stehen, brauchen wir ein „level playing field“, also gleiche oder zumindest annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, wir in Deutschland oder Europa könnten die Maßstäbe für den weltweiten Wettbewerb allein setzen. Nein, diese Maßstäbe werden auch in Japan, in den USA und anderswo gesetzt und darauf muss sich unsere Industrie einstellen können.

   Meine Damen und Herren, es ist natürlich schwer, in 20 Minuten darzustellen,

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): 24 Minuten!)

was in einem Jahreswirtschaftsbericht enthalten ist; darum konnte ich es nur mit wenigen Strichen zu skizzieren versuchen. Zudem musste ich noch zum Sachverständigenbericht Stellung nehmen. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, den Sachverständigen für ihre Arbeit zu danken. Ich bin überzeugt, dass wir mit dem, was wir hier auf den Weg bringen bzw. gebracht haben, und mit dem, was wir – ich kann es hier nur skizzenhaft andeuten – auf den Weg bringen werden, die Voraussetzungen für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Deutschland verbessern können. Diese Voraussetzungen sind zur Stunde günstig wie seit Jahren nicht mehr. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen. Damit werden wir dann auch das schaffen können, was wir uns vorgenommen haben: das Vertrauen der Konsumenten und der Investoren zu stärken und so den Aufschwung zu festigen und auf diese Weise unseren Beitrag für mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit in Deutschland zu leisten.

   Das ist das Hauptziel, das wir verfolgen, nämlich die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland, die uns alle bedrücken muss und viele von uns auch bedrückt, endlich zu verringern. Damit wir das schaffen können, dürfen wir von unserem Weg nicht abweichen. Wir müssen den Weg unserer Reformen, den wir mit der Agenda 2010 und dem, was daraus abzuleiten ist, eingeschlagen haben, konsequent weitergehen. Dazu lade ich ein und bitte ich um Unterstützung.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ronald Pofalla (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeswirtschaftsminister, ich stimme Ihnen zu: Nach dem politischen Terminkalender ist es in der Tat leider manchmal so, dass unmittelbar im Anschluss an eine bewegende Gedenkstunde eine Wirtschaftsdebatte stattfindet. Bei allen Unterschieden, die wir haben, sind uns allen in der Gedenkstunde die Gemeinsamkeiten der Demokraten des Deutschen Bundestages zu Recht deutlich geworden. Dafür will ich mich bedanken.

(Beifall im ganzen Hause)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, ich habe Ihrer Rede sehr aufmerksam zugehört und habe natürlich auch den Jahreswirtschaftsbericht gelesen. Ich kann es Ihnen nicht ersparen, zu sagen, dass ich nicht nur von Ihrer Rede, sondern noch mehr vom Inhalt des Jahreswirtschaftsberichts enttäuscht bin, weil Sie dem deutschen Parlament trotz der höchsten Arbeitslosigkeit seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland hier und heute und auch in dem Bericht keinen einzigen Vorschlag unterbreitet haben, wie Sie als der zuständige Minister diese höchste Arbeitslosigkeit beseitigen wollen. Das ist ein erstklassiger politischer Offenbarungseid.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Der Bundeskanzler hat zum Jahreswechsel mitgeteilt – Herr Clement, das werden Sie registriert haben –, dass der Bundeswirtschaftsminister für das Gelingen von Hartz IV persönlich verantwortlich ist. Ich finde, dass war eine bemerkenswerte Mitteilung. Als diese Mitteilung kam, habe ich mich gefragt, was Wolfgang Clement schon wieder angestellt hat. Warum betont der Bundeskanzler die ohnehin eindeutige politische Verantwortlichkeit des Bundeswirtschafts- und -arbeitsministers? Die Antwort ist relativ klar: Ihr Bundeskanzler wollte sich vorsorglich von ihm absetzen. In der Politik bezeichne ich das als prophylaktische Distanzierung.

(Hubertus Heil (SPD): Wir sind doch nicht in der CDU!)

Herr Clement, um die Jahreswende herum sind Sie für verschiedene Hintergrundberichte interviewt worden. Ihrer Nervosität zum Jahreswechsel habe ich entnehmen können, dass Sie genau diese Gefahr gesehen haben. Sie mussten wissen, dass dieser Bundeskanzler für die einzelnen Bundesminister nicht verlässlich ist, wenn es schwierig wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster (SPD): Ein vergeblicher Versuch!)

   Nun zum Layout des Jahreswirtschaftsberichts. Dort ist ein Kind auf der Schaukel abgebildet. Was soll uns das sagen?

(Ludwig Stiegler (SPD): Dass wir Schwung nehmen, während Sie noch schaukeln!)

Wollten Sie uns damit sagen, dass sich Deutschland im freien Fall befindet oder dass Deutschland die Bodenhaftung verloren hat? Vielleicht wollten Sie uns hier im Deutschen Bundestag auch nur verschaukeln. Meine Antwort ist klar: Sie wollen uns verschaukeln! Das wollen Sie nicht einmal mehr verheimlichen, was Sie durch ein entsprechendes Layout deutlich machen.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Herr Pofalla, Sie bauen wieder Pappkameraden auf! Sagen Sie mal was Inhaltliches! – Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie nichts anderes zu sagen?)

   In den letzten Wochen und Monaten habe ich die Prognosen des Bundeswirtschaftsministers immer wieder verfolgt. XXXXX

Ich erlaube mir die Anmerkung, Herr Clement: Sie sind der Prognosemeister dieser Bundesregierung. Aber die Realität hat gezeigt, dass Ihre Prognosen nicht nur nicht zutreffend sind, sondern sie auch überholt werden: Jahr für Jahr, Monat für Monat. Zwischenzeitlich ist die Halbwertszeit Ihrer Prognosen nur noch im Tagesrhythmus zu messen. Bei allen wirtschaftlichen Determinanten – darauf werde ich gleich eingehen – liegen wir in Europa im Tabellenkeller. Dafür sind Sie persönlich verantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß (SPD): Sie sind politisch im Keller! – Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Reden Sie doch mal über die Wirtschaft und nicht über Tabellen!)

   Vor zwei Jahren, am 14. Februar 2003, sagte Herr Clement bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht – ich zitiere wörtlich –:

Wir erwarten ... ein Wiederanziehen des Wachstums im zweiten Halbjahr.

Anstatt des versprochenen Wachstumsschubs betrug das Wachstum in 2003 minus 0,1 Prozent, der zweitniedrigste Wert seit der Wiedervereinigung und das drittschlechteste Wachstum seit 1980. Im letzten Jahr haben Sie hier im Hohen Hause in dieser Debatte erklärt – ich zitiere wieder –:

Aufgrund dieser und anderer Reformen wird die Arbeitslosenzahl weiter sinken. Ab Sommer wird sie sich ... verringern.

Die Wirklichkeit sah – ich betone: leider – erneut anders aus. Die Arbeitslosigkeit im vergangenen Jahr war, rechnet man Ihre Statistiktricks heraus, die höchste, die jemals in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen registriert worden ist. Keine Ihrer Prognosen ist eingetreten, und zwar auf Kosten von Millionen von Arbeitslosen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   In diesem Jahr setzen Sie Ihre wundervollen optimistischen Ankündigungen nahtlos fort, die aber leider nur wenig mit der Realität gemein haben.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hören Sie mal, was die Wirtschaft sagt!)

Am 2. Januar dieses Jahres – ich rede nicht vom vorigen oder vorvorigen Jahr – hat der Bundeswirtschaftsminister im Blick auf die Arbeitslosenzahlen gesagt, sie befänden sich „in einem Gleitflug nach unten“. Am 8. Januar, also wenige Tage später, hieß es dann, die Arbeitslosenzahlen würden um 15 bis 20 Prozent sinken; das wäre ein Rückgang um fast 900 000. Die Aussage ist gerade einmal 19 Tage alt, Herr Bundeswirtschaftsminister. Im Jahreswirtschaftsbericht heißt es jetzt: Die Arbeitslosigkeit wird im Jahresdurchschnitt bei oberhalb von 4,5 Millionen liegen. – Herr Minister, das ist kein Gleitflug, sondern ein Sturzflug auf dem Arbeitsmarkt. Dafür sind Sie persönlich verantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Kommen wir zu den entscheidenden Wirtschaftsdaten; dabei können wir uns auf Datenmaterial, das der Bundesregierung und auch dem deutschen Parlament zugänglich ist, berufen. Schauen wir einmal in den Jahreswirtschaftsbericht des Sachverständigenrates aus dem Winter des vergangenen Jahres.

(Joachim Poß (SPD): Meinen Sie den Jahreswirtschaftsbericht oder den Bericht des Sachverständigenrates?)

In diesem großen Werk von über 1 000 Seiten entwickeln die Wissenschaftler zwei Größen, die sie einander gegenüberstellen: Dem vermuteten tatsächlichen Wachstum auf der einen Seite steht das so genannte Potenzialwachstum auf der anderen Seite gegenüber.

(Joachim Poß (SPD): Welchen Bericht meinen Sie?)

– Herr Poß, wenn Sie schon die Gutachten nicht lesen, sollten Sie wenigstens die Gelegenheit nutzen und zuhören, damit Sie den Sachverstand dieses Gutachtens zur Kenntnis nehmen können.

   Die Gutachter haben beim Vergleich dieser beiden Größen Folgendes festgestellt: Das tatsächliche Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik Deutschland ist bereits an der oberen Schwelle des Potenzialwachstums angekommen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meinen Sie, die Fernsehzuschauer verstehen das? – Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ein bisschen einfacher, bitte!)

Anders ausgedrückt: In Deutschland gibt es nicht mehr Wachstumspotenzial als die 1,7 Prozent des vergangenen Jahres und die von Ihnen für dieses Jahr erwarteten 1,6 Prozent.

Das bedeutet, dass die Reformen, die in den letzten Jahren von Ihnen begonnen worden sind, eben nicht ausreichen,

(Joachim Poß (SPD): So ein Nonsens! Was Sie gesagt haben, verstehen Sie noch nicht einmal selbst! Sie kennen noch nicht einmal den Unterschied zwischen dem Jahreswirtschaftsbericht und dem Sachverständigengutachten!)

um zu einer substanziellen Veränderung in Deutschland zu kommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir haben ein zweites Problem. Das besteht darin, dass die Wachstumsschwelle, deren Überschreitung zur Schaffung von Vollarbeitsplätzen führt, bei circa 2 Prozent liegt.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da haben Sie was verschlafen, Herr Pofalla!)

Anders ausgedrückt: Bei dem von Ihnen selbst prognostizierten Wachstum von 1,6 Prozent werden wir substanziell in diesem Jahr auf dem Arbeitsmarkt nicht nur keine Veränderungen, sondern im Jahresdurchschnitt ohne den Hartz-IV-Effekt 50 000 zusätzliche Arbeitslose in der Bundesrepublik Deutschland haben. Damit wird deutlich, dass der Reformprozess, der von dieser Bundesregierung zu Recht an der einen oder anderen Stelle in Angriff genommen worden ist, eben nicht ausreicht, um zu Wachstum und zu einer Verringerung der Arbeitslosenzahlen in Deutschland in diesem Jahr und in den nächsten Jahren zu kommen. Sie haben nicht gesagt, mit welchen Gesetzen und mit welchen Initiativen Sie versuchen, diese Probleme zu lösen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß (SPD): Was legen Sie denn vor, Herr Pofalla?)

   Ich finde es sehr schön, dass auf der Regierungsbank zwei Minister beieinander sitzen, von denen der eine heute hier die bundesrepublikanische Situation in rosaroter Farbe gemalt hat, während der neben ihm sitzende noch im Dezember für den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland im vergangenen Jahr die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festgestellt hat. Was stimmt denn jetzt? Ist die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, das Herr Eichel im Dezember des vergangenen Jahres im Nachtragshaushalt hat feststellen lassen, gegeben oder kommt – was unserer Meinung aber jeder Realität entbehrt – die wirtschaftliche Entwicklung in Fahrt, sodass die Euphorie von Herrn Clement berechtigt ist? Ich glaube, dass leider – ich betone: leider – Herr Eichel Recht hat, wenngleich ich der Auffassung bin – aber das wird in Karlsruhe geklärt –, dass die Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie Sie sie vorgenommen haben, verfassungswidrig war. Das war nur der Versuch, den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Sie sind sich nicht einmal auf der Regierungsbank darüber einig, wie die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist.

(Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was sind denn Ihre Vorschläge?)

Sie sollten versuchen, sich untereinander abzustimmen, ob wir die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts feststellen müssen oder ob wir eine positive Entwicklung nehmen. Wir können hier angesichts der enormen Zunahme der Arbeitslosenzahlen feststellen, dass die Entwicklung in Deutschland nicht ausreichend ist und die Situation in Deutschland weitere Reformen erfordert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Wir sind beim Wirtschaftswachstum EU-weit die Bremse Nummer 1. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs ist in den beiden vergangenen Jahren um fast 1 Million gesunken, Tendenz weiter fallend. Es ist bemerkenswert und bezeichnend, Herr Bundeswirtschaftsminister, dass Sie darauf in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht mit keinem einzigen Satz eingegangen sind. Offensichtlich wollen Sie genau diese Tatsache politisch ignorieren.

   Die deutschen Unternehmen haben im letzten Jahr über 50 000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Auch dazu kein einziger Satz im Jahreswirtschaftsbericht!

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Das ist ein Irrtum, Herr Kollege!)

Während in allen anderen Euroländern die Beschäftigung in den vergangenen Jahren teilweise deutlich zugenommen hat, stagniert sie in Deutschland. In keinem Euroland war der Zuwachs so gering wie bei uns. Ausländische Firmen ziehen ihr Kapital aus Deutschland ab. Wir leben in dem einzigen großen Industrieland, in dem die Direktinvestitionen zurückgehen. Noch niemals zuvor gab es so viele Unternehmenspleiten wie im vergangenen Jahr. Rund 40 000 Unternehmen

(Joachim Poß (SPD): Aber auch mehr Gründungen!)

– zu den Gründungen sage ich gleich etwas – haben im vergangenen Jahr in Deutschland leider die Tore schließen müssen. Auch dazu finden sich nur ganz wenige Anmerkungen im Jahreswirtschaftsbericht.

   Herr Minister, Sie haben gestern die steigende Zahl der Existenzgründungen erwähnt. Das ist sicherlich eine gute Entwicklung. Aber Sie können nicht leugnen – diese Zahlen finden sich nur sehr verklausuliert im Jahreswirtschaftsbericht –, dass der Prozentsatz von neu gegründeten Unternehmen, die Zuschüsse vom Staat in Anspruch nehmen, in den vergangenen Jahren enorm gestiegen ist.

1986 betrug dieser Anteil 2 Prozent und 1998 20 Prozent. Mittlerweile sind in 65 Prozent der Fälle staatliche Zuschüsse Voraussetzung für eine Existenzgründung. Diese falsche Entwicklung ist eingetreten, weil Sie die entsprechenden wirtschaftlichen Rahmendaten nicht gesetzt haben, damit Unternehmen in Deutschland ohne Staatsgeld gegründet werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, damit deutlich wird, dass zumindest die Opposition im Deutschen Bundestag zu weiteren Reformen bereit ist, schlage ich Ihnen namens meiner Fraktion einen Pakt für Deutschland vor.

(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei möchte ich Ihnen zehn Reformvorhaben vorschlagen, die wir noch in diesem Jahr im Deutschen Bundestag gemeinsam bewältigen können, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, um Wachstumsimpulse zu geben, damit Deutschland und die Menschen in Deutschland wieder eine Perspektive haben:

   Erstens. Wir senken noch in diesem Jahr – die Möglichkeiten dazu gibt es – den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Wie denn?)

   Zweitens. Wir führen endlich die betrieblichen Bündnisse für Arbeit ein. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich dagegen so sträuben. Wir sind dazu bereit, solche betrieblichen Bündnisse vor dem Hintergrund gesetzlicher Veränderungen zu ermöglichen, damit in den deutschen Unternehmen mehr Flexibilität möglich ist, als es bisher der Fall ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Drittens. Wir sorgen dafür, dass Arbeitnehmer die Chance erhalten, ihren Job zu sichern, indem sie länger arbeiten dürfen, wenn Not am Mann ist.

(Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Das schafft keine Arbeitsplätze!)

Dazu muss das Günstigkeitsprinzip geändert werden. Auch dazu stehen wir bereit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Viertens. Wir wollen im Tarifvertragsgesetz klar regeln, dass als Einstieg eine 10-prozentige untertarifliche Entlohnung möglich wird, um insbesondere Langzeitarbeitslosen, um die Sie sich in Ihrer Fraktion mehr kümmern müssten, wieder Möglichkeiten des Einstiegs in den Arbeitsmarkt zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der SPD: Das ist blanke Ironie!)

   Fünftens. Wir modernisieren das Kündigungsschutzrecht so, dass es vor allem im Mittelstand wieder zu Einstellungen anregt, und zwar auch in Zeiten unruhiger Konjunktur, wie wir sie derzeit haben.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das sind die alten Kamellen! Meine Güte!)

   Sechstens. Das Jugendschutzgesetz wird so gefasst, dass Betriebe mehr Möglichkeiten haben, jungen Menschen eine Chance zu geben.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie denn? Die Vergütung senken! Das wollen Sie doch, oder?

Auch Sie haben es ja auf Ihre Agenda geschrieben, sich insbesondere um junge Menschen zu kümmern.

   Siebtens. Wir fördern die Einstellung von Teilzeitkräften, indem bei allen Schwellenwerten Teilzeitbeschäftigte nur entsprechend ihrer Arbeitszeit berücksichtigt werden.

   Achtens. Wir bauen das Betriebsverfassungsgesetz so um,

(Zurufe von der SPD: Aha!)

dass die betriebliche Mitbestimmung für alle Beteiligten kostengünstiger wird, ohne dass in der Substanz eine Beeinträchtigung eintritt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Neuntens. Wir flexibilisieren das Arbeitszeitgesetz entsprechend dem EU-Recht und schaffen zugleich die rechtlich klaren Optionen für langfristige Arbeitszeitkonten.

   Zehntens. Wir entlasten den Mittelstand, indem die Pflicht zur Bestellung von Sicherheitskräften und Betriebsärzten sowie zur Aufstellung teurer Statistiken in kleinen Betrieben ausgesetzt wird, damit bei uns vor allem auch mittelständische Betriebe wieder atmen und existieren können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß (SPD): Da werden sich die Bürgerinnen und Bürger in Schleswig-Holstein aber freuen, wenn sie so etwas hören!)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, im Zusammenhang mit diesem Pakt für Deutschland, den wir Ihnen anbieten und bezüglich dessen aufseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bereitschaft besteht, die Gespräche darüber mit der Bundesregierung sofort aufzunehmen, will ich einen weiteren Punkt nennen: Das deutsche Arbeitsrecht ist überreguliert. Es ist auch im nicht kodifizierten und durch die Rechtsprechung entwickelten Recht völlig überbordet.

(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)

Wir bieten Ihnen an, noch in diesem Jahr in einer Arbeitsgruppe aus Vertretern von Regierungskoalition und Oppositionsfraktionen an einem Arbeitsgesetzbuch zu arbeiten mit dem Ziel, das kodifizierte und nicht kodifizierte Recht so zu reduzieren und zusammenzufassen, dass sowohl Unternehmer als auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wissen, welche Rechte und Pflichten sie haben, und damit einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Beschäftigungsschwelle beim Wachstum eben künftig nicht mehr so hoch ist, wie es derzeit der Fall ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, ich befürchte, dass Sie selber nicht mehr die Kraft aufbringen, auf diese Vorschläge einzugehen. Schließlich hatten Sie ja auch nicht die Kraft, sich der Vorlage des Kabinetts zum so genannten Antidiskriminierungsgesetz zu widersetzen. Als Bundeswirtschaftsminister predigen Sie tagein, tagaus, dass die Bürokratie überbordet. Aber als Kabinettsmitglied billigen Sie ein solches bürokratisches Monster wie diesen Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes. Ich hätte von Ihnen erwartet, dass Sie im Kabinett deutlich machen, dass dieser Aberwitz, der vor allem mittelständische Unternehmen treffen wird, in die falsche Richtung geht und dass Sie als Bundeswirtschaftsminister einen solchen Gesetzentwurf nicht mittragen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir alle bedauern sicherlich die Tatsache, dass es in Deutschland Millionen von Arbeitslose gibt.

(Joachim Poß (SPD): Denen wollen wir helfen!)

– Mit dem Helfen ist das so eine Sache, Herr Poß. Der neue Armutsbericht zeigt, dass in Ihrer Regierungszeit die Zahl der armen Menschen in Deutschland um fast 3 Prozent gestiegen ist. Das ist eine sozialdemokratische Leistung, auf die Sie wahrlich nicht stolz sein können.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Meisterleistung von Herrn Poß!)

Wenn Sie schon nichts tun, dann sollten Sie sich zumindest vorhalten lassen, dass die Armut in Deutschland – übrigens durch die Arbeitslosigkeit bedingt – in Ihrer Regierungszeit exorbitant angestiegen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß (SPD): Das müssen wir uns nicht vorhalten lassen!)

   Herr Bundeswirtschaftsminister, ich hoffe, dass Sie die Kraft finden, auf den Pakt für Deutschland einzugehen. Bringen Sie die Kraft auf, sich über Widerstände Ihrer Regierungskoalition hinwegzusetzen und weitere notwendige Reformvorhaben in Angriff zu nehmen, damit es Deutschland wieder besser geht! Die Deutschen haben das verdient.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.

Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich schließe mich meinen Vorrednern an: Es ist sicherlich für jeden Redner schwierig, nach dieser eindrucksvollen Gedenkfeier zur politischen Tagesordnung überzugehen. Ich glaube, unsere Aufgabe wird darin bestehen, durch eine verbesserte parlamentarische Arbeit, mehr Transparenz und auch durch die Streitkultur, die wir pflegen, den rechtsradikalen Tendenzen im Land Paroli zu bieten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

   Was die wirtschaftliche Situation im Land betrifft, Kollege Pofalla, ist bereits eine Verbesserung zu verzeichnen. Man muss schon ignorant sein, will man die wirtschaftliche Dynamik, die sich im vergangenen Jahr entwickelt hat, übersehen. Dass sie sich weiter fortsetzt, zeigen die Indikatoren und der Ifo-Geschäftsklimaindex. Auch der Jahreswirtschaftsbericht weist dies eindeutig aus.

   Ich glaube, es ist uns nicht damit geholfen, wenn wir der Nation permanent schlechte Laune einreden.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich meine, wir haben die Trendwende geschafft, die uns der Sachverständigenrat im vergangenen Jahr mit dem Titel seines Gutachtens „Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland“ empfohlen hat. Dort hieß es: Wir haben die Chance, die Wirtschaftsschwäche, die sich in der Binnenkonjunktur zeigt, selbst abzustellen, weil wir die Möglichkeiten dazu haben, unsere Stärken besser herauszuarbeiten.

   In der Fußballersprache würde das neudeutsch heißen: Wir sind gut aufgestellt. – Die deutsche Wirtschaft ist leistungsfähig.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): In jeder Liga!)

Es gibt eine leistungsfähige Unternehmerbasis, die es sogar geschafft hat, in den zurückliegenden schwierigen Jahren die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung für sich zu nutzen. Der Außenbeitrag ist einfach gut. Der Export liegt deutlich oberhalb des Imports. Viele Theorien, die derzeit auf dem Markt sind – wie die der so genannten Basarökonomie des Ifo-Professors Sinn –, sind barer Unsinn.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Wertschöpfung findet in diesem Land statt und nicht im Wege des Imports überzogener Vorleistungen.

   Der Jahreswirtschaftsbericht 2005 liefert den Optimismus, den wir brauchen. Vielleicht müssen wir manchmal nur die Sichtweise ändern. Anfang dieses Jahres sind die Mautgebühr und Hartz IV – sicherlich nach großen Anstrengungen – eingeführt worden. Aber anstatt das gebührend zu würdigen, lautet der Tenor der Berichterstattung: Chaos und Katastrophe sind ausgeblieben. Wenn wir so herangehen, dann gute Nacht! Dann werden wir nie etwas schaffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Hüten wir uns gleichermaßen vor überzogenem Pessimismus und Optimismus. Vielleicht kann uns hier der russische Lyriker Jewgeni Jewtuschenko weiterhelfen, der gesagt hat: „Grenzenloser Optimismus ist Mangel an Wissen. Grenzenloser Pessimismus ist Mangel an Fantasie.“ Ich glaube, in der Wirtschaftspolitik kommt es darauf an, den richtigen Mix aus Wissen und Kreativität auf der Basis von soliden Zahlen, Daten und Analysen zu finden sowie tragfähige, praktikable Ideen zu entwickeln, damit eine hoffnungsvolle Perspektive aufgezeigt werden kann. Das tut der vorliegende Jahreswirtschaftsbericht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Kollege Pofalla, ich finde es unangemessen, wenn Sie in Ihrer ersten Rede als stellvertretender Vorsitzender Ihrer Fraktion im Zusammenhang mit dem Jahreswirtschaftsbericht von einem Offenbarungseid sprechen. Offensichtlich haben Sie den vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht mit dem zweiseitigen CDU-Antrag aus der letzten Woche verwechselt. Dieser Antrag ist wirklich ein Armutszeugnis und enthält nicht viel Substanzielles. Es tut mir Leid, aber auch der „Pakt für Deutschland“, den Sie vorhin mit großer patriotischer Geste angeboten haben, kommt mir wie eine Packung alter Hüte vor.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir durch eine Lockerung des Kündigungs- und des Jugendschutzes sowie durch Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Betriebsverfassungsgesetz, mit Statistiken und Sicherheitsdiensten im Mittelstand oder durch all die anderen zündenden Ideen, die der von Ihnen vorgeschlagene Pakt enthält, die Arbeitslosigkeit massiv senken werden!

   Natürlich ist Ihre zentrale Forderung, die Lohnnebenkosten zu senken, diskussionswürdig; denn die hohen Lohnnebenkosten machen uns allen zu schaffen. Man sollte aber fairerweise hinzufügen, dass die Höhe der Lohnnebenkosten von 42 Prozent eine schwere Hypothek der Regierung Kohl ist, die wir nun abtragen müssen. Das sollte man nicht vergessen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Wie schwer das ist, können Sie an der Wirtschaftspolitik der letzten Jahre sehen. Als es 1990 um Patriotismus ging, hätten Sie ja das nationale Kapital in die Verantwortung nehmen können. Aber Sie haben die Vermögensteuer abgeschafft und mit der Einführung der Pflegeversicherung für eine weitere Belastung der sozialen Sicherungssysteme gesorgt. Das ist Ihr Beitrag zu der momentan schwierigen Situation gewesen.

   Außerdem ist das, was Sie dazu gesagt haben – runter mit den Lohnnebenkosten um 1 Prozent und schon gibt es 100 000 Arbeitsplätze mehr –, eine Milchmädchenrechnung. Wir wissen nur, dass der Anstieg der Lohnnebenkosten um 1 Prozentpunkt uns 100 000 Arbeitsplätze gekostet hat. Ob das leicht reversibel gemacht werden kann, muss noch bewiesen werden. Ich rate an dieser Stelle auf jeden Fall zur Vorsicht. Sie können gerne versuchen, die Lohnnebenkosten durch die Herausnahme der versicherungsfremden Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung um 1,5 Prozentpunkte zu senken. Aber dann müssen Sie auch sagen, wie Sie künftig Beschäftigungspolitik und Qualifizierungsmaßnahmen bezahlen wollen. Sie müssen über den Rand des Bierdeckels des Kollegen Merz hinausschauen, wenn Sie das mit Steuermitteln finanzieren wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Nehmen wir einmal Ihre naive Vorstellung von Wachstum als Beispiel. Ich möchte Ihnen erst gar nicht die Namen der Sachverständigen aufzählen, deren Gutachten Sie nicht gelesen haben. Nur so viel: Allein die Lektüre des Artikels von Professor Kurt Biedenkopf, der im November letzten Jahres in der „Zeit“ erschienen ist, wäre an dieser Stelle sehr hilfreich. Er warnt im Hinblick auf den Leitantrag zum CDU-Parteitag, in dem es um Wachstum und Beschäftigung geht, vor der naiven Vorstellung, dass mehr Wachstum zu mehr Beschäftigung führt. Er weist auf die Ergebnisse seiner Zukunftskommission hin und schreibt: Es gibt keine Korrelation zwischen Wachstum und Beschäftigung. Im Gegenteil: Wenn man sich die Entwicklungen im letzten Jahrhundert anschaut, dann stellt man fest, dass es zwar einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, des Pro-Kopf-Einkommens und der Pro-Kopf-Produktivität gab, dass aber gleichzeitig das Arbeitsvolumen abgenommen hat. Wir sollten daher vielleicht die Formel „mehr Wachstum ist gleich mehr Beschäftigung“ vom Kopf auf die Füße stellen und eher sagen: Mehr Beschäftigung schafft mehr Wachstum.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

   Dass ein Beschäftigungspotenzial vorhanden ist, zeigt die Äußerung des Geschäftsführers des DIHK, der großzügig angekündigt hat, dass die Wirtschaft bereit sei, Menschen auf der Basis von 1-Euro-Jobs einzustellen. Das kann es wohl nicht sein. Eine solche Äußerung zwingt fast dazu, die Einführung eines Mindestlohns zu fordern.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte mich gar nicht wegducken, wenn es um Wachstum geht. Natürlich brauchen wir Wachstum, aber ein nachhaltig-ökologisches. Wir brauchen eine ökonomische Entwicklung auf ökologischer Basis. Dabei sind zwei Aspekte für uns entscheidend:

Ein Aspekt ist der Klimawandel, der andere die schwindende Rohstoffbasis. Beispielsweise hat Tony Blair in Davos interessanterweise verkündet – er hat es erkannt! –: Der Klimawandel bedroht uns; wir müssen uns mehr um erneuerbare Energien kümmern. Das sagen wir, die Bündnisgrünen, seit Jahren. Ich freue mich über das, was Tony Blair sagt. Steigen wir ein!

   Wir haben eine Doppelstrategie entwickelt. Sie sieht zum einen vor, mit den Ressourcen sparsamer umzugehen, und zum anderen, stärker auf nachwachsende Rohstoffe zu setzen. Das brauchen wir. Wir sagen: vier mal 25, und zwar bei der stofflichen Nutzung, bei der Wärmenutzung, bei Kraftstoffen und bei der energetischen Nutzung. Darauf kommt es in den nächsten Jahren an.

   Auch an einem Tag wie heute sage ich: Das ist nicht nur eine Chance für Arbeitsplätze, für neue Technologien und für neue Entwicklungen, sondern auch für die internationale Sicherheit und für den Weltfrieden. Die alte Faustregel der Ungerechtigkeit „20 Prozent der Weltbevölkerung verbrauchen 80 Prozent der Rohstoffe“ stimmt nicht mehr. Heute sind es 50 Prozent der Weltbevölkerung, die 50 Prozent der Rohstoffe verbrauchen. Durch China, Indien, Brasilien, Russland und dergleichen hat sich etwas verändert. Es gibt einen Kampf um die Rohstoffe.

   Wer heute dafür sorgt, dass wir von Erdöl auf nachwachsende Rohstoffe umsteigen und dass wir uns von der Abhängigkeit vom Erdöl befreien, der tut etwas dafür, den Weltfrieden zu erhalten. Krieg wird uns keine neuen Ölquellen sichern. Wir haben in der Geschichte die bittere Erfahrung gemacht, dass Kämpfe um Rohstoffe im Grunde genommen nur sehr viel Zerstörung dessen, was man eigentlich bekommen möchte, hinterlassen. Das sollten wir uns heute vielleicht merken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat der Kollege Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.

Rainer Brüderle (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Alle Redner haben betont, dass es nach einer so bewegenden Gedenkstunde schwer fällt, eine normale Wirtschaftsdebatte zu führen. Vielleicht ist das für den Ältestenrat eine Anregung, bei zukünftigen Terminplanungen ein Stück mehr Distanz zwischen einer solchen Gedenkstunde und „business as usual“ zu schaffen. Ich glaube, so, wie es heute läuft, ist es nicht gut.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Minister Clement, Sie haben Recht: Auch in einer solchen Gedenkstunde wird uns als Demokraten einmal mehr drastisch vor Augen geführt, wie wichtig eine bessere wirtschaftliche Entwicklung ist. Wir brauchen mehr Wachstum, wir brauchen mehr Arbeitsplätze und wir brauchen mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, um radikalen politischen Kräften in Deutschland den Boden für ihre hinterhältige Agitation zu entziehen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Minister, Sie haben gestern im Kabinett den Jahreswirtschaftsbericht vorgestellt. Die Opposition hatte bis zur heutigen Parlamentsdebatte noch nicht einmal 24 Stunden Zeit, sich damit zu beschäftigen. Ich finde das nicht gut. Das gab es noch nie. Das ist kein guter Stil.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Natürlich müssen wir uns dazu äußern. Sie haben vorhin die ironische Bemerkung gemacht: Der Bericht ist zwar kaum bekannt, aber die Opposition äußert sich schon. Es ist doch unsere Aufgabe, sich zu äußern! Wir sind doch keine zu Ihrer Beweihräucherung bestellten Akklamateure.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Das hier ist der Deutsche Bundestag. Er muss sich mit den Schicksalsfragen dieses Landes beschäftigen. Deshalb gehört es sich, die notwendige Distanz zu schaffen, damit man sich mit dem Inhalt des Berichts, über den debattiert wird, beschäftigen kann. Es ist nicht gut, dass sich der Wirtschaftsausschuss erst nach der abschließenden Beratung im Plenum damit beschäftigt. Das sollten wir zukünftig nicht mehr machen.

   Es drängt sich ein bisschen der Eindruck auf, dass die Landtagswahl in Schleswig-Holstein da Regie geführt hat, so nach dem Motto: ruhige Hand, zweiter Teil. Sie scheuen den Realitätstest, Stichwort: Arbeitslosenzahlen im Januar. Diese Zahlen werden nicht gut sein. Sie lassen die Rekordzahlen aus Nürnberg einen Tag vor Fastnacht verkünden.

   Tatsache ist: Sie und diese Regierung stehen für die höchste Arbeitslosigkeit der Nachkriegszeit. Im letzten Jahreswirtschaftsbericht haben Sie großspurig angekündigt – ich zitiere –:

Die Zahl der Arbeitslosen wird 2004 um bis zu 100 000 unter dem Durchschnitt des Jahres 2003 liegen.

In Wahrheit ist die Durchschnittsarbeitslosigkeit weiter gestiegen. Noch nie waren im Jahresdurchschnitt so viele Menschen arbeitslos wie im Jahr 2004.

Sie erwarten für dieses Jahr einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die üblichen blumigen Versprechen zum Abbau der Arbeitslosigkeit helfen uns nicht weiter. Ihre Art, der Opposition Schlechtreden vorzuwerfen, ist sehr durchschaubar. Sie machen eine schlechte Wirtschaftspolitik. Das ist die Tatsache.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Wenn Sie der Opposition nicht glauben: Schauen Sie in den aktuellen „Spiegel“ hinein! Der „Spiegel“ hat ein Meinungsbild der Deutschen wiedergegeben. Erste Frage: Kann Grün-Rot die Wirtschaft ankurbeln? 74 Prozent sagen: Nein. Zweite Frage: Kann Grün-Rot die Rente sichern? 80 Prozent der Bevölkerung sagen: Nein. Dritte Frage: Kann Grün-Rot die Arbeitslosigkeit bekämpfen? 84 Prozent sagen: Nein. Das ist die Stimmung in Deutschland. Die Deutschen trauen Ihnen nichts zu. Daran ist auch Ihre verfehlte Politik schuld.

(Beifall bei der FDP – Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber Herr Brüderle kann das! – Hans Michelbach (CDU/CSU): Trotz der Propaganda von Herrn Clement!)

   Sie, Herr Clement, sind, wie ich hörte, Liebhaber von Trickfilmen. Ihr Lieblingstrick im letzten Jahr war das Wort Innovation. Mehr als eine Mickymaus ist bei dem so genannten Jahr der Innovation nicht herausgekommen. Kommen Sie bitte nicht mit dem Projekt Airbus! Dafür müssten Sie eher Franz Josef Strauß noch eine Kerze auf sein Grab stellen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Ansonsten ist außer Ankündigungen nichts gewesen. Zur Gentechnik hat der Kanzler gesagt – ich zitiere –: Die Technikskepsis schadet unserer Position auf dem Weltmarkt. – Er hat Recht. Sie verteidigen öffentlich die Stammzellenforschung. Sie haben Recht. Nur, das Handeln der Regierung ist ein anderes.

(Beifall bei der FDP – Wolfgang Clement, Bundesminister: Nein!)

   Grün-Rot hat ein Gentechnikverhinderungsgesetz verabschiedet. Frau Künast hat sich allen Ernstes auf eine Studie von 1940 über das Kreuzungsverhalten von Mais im Kaukasus berufen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und Sie haben die Handwerksordnung aus dem letzten Jahrhundert verteidigt!)

   Im Innovationsfeld Energie sieht es ähnlich aus. Ein energiepolitisches Konzept der Bundesregierung mit markwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die nächsten Jahrzehnte kenne ich nicht. Sie haben es im letzten Jahr angekündigt. Es ist immer noch nicht da.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Das soll aber jetzt kommen!)

   Ihre chaotische Energiepolitik erfüllt wettbewerbliche Maßstäbe nicht. Die Regulierung lädt die Konzerne geradezu ein, Preiserhöhungen vorzunehmen. Ein vernünftiger Rechtsrahmen fehlt bis zum heutigen Tag. Bei der roten Steinkohle und den grünen Windrädchen schaltet die Koalition den Preismechanismus durch Subvention aus. Aus purer Ideologie wird die Kernkraft verboten. Grün-Rot ist für die gigantische Fehlleitung von Kapital und Arbeitskraft verantwortlich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Sie sind auch für monopolistische Strukturen verantwortlich. Die Fusion von Eon und Ruhrgas liegt in Ihrer Verantwortung. Herr Müller und Herr Tacke lassen freundlich grüßen. Alles, was Sie da gemacht haben, war nicht in Ordnung.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Man kann doch nicht, wie es der Bundeskanzler getan hat, das Ansteigen der Gaspreise beklagen und gleichzeitig durch Entscheidung der Regierung monopolistische Strukturen zulassen. Das ist nicht redlich. Das ist Pharisäertum.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Bei Investitionen und Fortschritt stehen Sie auf der Bremse. Beim Schuldenmachen geben Sie Gas.

   Jetzt ist der europäische Stabilitätspakt dran. Das ist erneut ein Anschlag auf die Grundachsen deutscher Wirtschaftspolitik.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gerhard Schröder hat den Euro einmal als kränkelnde Frühgeburt bezeichnet. Sein Vorstoß zum Aufweichen des Stabilitätspakts darf nicht noch zu einer Spätabtreibung der Gemeinschaftswährung führen.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))

Ich kann nur warnen: Der Weg in eine Inflationsgemeinschaft endet in einer Renationalisierung der Geldpolitik und der Währungspolitik. Das kommt am Schluss dabei heraus.

   Um die Prinzipien der Wirtschaftspolitik geht es Ihnen schon lange nicht mehr richtig. Sie wollen mit neuen Schulden und mehr Inflation das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Nur, mehr Schulden zementieren die starren Strukturen. Übrigens frage ich Sie – diese Bundesregierung ist ja Schuldenmeister –: Wie viel Schulden bräuchten wir denn noch, damit die Wirtschaft in Gang kommt?

(Jürgen Koppelin (FDP): Gute Frage!)

Das war doch schon an der Obergrenze dessen, was verfassungsrechtlich überhaupt noch zulässig ist.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

Bei einer Staatsquote von fast 50 Prozent sind die Schulden von heute die Steuern von morgen.

Sie registrieren nicht, was sich draußen in der Welt tut. Ich rede nicht nur von Asien; ich habe es letzte Woche angesprochen. In Amerika ist man erneut dabei, einen Sprung in der Produktivität und Effizienz zu schaffen. Was Bush in seinem Konzept – am letzten Wochenende hat es eine große Sonntagszeitung unter dem Titel „Bush-Revolution“ dargestellt – als Ownership Society bezeichnet, das Reprivatisieren von Verantwortung, das Privatisieren sozialer Sicherungssysteme, des Gesundheitswesens, wird, wie schon bei Reagan – den haben Sie auch nicht gemocht, nur beschimpft –, erneut einen Schub an Wettbewerbsfähigkeit und Wettbewerbskraft geben. Wir dümpeln unverändert im Klein-Klein und sehen nicht, was sich draußen tut.

   Herr Clement, Sie sind gelernter Journalist. Sie denken eher in Schlagzeilen, weniger in strukturökonomischen Zusammenhängen. Als ich letzte Woche gesagt habe, das Wachstum sei eine Leihgabe der Weltwirtschaft, haben Sie sich breit über diese Aussage ausgelassen und sie moniert. Ich entgegne Ihnen mit einem Verweis auf die Überschrift des Sachverständigengutachtens: „Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland“. Auf Schlagzeilenniveau reduziert heißt das: außen hui, innen pfui. So wird das vielleicht auch für Sie verständlich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ohne einen Aufschwung in der ganzen übrigen Welt kommen wir nicht mehr auf die Beine. Früher war Deutschland das Land, das als Lokomotive Europa und die Weltwirtschaft mitgezogen hat. Heute sind wir dankbar, wenn Chinesen, Japaner und Amerikaner erfolgreich sind; denn so können wir unsere Produkte verkaufen. Ja, Sie haben Recht, wir haben gute Produkte. Wir haben fleißige und fähige Arbeitnehmer, gute Forscher und Wissenschaftler. Deshalb können wir draußen in der Welt viele Produkte gut verkaufen. Das zeigt sich an unseren Exporterfolgen. Aber wir schaffen es nicht, mehr von den gleichen guten Produkten, hergestellt von den gleichen guten Arbeitnehmern und Ingenieuren, in Deutschland abzusetzen, weil die Rahmenbedingungen für den Binnenmarkt nicht stimmen. Hierfür ist die nationale Ebene verantwortlich. Sie tragen dafür Verantwortung, dass von den gleichen guten Produkten in Deutschland nicht mehr abgesetzt werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

   Die Wirtschaftsweisen haben festgestellt, dass der Kern des Problems ist – ich teile das –, dass unser Potenzial- bzw. Trendwachstum zu gering ist. Der Sachverständigenrat sagt:

Die Ursachen liegen in binnenwirtschaftlichen Fehlentwicklungen und Versäumnissen.

Mit anderen Worten: Grün-Rot trägt die Hauptverantwortung für die Wachstums- und Beschäftigungsprobleme.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Vereinigten Staaten haben ein Wachstumspotenzial, das über 3 Prozent liegt. In Deutschland liegt das Wachstumspotenzial bei 1 bis 1,5 Prozent. Selbst wenn ich die von Ihnen vertretene optimistische Variante – mit Ihrer Prognose liegen Sie sicherlich am oberen Rand aller Prognosen – nehme, schöpfen Sie gerade einmal dieses Potenzial aus. Das ist dann schon die Spitze des grün-roten Booms. Aber auch die Bundesbank geht davon aus, dass die Beschäftigungsschwelle unverändert bei knapp 2 Prozent liegt.

(Dirk Niebel (FDP): Im Gegensatz zum Minister!)

Gestern hat deren Präsident, Herr Professor Weber, hier dargelegt, dass die Beschäftigungsschwelle bei etwa 1,9 Prozent liegt. Bei 1,6 Prozent Wachstum wird die Beschäftigungsschwelle nicht überschritten und gibt es keine Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die wir so dringend brauchen. Da liegen also die Probleme.

   Weshalb ist das Potenzialwachstum also so schwach? Wachstumsmöglichkeiten steigen, wenn wir Steuern senken. Sie aber machen das Gegenteil. Frau Simonis macht Wahlkampf mit der Propagierung eines Steuererhöhungspaketes in einem Umfang von 20 Milliarden Euro.

(Beifall bei der FDP)

Die Mehrwertsteuer will sie erhöhen. Sie, Herr Minister, widersprechen nicht öffentlich, Herr Eichel widerspricht nicht öffentlich, Herr Müntefering widerspricht nicht und lässt diesen Unsinn weiter laufen.

   Wachstumsmöglichkeiten steigen, wenn es auf dem Arbeitsmarkt mehr Flexibilität gibt. Aber da ändert sich ja nichts. Das Kartell wird nicht aufgebrochen. Weshalb lassen Sie nicht betriebliche Bündnisse der Arbeitnehmer mit ihren Unternehmensleitungen ohne Genehmigung der Kartellbrüder zu? Freiheit auch für die Arbeitnehmer im Betrieb und weniger Kartellierung und Zementierung von Machtpositionen!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wachstumsmöglichkeiten steigen, wenn wir mehr arbeiten. Das hat ja das letzte Jahr gezeigt. Wir hatten vier Feiertage weniger und plötzlich über 0,5 Prozent mehr Wachstum. Es ist eine Illusion, zu glauben, eine 35-Stunden-Woche bringe mehr. Sie sind Jahr und Tag zusammen mit der IG Metall zur Erreichung dieses Ziels marschiert. Nichts hat das gebracht. Das hat Arbeitsplätze zerstört.

   Wir müssen die paritätische Mitbestimmung modernisieren, da sie ein Standortnachteil ist.

   Wir müssen uns darum bemühen, die Entscheidungszentralen der Wirtschaft in Deutschland zu behalten. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass, wenn abgebaut wird, zuerst an den Außenstellen abgebaut wird und nicht am Sitz des Unternehmens. Deshalb müssen wir uns bemühen, die Unternehmenssitze in Deutschland zu halten.

   Seit der EU-Erweiterung gibt es Länder mit einer Flat Tax, mit einer Finalbesteuerung von unter 20 Prozent, im gemeinsamen europäischen Markt. In Ländern wie Polen liegen die Arbeitskosten bei Facharbeitern um den Faktor zehn niedriger als in Deutschland. In diesem Wettbewerb können wir nur bestehen, wenn wir durch mehr Leistung, intelligentere Konzepte und mehr Effizienz gegenhalten.

Noch ein Beispiel: Ihre Regelungen zum Ladenschluss. Sie wollen Bürokratie abbauen. Der Bundesrat hat nach dem Verfassungsgerichtsurteil einstimmig gefordert – also auch Ihre Gesinnungsfreunde waren daran beteiligt –, dass den Ländern die Möglichkeit gegeben wird, eigenständig über den Ladenschluss zu entscheiden. Wo ist da der große Bürokratieabbauer, der selbsternannte Siegfried, der das Monster „Bürokratie“ besiegen will?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Er sagt nichts. Er schweigt, weil die Gewerkschaften dagegen sind. Geben Sie den Ländern die Möglichkeit, im Rahmen des Wettbewerbsföderalismus die Entscheidung selbst zu treffen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn sie wissen besser, was für Bayern oder Hamburg gut ist. Lasst sie so machen, wie sie es im Bundesrat einstimmig gefordert haben, und ihre eigene Entscheidung treffen.

   Wachstumsmöglichkeiten steigen auch, wenn es dem Mittelstand gut geht. Sie aber machen gerade mit der Umwidmung eines Teils des ERP-Sondervermögens Fördermöglichkeiten für den Mittelstand zunichte. Das ist keine gute Basis, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Wir brauchen keine oberflächliche Politik, sondern mehr Grundsatztreue. Wir müssen die Grundachsen der deutschen Wirtschaftspolitik in Ordnung bringen.

   Das Land ist gut und stark. Es hat eine bessere Rahmensetzung verdient, als Sie sie ihm bisher gegeben haben.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was für ein Geschwätz! – Dr. Uwe Küster (SPD): Eine wunderbare Probe für die Rosenmontagsrede! Brüderle Alaaf! – Gegenruf des Abg. Hans Michelbach (CDU/CSU): Was soll das denn?)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ludwig Stiegler.

Ludwig Stiegler (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon seltsam, dass Sie, Herr Brüderle, unsere im Vergleich zu den Amerikanern minimale Verschuldung lauthals geißeln, aber die exzessive Verschuldung der Amerikaner einfach ignorieren und auch noch sagen: Nehmt euch daran ein Beispiel!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist wirklich eine gehobene Form der Bewusstseinsspaltung. Ich möchte nicht wissen, wie Sie reagieren würden, wenn wir in dieser Lage wären.

   Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben letztes Jahr durch Wolfgang Clement ankündigen lassen,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Lassen!)

dass wir den Aufschwung in Gang setzen. Am Ende des Jahres 2004 konnte er im Gegensatz zu Herrn Merz, der damals das Gegenteil vorausgesagt hatte, zusammen mit dem Sachverständigenrat feststellen: Er ist in Bewegung gekommen.

(Hans Michelbach (CDU/CSU): Viel Propaganda!)

Wenn er so gehandelt hätte wie Sie, also immer nur gezaudert, gezögert und gestritten hätte, dann wären wir keinen Millimeter vorangekommen. Was wollten Sie – etwa bei Hartz IV – nicht alles vertagen! Der Clement ist gestanden wie eine Eins. Er wurde jetzt vom Erfolg belohnt. Sie können Ihren Erfolg an den Umfragen ablesen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wo ist Ihr Erfolg?)

   Ich danke ausdrücklich auch Hans Eichel.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wo ist Eichel eigentlich?)

Unsere Finanzpolitiker haben die eingebauten Stabilisatoren wirken lassen. Wären wir Ihnen gefolgt, wäre der Aufschwung abgewürgt worden. Deshalb ein herzlicher Dank ausdrücklich auch an unsere Finanz- und Haushaltspolitiker.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Der Aufschwung ist noch im Ankündigungsstadium!)

   Ich freue mich, dass sich auch in der Europäischen Union hinsichtlich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes etwas tut. Sie haben in Oberbuchhaltermentalität nur Zahlen zusammengerechnet und Prozentzahlen gewogen, während die Wirtschaftspolitik ihr Recht wieder bekommt. Es war ausgerechnet Herr Regling, der Ihrem Lager zuzurechnen ist, der gestern bei einer Veranstaltung der Bundesbank deutlich gemacht hat, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt strikt eingehalten und voll angewendet wird und dass insbesondere bei der jahresmäßigen Verteilung auf die besonderen Leistungen der Deutschen in Bezug auf die deutsche Einheit Rücksicht genommen wird. Das ist der richtige Weg, den wir miteinander einzuschlagen haben.

(Beifall bei der SPD)

   Ich danke Wolfgang Clement ausdrücklich auch für das, was er für den Ausbildungspakt geleistet hat. Dieser Pakt, Herr Pofalla, hat über 50 000 neue Ausbildungsplätze gebracht. Mit der von Ihnen vorgeschlagenen Sozialabbauorgie hätte sich die Situation nur verschlechtert.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Manche reden so leichthin gegen unsere weltwirtschaftlichen Erfolge. Walther Rathenau hat einmal geschrieben: Die Wirtschaft ist unser Schicksal. Helmut Schmidt hat geschrieben: Die Weltwirtschaft ist unser Schicksal.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt seid ihr es!)

Deshalb ist es eine Freude und ein Grund zum Jubeln, dass die deutsche Wirtschaft weltweit so gut aufgestellt ist.

(Lachen des Abg. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU))

Lasst uns alles tun, dass es auch in Zukunft so bleibt. Weil wir nur ein relativ kleines Land sind – unser Land ist nicht viel größer als ein chinesischer Kanton –, sollten wir unsere weltwirtschaftlichen Leistungen ausbauen und verteidigen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Lasst uns daran arbeiten – wir haben jetzt auf einer Achse einen Antrieb der Konjunktur gehabt –, dass wir nächstes Jahr in der Binnenwirtschaft den Allradantrieb bekommen! Dazu sind hier die Voraussetzungen geschaffen worden. Wenn Sie eine solche Steuerreform hingebracht hätten, wie wir das getan haben, würden Sie jubeln und Feste feiern. Dagegen wäre der Tanz um das Goldene Kalb im Alten Testament ein kleiner Event gewesen. Sie haben nichts zustande gebracht. Wir haben das zustande gebracht.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Stiegler hat einen Kolbenfresser!)

   Das Verbrauchervertrauen und auch die Bereitschaft zu langfristigen Anschaffungen sind insgesamt wieder gestiegen. Das Wichtigste ist, dass die Investitionen in Gang kommen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist, dass wir die Kommunen wieder handlungsfähig gemacht haben.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Wer hat sich denn für die Kommunen bei Hartz IV eingesetzt? Sie doch nicht!)

Nach hartem Ringen mit Ihnen, die Sie im Bremserhäuschen saßen, haben Joachim Poß und seine Truppe mit der Gewerbesteuerreform die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Städte und Gemeinden wieder beginnen können, an Investitionen zu denken. Das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Traumtänzer! Das ist doch gar nicht wahr!)

Mit der Hartz-IV-Reform wird in diesem Zusammenhang ein zweiter Teil umgesetzt. Gerade in Baden-Württemberg sind die Kommunen wieder investitionsfähig geworden, wenn das auch noch nicht in allen Ländern der Fall ist. Eine der Hauptaufgaben ist, dass wir die Städte und Gemeinden wieder voranbringen.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ausgeplündert habt ihr sie!)

   Wir haben es erreicht, dass sich die großen Unternehmen entschuldet haben und dass bei den großen Unternehmen inzwischen wieder Voraussetzungen für Investitionen gegeben sind. Wir sind dabei, den kleinen und mittleren Unternehmen wieder die Möglichkeit zu geben zu investieren. Es ist eine Freude, dass die großen Banken wieder den Mittelstand entdecken. Ich war kürzlich in Mannheim; da hat ausgerechnet die Deutsche Bank ihre Räume für einen Mittelstandsempfang zur Verfügung gestellt.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ist ja gewaltig!)

Die Commerzbank hat sogar wieder angefangen, einen Vorstand für kleine und mittlere Unternehmen einzurichten. Die wahre Wachstumsbremse war, dass viele kleine und mittlere Unternehmen von Banken erdrosselt worden sind, die an der Londoner Börse und anderswo große Teile ihres Kapitals verspekuliert hatten und den Mittelstand hinterher mit einer Überrisikosensibilität erdrosselt haben.

   Mit der Mittelstandsbank des Bundes haben wir wieder die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Existenzgründer, aber auch kleine und mittlere Unternehmen wieder investieren können. Lasst uns an diesem Projekt weiterarbeiten! Das ist die Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben auch beim Aufbau Ost – dazu habe ich von Herrn Pofalla nichts gehört; das wird immer wieder weggewischt – einiges erreicht. Der Sachverständigenrat hat allen Schwadroneuren mit ihren Forderungen nach Sonderwirtschaftszonen das Notwendige ins Stammbuch geschrieben. Wir werden mit den Ländern Schritt für Schritt daran arbeiten, dass die Investitionspotenziale genutzt werden. Ob Rolls-Royce, Lufthansa Technik, DHL in Leipzig, Airbus Deutschland oder Rapid Eye usw., es gibt im Osten Erfolge. Darauf sollten wir gemeinsam stolz sein.

(Beifall bei der SPD)

   Ich sage für unsere Fraktion: Wir haben um die Fortführung der Gemeinschaftsaufgabe Ost wirklich gekämpft. Unsere These war immer: Es darf im Osten keine Investition am Mangel an Fördermitteln scheitern.

(Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster (SPD))

Das haben wir Herrn Milbradt anlässlich der letzten Debatte so entgegengehalten. Wir haben die Gemeinschaftsaufgabe zusammen mit unseren Haushältern erhalten.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nein! Falsch!)

Es wird im Osten keine Investition an fehlenden Fördermitteln scheitern. Wir halten an der Gemeinschaftsaufgabe fest.

   Ich sage für unsere Fraktion auch: Wir teilen die Auffassung des Sachverständigenrates, die I-Zulage abzuschaffen, nicht. Wir meinen, alle Chancen sollten genutzt werden, damit sich die Situation verbessert.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Pofalla hat hier die alten Merz-Reden wieder hervorgeholt. Er hat ja fast so begonnen. Aber wo sind denn Ihre Helden? Letztes Jahr ist Friedrich Merz hier noch wie das Krokodil am Nil aufgetreten. Jetzt ist er fort; jetzt hat er seinen Bierdeckel abgegeben und ist verschwunden.

(Dirk Niebel (FDP): Wo ist denn eigentlich Lafontaine abgeblieben?)

Wo ist der Held Horst Seehofer?

(Zurufe von der CDU/CSU: Hier ist er! – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Sie haben es auf den Augen!)

Als er mit Ede, dem Wolf, streiten sollte, hat er Zahnweh bekommen und hat aus dem Blätterwald gezischelt. Das sind mir die wahren Helden!

(Beifall bei der SPD)

Herr Pofalla, Sie sind mir vorgekommen wie der schneidige Merz: nur Anklagen, keine eigenen Rezepte, nur der alte Krampf. Sie tun mir fast Leid. Wenn so ein junger Kerl wie Sie bei dem Begriff „Schaukel“ an „Verschaukeln“ denkt, dann muss ihn die Sozialisation in der CDU schon ziemlich ruiniert haben. Er nimmt gar nicht mehr wahr, dass für jeden normal sozialisierten Menschen eine Schaukel die Metapher für Schwung und Lebensfreude ist und dass man allenfalls die Bremse nach oben braucht. Sie sind in diesem Bereich ein armer Kerl.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Sie haben hier auch über das Wachstumspotenzial schwadroniert. Herr Brüderle hat von den Amerikanern geredet, wohl wissend, dass es dort ein irres Potenzial an Bevölkerungszuwachs gibt. Viel Wenig ergibt eben doch mehr. Unsere Bundesregierung setzt mit ihrem Innovationsprogramm, mit Forschung und Entwicklung auf die Qualität des Wachstums und auf Dynamik, damit wir in einer älter werdenden Gesellschaft mit einem schrumpfenden Arbeitskräfteangebot ein höheres Wachstumspotenzial haben. Herr Brüderle, das sollten Sie als alter Liberaler eigentlich begeistert mitmachen, anstatt herumzumäkeln. Ihre Lust, Herrn Clement am Zeug zu flicken, hat Sie aber wieder einmal in die Irre geleitet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Auch Sie wissen, Herr Brüderle, dass unsere Wachstumswerte, verglichen mit dem EU-Durchschnitt, gesunken sind. Ich empfehle Ihnen die Lektüre des Gutachtens des Sachverständigenrats aus dem Jahr 2002. Darin steht, dass es die Herstellung der deutschen Einheit – eine Leistung der Deutschen – ist, die unsere Wachstumswerte vorübergehend belastet.

   Herr Pofalla, Ihre Vergangenheitsbetrachtungen können Sie sich schenken.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das geht Sie gar nichts an!)

Norbert Blüm hat kürzlich gesagt: Ich habe an einem so genannten Beschäftigungsförderungsgesetz mitgewirkt. Auf die Arbeitsplätze warte ich heute noch. – So Norbert Blüm, Ihr „Täter“ von damals, der dieses Gesetz mit beschließen musste. Hören Sie auf mit dem alten Krampf! Lasst uns neue Wege gehen und dem Mittelstand helfen, indem wir durch Investitionen und Existenzgründungen wieder breitflächig zu Wachstum und Beschäftigung beitragen.

   Danke.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans Michelbach (CDU/CSU): Das ist ja eine Kampfansage an den Mittelstand!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dagmar Wöhrl.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans Michelbach (CDU/CSU): Jetzt kommt was zur Sache!)

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und lieben Kollegen! Lieber Kollege Stiegler, wir hören es schon gern, allein uns fehlt der Glaube an das, was Sie hier alles erzählt haben.

(Ludwig Stiegler (SPD): Die Zukunft gehört den Glaubenden und nicht den Zweiflern!)

   Ich finde es schon fantastisch, wie Sie dargestellt haben, was im Jahreswirtschaftsbericht über den Osten steht. Sie scheinen aber einige Passagen überlesen zu haben. Ich habe es mir eben noch einmal angeschaut: bei den Fördermitteln beträchtliche Mängel, kein Königsweg in Sicht, kein Aufholprozess, Diskussion über Sonderwirtschaftszonen unergiebig usw. Das ist ein total negatives Zeugnis über Ihre Ostpolitik. Sie können deshalb hier nicht einfach sagen, wie toll es ist, dass alles in den richtigen Bahnen läuft. Mit Ihnen läuft nichts in den richtigen Bahnen, vor allem nicht im Osten, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

   Sie alle wissen, dass wir das Einstein-Jahr haben. Uns sollte eigentlich bewusst sein, wie wichtig Fantasie und Kreativität sind. Einstein hat einmal gesagt, Fantasie sei wichtiger als Wissen. Wenn ich mir Ihren Jahreswirtschaftsbericht anschaue, habe ich fast das Gefühl, dass Sie diesen Gedanken vollkommen missverstanden haben. Es ist kaum zu glauben, was für ein Fantasieprodukt Sie uns hier vorgelegt haben. Es lässt jeden Bezug zur Realität vermissen. Gut, wir sind es inzwischen gewohnt und werden langsam resistent gegen Ihre geschönten Zahlen und die Verharmlosung der Risiken. Es scheint inzwischen zur Tradition geworden zu sein, uns mit zuversichtlichen Prognosen und unverbindlichen Aussagen hinzuhalten.

Mit Ihrer Konjunkturprognose von 1,6 Prozent stehen Sie inzwischen ziemlich allein da; das muss man einmal klar und deutlich sagen. Sogar der designierte Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, sieht das skeptisch. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognosen nach unten korrigiert: auf nur noch 0,8, allerhöchstens auf 1,2 Prozent. Was interessant ist: Ihr eigener Haushaltsplan geht von 1,7 Prozent aus. Das müssen Sie mir schon erklären; dazu ist nichts gesagt worden. Das heißt, Sie müssen eigentlich mit weniger Steuereinnahmen und damit rechnen, dass Sie mehr Ausgaben im Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt haben. Wie Sie diese Finanzierungslücke, die sich aus Ihren eigenen Prognosen ergibt – einmal des Finanzressorts, das andere Mal des Wirtschaftsressorts –, schließen wollen, haben Sie nicht dargelegt.

   Als ganz großes Manko empfinde ich in diesem Jahreswirtschaftsbericht, dass jegliche Visionen fehlen. Wir sind in wirtschaftlich schweren Zeiten; das ist überhaupt keine Frage. Wir leben auch nicht mehr in der Zeit des Wirtschaftswunders. Außerdem haben wir die Folgen der Wiedervereinigung zu schultern. Sie müssten aber sagen, wie Sie das angehen wollen. Wo sind die Konzepte? Wo sind Ihre Strategien? Wie wollen Sie hier wieder Arbeitsplätze schaffen? Wie wollen Sie den Standort Deutschland nach vorn bringen? Dazu vermisse ich im Jahreswirtschaftsbericht jegliche Aussage.

   Richtig ist, wenn Sie schreiben: Das geschieht über Beschäftigung und über Wachstum. Das ist vollkommen richtig. Volltreffer, könnte man sagen. Aber Sie stellen nicht dar, wie es zu mehr Wachstum kommen soll und welche Reformen Sie zukünftig in Angriff nehmen wollen. Sie sagen zwar: Die Reformanstrengungen des Jahres 2003 haben sich gelohnt; endlich bewegt man sich nach vorn. Es ist richtig, dass Sie Reformen in Angriff genommen haben – das will ich gar nicht leugnen –, auch unter unserer Mithilfe. Dass es unsere Mithilfe bei Hartz IV gegeben hat, können Sie nicht bestreiten. Aber mit Hartz IV werden keine Arbeitsplätze geschaffen.

(Dirk Niebel (FDP): Das ist wahr!)

Mit Hartz IV soll dazu beigetragen werden, dass die Vermittlung besser funktioniert. Aber von den Gesetzen, die Sie ansonsten auf den Weg gebracht haben, war keines wachstumsorientiert. Alle sonstigen Gesetze und Reformen haben im Gegenteil noch mehr Auflagen, noch mehr Bürokratie und noch mehr Hemmnisse gebracht. Das kann man auch beim Antidiskriminierungsgesetz, Ihrem letzten Gesellenstück, sehen.

   Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün, im Jahreswirtschaftsbericht ist vom Anspringen der Inlandsnachfrage und des privaten Konsums die Rede. Lassen wir einmal das Prinzip Hoffnung außer Acht!

(Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

Sie wissen ganz genau, dass das nur dann eintreten wird, wenn auch wieder Investitionen getätigt werden, übrigens auch Investitionen des Staates, des Bundes, Herr Stiegler. Wie schaut es denn in dieser Beziehung beim Bund aus? In Ihrer Regierungszeit gab es allein 5 Milliarden Euro Investitionen weniger. Das heißt, es wird gespart bei der Straße, bei der Schiene, überall, also bei der Infrastruktur – das hat auch der Minister angesprochen –, die für die Wirtschaft wichtig ist. Unsere Infrastruktur ist immer ein Standortvorteil gewesen. Diese vernachlässigen Sie vehement. Wenn im Bereich der Unternehmen nicht investiert wird, dann fehlen Bürogebäude oder Fabrikgebäude und man braucht sich nicht darüber zu wundern, wenn in der Bauindustrie im letzten Jahr 75 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind und in diesem Jahr voraussichtlich 50 000 Arbeitsplätze verloren gehen werden.

   Jetzt haben Sie ein ganz neues Feld entdeckt. Anstatt wachstumsorientierte Reformen anzugehen, ist es bei Ihnen zu einer seltsamen Mutation gekommen. Früher hat Ihr Kanzler gesagt: Wir machen keine Programme zulasten unserer Kinder und Kindeskinder. – Richtig! Dafür haben Sie auch unseren Beifall bekommen. Jetzt heißt es: Kurzfristig können staatliche Maßnahmen zur Anhebung des Wachstumspotenzials wichtiger sein als Konsolidierung. Das heißt: Bei Ihnen ist Sparen out und Schuldenmachen in. Sie wollen Wachstum nur noch auf einem Weg erreichen: auf Pump, Pump, Pump.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Brüderle (FDP))

Es ist eine verantwortungslose Politik, die Sie machen. Wir geben schon jetzt ein Sechstel des Bundeshaushalts nur für Zinsen aus. Dabei wissen Sie ganz genau, dass die Zinsen bei uns nicht auf dem niedrigen Stand bleiben werden, auf dem sie momentan sind, und dass diese Zinsen gezahlt werden müssen. Dabei habe ich von der Tilgung noch gar nicht gesprochen. Sie werden das nicht mehr zurückzahlen müssen, aber unsere Kinder und Enkel.

(Zuruf des Abg. Florian Pronold (SPD))

Deswegen ist die Politik, die Sie machen, das Verantwortungsloseste, was ich in diesem Bereich je erlebt habe.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Anstatt Maßnahmen für die Nachfrageseite anzugehen und den Arbeitsmarkt aufzulockern, betonieren Sie ihn immer mehr zu. Aber selbst bei der Angebotsseite, meine Damen und Herren von Rot und Grün, funktioniert es nicht.

   Schauen wir uns doch einmal die Vermittlungstätigkeit der Bundesagentur an. Was ist denn passiert? Wir hatten 2004 gerade noch 446 000 Vermittlungen durch die Bundesagentur, 44 Prozent weniger als im Jahr 2002. Das bedeutet, dass es pro Monat durchschnittlich nur 1,4 erfolgreiche Vermittlungen auf regulär nicht geförderte Stellen gab. Das ist doch ein Musterbeispiel von Ineffizienz. Von 90 000 Mitarbeitern der Bundesagentur sind nur 12 000 für die Vermittlung eingesetzt. Diese Zahl wird inzwischen weiter reduziert. Hier ist also Reformbedarf angesagt. Damit will ich nicht die Mitarbeiter der Bundesagentur oder deren Führung angreifen, sondern die Regierung, die die Riesenadministration von Hartz IV auf die Bundesagentur übertragen und sie damit sozusagen zu einem zweiten Bundessozialamt gemacht hat, dabei aber nicht daran gedacht hat, dass dies alles voll auf Kosten der Vermittlungstätigkeit geht.

   Sie haben die Arbeitslosenzahlen angesprochen. Lassen Sie uns doch die Statistiken anschauen. Sie weiten den staatlich geförderten Beschäftigungsbereich permanent aus; aber damit lösen Sie keine Probleme. Kein einziges Problem wird dadurch gelöst, dass Leute irgendwo geparkt sind; denn anschließend stehen sie doch wieder auf der Straße und suchen Arbeitsplätze. Sie wissen ganz genau, dass wir noch Hunderttausende Arbeitslose mehr hätten, wenn Sie die Statistik nicht geändert hätten: Die 1EuroJobs fallen heraus, die Trainingsmaßnahmen fallen heraus usw. Ich will gar nicht näher auf diesen Bereich eingehen.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wissen ganz genau, dass die ehemals Nichtregistrierten in die Statistik eingehen!)

Wenn jetzt noch die neue Bewertung nach ILO kommen und ab 1. März eine monatliche Statistik erstellt werden wird – liebe Kollegin Dückert, Sie wissen es ganz genau – und dadurch nur derjenige, der weniger als eine Stunde die Woche arbeitet, als arbeitslos gelten wird, dann werden künftig 700 000 Arbeitslose aus dieser Statistik herausfallen. Mit diesen Gegebenheiten werden Sie sich dann auseinandersetzen müssen. Dabei nützen uns die geschönten Zahlen, die Sie uns vorlegen, überhaupt nichts.

   Unser Ticket für die zukünftige Entstehung von Arbeitsplätzen ist Innovation.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das haben wir letztes Jahr schon gesagt! Willkommen im Klub!)

– Sie haben das Jahr 2004 zum Jahr der Innovation ausgerufen, aber dabei ist es leider auch geblieben, lieber Kollege Stiegler.

(Ludwig Stiegler (SPD): Aber wir haben ein Jahr früher angefangen! – Hans Michelbach (CDU/CSU): Nur Propaganda!)

Allein in den letzten Jahren haben wir 3 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie verloren. Wir haben eine schleichende Deindustrialisierung; das dürfen wir nicht wegwischen. Das müssen wir bedenken, wenn wir Wirtschaftspolitik machen.

(Florian Pronold (SPD): Sie sollten wirklich denken, bevor Sie Wirtschaftspolitik machen!)

Das ist eine Zeitbombe, auf der wir sitzen; denn was in diesem Bereich nicht produziert und nicht verdient wird, fehlt natürlich auf der anderen Seite als Nachfrage beim Handel, beim Handwerk und bei Dienstleistungen. Auf diese Weise werden wir keine neuen Arbeitsplätze schaffen, sondern sie zukünftig vernichten.

   Früher waren wir in allen Spitzentechnologien Pionier. Woher kommen jetzt die Flachbildschirme und die Digitalkameras? Sie kommen aus dem Fernen Osten. Früher waren wir die Apotheke der Welt; jetzt sind wir auf Platz fünf abgerutscht, hinter den USA, Japan, England und Frankreich.

(Ludwig Stiegler (SPD): Jetzt klagen Sie die Unternehmer heftig an!)

   Kollege Brüderle hat die Gentechnik angesprochen, eine für die Zukunft sehr wichtige Schlüsseltechnologie. Aber Ihre Novelle des Gentechnikgesetzes erschwert die Anwendung der Grünen Gentechnik und treibt diese Schlüsseltechnologie ins Ausland.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die ersten Konzerne haben schon angekündigt, ihre Forschung ins Ausland zu verlagern. Ist sie erst einmal weg, wird sie nicht mehr zurückkommen. Dessen können Sie ganz sicher sein. Wir werden dahin kommen, dass wir alle gentechnisch veränderten Produkte, die im Ausland erforscht, entwickelt, angebaut und zur Marktreife gebracht worden sind, hier in Deutschland nur noch konsumieren.

   Eine Zeitung hat es vor kurzem sehr treffend angemerkt: Deutschland scheint vom Land der Pioniere, das wir einmal gewesen sind, zur Provinz der Endabnehmer zu werden. Das kann man angesichts der Politik, die Sie hier auf den Weg bringen, nur unterstreichen.

   Herr Minister, in Ihrem Ministerium wird es hinter vorgehaltener Hand ebenfalls gesagt: Das ist eine Spielwiese für die Grünen, eine Spielwiese für die Ökopartei, damit sie sich bei ihrer Klientel profilieren kann.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Es ist keine Ökopartei! Das ist eine Bettvorlegerpartei!)

Leider wird hier aber nicht gesehen, dass dies dem Standort schadet.

Wir müssen uns darum bemühen, vor allem auf dem Gebiet der Innovationen wieder nach vorn zu kommen. In Bezug auf Patentanmeldungen sind wir gut; vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen liegen hier an der Spitze. Auch müssen wir neue Produkte schnell auf den Markt bringen. Hier sind wir langsamer als alle anderen Länder.

(Ludwig Stiegler (SPD): Welche Kritik an der deutschen Industrie! Reden Sie mal mit den Managern!)

Deswegen haben viele andere Länder immer die Nase vorn. Hier müssen wir einen sehr schwierigen Aufholprozess bewältigen. Wir müssen in diesem Bereich besser werden, die Eigenverantwortung unserer Hochschulen stärken und, indem wir die entsprechenden Rahmenbedingungen setzen, dafür sorgen, dass Hochschulen und Wirtschaft noch intensiver zusammenarbeiten.

   Erfreut habe ich zur Kenntnis genommen, dass endlich auch der Energiepolitik in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht breiterer Raum gegeben worden ist. Endlich haben Sie erkannt, dass Energiepolitik Standortpolitik und Wirtschaftspolitik ist; darüber sind wir froh. Aber die Energiepreise – einen der wichtigsten Aspekte – haben Sie in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht mit keinem einzigen Wort erwähnt.

   Sie hatten nicht einmal den Mut, Ihre Preistreiberei zu begründen und zu sagen, warum Sie die Staatsabgaben auf die Energiepreise seit 1998 um 10 Milliarden Euro erhöht haben. Kollege Stiegler, das könnte man als Subvention bezeichnen, da die Verbraucher diese Umlage zahlen müssen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):

Sie vergessen, dass hiervon über 600 000 Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie betroffen sind. Herr Minister Clement, ich glaube, auch für die Aluminiumindustrie sind die hohen Energiepreise, die Sie zu verantworten haben, ein wichtiges Thema.

   Wir brauchen Vertrauen, um aus der Krise zu kommen. Das schaffen wir nur durch Wachstum, aber nicht durch ein Wachstum auf Pump. Sie müssen endlich die richtigen Richtungsentscheidungen treffen. Der Minister hat Anfang dieses Jahres gesagt: „Eine kräftige und nachhaltige Trendwende für den Arbeitsmarkt erwarte ich erst 2006.“ Das erwarten auch wir; denn dann werden wir wieder an der Regierung sein.

   In diesem Sinne bedanke ich mich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD – Dr. Uwe Küster (SPD): Das hat viel mit Glauben zu tun! – Ludwig Stiegler (SPD): Ihr Mann glaubt uns schon heute und investiert! – Weiterer Zuruf von der SPD: Die glaubenspolitische Sprecherin!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Pofalla, vorhin haben Sie in Ihrer ersten Rede, die Sie als Nachfolger von Herrn Merz gehalten haben, Ihre Enttäuschung über den Jahreswirtschaftsbericht zum Ausdruck gebracht. Ich muss Ihnen sagen: Als ich Ihre Rede gehört habe, war auch ich enttäuscht; denn Sie als neuer Stern am wirtschaftspolitischen Himmel der Union haben die Chance vertan, die Gelegenheit zu ergreifen, uns zu sagen, wohin es mit Ihrer Wirtschaftspolitik geht.

(Joachim Poß (SPD): Eine Sternschnuppe meinen Sie! Wie können Sie von „Stern“ sprechen?)

   Ich muss Ihnen zugute halten, dass Sie einiges gesagt und einen Zehnpunktepakt angeboten haben. Wenn man sich seinen Inhalt ernsthaft ansieht, wird die Enttäuschung wirklich grenzenlos.

(Dirk Niebel (FDP): Gut, Frau Lehrerin!)

Sie haben zehn Punkte vorgeschlagen, die von vorne bis hinten alter Wein in alten Schläuchen sind. Sie wollen zum Beispiel den Kündigungsschutz einschränken und die Tarifautonomie abbauen. Sie müssten mir übrigens einmal erklären, warum die Abschaffung von Betriebsärzten in kleinen Betrieben einen großen beschäftigungspolitischen Boom bringen soll.

   All dies haben Sie hier vorgetragen. Aber Sie haben sich in keinem einzigen Punkt Ihres Zehnpunktepaktes zu den Zukunftsfragen Innovation, Bildung und Investitionen geäußert. Ich verstehe das; denn Sie haben keine Begründung dafür, warum Sie, gerade was die notwendigen Investitionen in Bildung und ihre Finanzierung anbelangt – als Stichwort nenne ich die Eigenheimzulage –, auf der Bremse stehen.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Mit dem Thema Steinkohle können Sie auch noch anfangen! Das ist lächerlich!)

   Es gibt viele andere Punkte, zu denen Sie ebenfalls geschwiegen haben, und das angesichts einer Debatte, in der es um die Zukunft der wirtschaftlichen Entwicklung geht. Sie haben sich sogar verstiegen – so etwas habe ich von der Union überhaupt noch nicht gehört –, zu sagen, es sei schädlich, wenn Existenzgründerinnen und Existenzgründer in diesem Lande öffentliche Fördermittel erhielten.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das ist doch völliger Quatsch!)

Es tut mir wirklich Leid, Herr Pofalla, aber ich muss Ihnen sagen: Wir brauchen in Deutschland auch den Mut von Bürgerinnen und Bürgern zur Existenzgründung. Dabei helfen wir ihnen gerne. Ich bin froh, dass die Hilfe, die wir hier leisten, wirkt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

   Meine Damen und Herren, wer heute die Zeitung aufschlägt, kann die Überschrift lesen: „Deutsche Unternehmen starten optimistisch ins neue Jahr“. Das ist gut, weil es bestätigt, was im Jahreswirtschaftsbericht an vielen Stellen belegt ist. Wenn man sich vor diesem Hintergrund noch einmal die Rede von Herrn Pofalla zu Gemüte führt, muss man feststellen, dass Sie mit ihrer Negativ- und Schwarzmalerei der Situation der deutschen Wirtschaft wohl ziemlich einsam dastehen. Die Wirtschaft ist, gesamtwirtschaftlich gesehen, längst aus dem Jammertal heraus. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sitzen offenbar noch im politischen Jammertal.

(Beifall bei der SPD – Volker Kauder (CDU/CSU): Die Realität wird Sie einholen!)

– Die Realität, das sage ich Ihnen gerne, ist, dass die starken Branchen der deutschen Wirtschaft heute volle Auftragsbücher haben. Der Maschinenbau beispielsweise rechnet für 2005 mit Rekordumsätzen. „Made in Germany“ ist in dieser Branche, aber auch in anderen ein Label, auf das wir wirklich stolz sein können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das sind ja ganz neue Erfindungen!)

Sie reden das klein – auch die Entwicklung im Export –, Sie nehmen noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die Überschüsse im Export von Jahr zu Jahr zunehmen. Nein, Sie recyceln wieder diese abgestandene These der Basar-Ökonomie; sie ist für die deutsche Wirtschaft eigentlich nichts anderes als üble Nachrede.

(Beifall des Abg. Ludwig Stiegler (SPD))

   Die Achillesferse ist im Jahreswirtschaftsbericht genannt: die Binnenkonjunktur. Dort ist aber auch beschrieben, dass genau hier sehr positive Zeichen zu sehen sind. Der Wirtschaftsminister hat auch auf eine aktuelle Meldung von Klaus Wübbenhorst aus der Gesellschaft für Konsumforschung hingewiesen, der gerade heute noch einmal an ganz aktuellen Zahlen dargelegt hat, dass die Reformen positiv auf die Binnennachfrage, auf die Konsumnachfrage wirken und dass wir als Folge der jüngst umgesetzten letzten Stufe der Steuerreform bei der Konsumnachfrage vorankommen. Das ist die Situation: Die Daten und die Fakten in Deutschland zeigen deutlich, dass Sie Ihre Schwarzmalerei langsam einstellen sollten.

   Aber die Entwicklung zeigt auch – das sehen wir zum Beispiel am Arbeitsmarkt, auf dem es, wenn auch nur Schritt für Schritt, vorwärts geht –, dass wir die erfolgreichen Reformen, die in die richtige Richtung gehen, definitiv fortsetzen müssen, dass wir in den Reformanstrengungen nicht nachlassen dürfen. Der Minister hat hier eine zentrale Zielmarke in den Raum gestellt, die wir in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen müssen: Das Senken der Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist extrem wichtig für den Arbeitsmarkt, aber es ist auch ein extrem schwerer Schritt. Wir haben es in den letzten Jahren immerhin geschafft, den CDU-Trend der 90er-Jahre, steigende Lohnnebenkosten, zu stoppen und ein wenig umzukehren.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sehr wahr!)

   Eingedenk zentraler Rahmenbedingungen wie der schwierigen demographischen Entwicklung und im Sinne unserer politischen Zielsetzung, weiterhin belastbare, sichere soziale Sicherungssysteme zu haben, müssen wir jetzt mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme fortfahren. Das ist eine sehr schwere Aufgabe, deren Lösung noch einige Jahre dauern wird. Auch dazu, lieber Herr Pofalla, habe ich von Ihnen nichts gehört. Das ist auch gut so. Ich kann verstehen, dass Sie den CDU-Murks zur Reform der Krankenversicherung nicht vorgetragen haben. Ich kann auch verstehen, dass Sie sich zu den notwendigen Reformen, die jetzt zeitnah anstehen, etwa jener der Pflegeversicherung, nicht geäußert haben. Aber da, wo Sie sich geoutet haben, wo Sie einmal den Mut gehabt haben, über Ihre eigene Forderung nach Senkung der Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu sprechen, da war das, was Sie uns vorgetragen haben, wirklich traurig.

   Sie haben gesagt, wir sollten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung hier und sofort um 1,5 Prozent auf 5 Prozent senken. Sie haben aber nicht gesagt, wie Sie das finanzieren wollen bzw. wie Sie das Geld woanders einsparen wollen. Alle in diesem Saal wissen, warum Sie hier schweigen. Das ist nämlich exakt die Summe – etwa 20 Milliarden Euro –, die notwendigerweise in die aktive Arbeitsmarktpolitik gesteckt wird, um die Menschen, die viel zu lange arbeitslos waren, mithilfe von Qualifizierung, Umschulung, Lohnkostenzuschüssen oder auch den von Ihnen so beklagten Zuschüssen für Existenzgründungen wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen. Mit Ihrer Strategie, die Sie hier inhaltlich nicht aufbauen, kappen Sie für die Langzeitarbeitslosen die Brücken in den Arbeitsmarkt. Leider haben Sie nicht den Mut, das hier deutlich zu sagen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Die Arbeitslosigkeit ist während Ihrer Regierungszeit massiv gestiegen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, ich denke an die Zeit. – Eines möchte ich Ihnen noch sagen, weil Sie auch das hier bestritten haben: Die im Jahreswirtschaftsbericht belegten Indikatoren zeigen deutlich, dass die Reformen gewirkt haben. Die Schwarzarbeit ist definitiv zurückgegangen.

(Dirk Niebel (FDP): Jetzt fängt sie noch ein neues Thema an!)

Im europäischen Vergleich sind wir übrigens das einzige Land, das 2003 bei der Entwicklung der Schwarzarbeit einen Knick aufweisen kann.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Wer hat das denn ermittelt?)

Die Beschäftigtenzahlen steigen langsam, und zwar auch durch eine höhere Quote bei der Selbstständigkeit. Die Differenz zwischen Neugründungen und Insolvenzen ist positiv. Die Zahl der Neugründungen in diesem Land steigt weiter.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt zum Schlusssatz kommen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Nein!)

Wir haben noch vieles zu lösen,

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Das ist richtig! Ihr Abgang muss noch gelöst werden!)

zum Beispiel die Probleme mit den Hinterlassenschaften bei den Zuverdienstmöglichkeiten. Wir werden darangehen, die Brücken in den Arbeitsmarkt zu stärken.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ernst Hinsken.

(Dirk Niebel (FDP): Er darf jetzt aber auch länger reden!)

– Die FDP hat bisher am meisten überzogen, Herr Niebel.

Ernst Hinsken (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Dückert, Sie haben hier die Aussage getroffen, dass Kollege Pofalla in seiner Rede ständig schwarz gemalt habe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Damit liegen Sie weit daneben. Es war eine fulminante und richtungsweisende Rede,

(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe Küster (SPD): Herr Hinsken, das, was Sie hier machen, ist eine Nebenbeschäftigung!)

in der er vor allen Dingen aufgezeigt hat, welche Politik die Bundesrepublik Deutschland braucht, um in der Welt künftig besser dazustehen, um bei uns Arbeitsplätze zu sichern und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erreichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Uwe Küster (SPD): Na ja, da schüttelt es uns alle!)

   Verehrter Herr Minister Clement, im Geleitwort zum Jahreswirtschaftsbericht schreiben Sie unter anderem:

Die Bundesregierung trägt mit den Maßnahmen der Agenda 2010 dazu bei, dass der Investitionsstandort Deutschland attraktiv bleibt usw.
(Wolfgang Clement, Bundesminister: Ja!)

Das ist er aber nicht.

(Wolfgang Clement, Bundesminister: Doch!)

Wir brauchen deshalb keine Agenda 2010, sondern eine Agenda für 2005; denn in wenigen Wochen erreichen wir in der Bundesrepublik Deutschland mit ungefähr 5 Millionen Arbeitslosen die höchste Arbeitslosigkeit seit Bestehen der Republik. Hier können wir nicht weiter zusehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

   Wir verlieren jeden Tag über 1 000 Arbeitsplätze. Jeden Tag gehen weitere 100 Betriebe über die Wupper.

(Klaus Brandner (SPD): Haben Sie die gezählt?)

Jeden Tag wächst die Staatsverschuldung um 250 Millionen Euro. Jeden Tag zahlen die Bundesbürger über 100 Millionen Euro nur an Zinsen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Vor allem aus der Waigel-Zeit!)

– Herr Kollege Stiegler, nehmen Sie das einmal zur Kenntnis und seien Sie bereit, hier eine Umsteuerung vorzunehmen! – Jeden Tag zahlen die mittelständischen Betriebe 165 Millionen Euro Ökosteuer. Jeden Tag wächst die Bürokratie weiter. Des Weiteren ist anzuklagen, dass die Verschuldung der Bundesrepublik Deutschland allein seit 1998 um 13 Prozent gestiegen ist.

(Ludwig Stiegler (SPD): Zweidrittel aus der Waigel-Zeit!)

– Ich spreche von 1998 bis jetzt. – Von 1999 bis jetzt sind über 203 000 Unternehmen in Konkurs gegangen. Lassen Sie mich dazu einen Vergleich anstellen: In dem Zeitraum zwischen 1993 und 1998 haben 112 000 Unternehmen Konkurs angemeldet, also etwa die Hälfte. So weit sind wir schon gesunken. So weit haben Sie die Bundesrepublik Deutschland nach unten geritten. Das kann so nicht weitergehen. Wir wollen umsteuern. Deshalb bringen wir Konzepte ein, die in die richtige Richtung weisen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Allein im letzten Jahr sind über 400 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Seit 1998 ist die Zahl der versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse um 1,4 Millionen gesunken. Dafür brauchen Sie sich nicht zu rühmen. Unser Wirtschaftswachstum ist das niedrigste in der Europäischen Union. Allein das Handwerk befürchtet in diesem Jahr den Verlust von weiteren 200 000 Arbeitsplätzen.

(Joachim Poß (SPD): Das ist Schwarzmalerei!)

Das ist eine Negativzahl nach der anderen. Aber Sie, Herr Minister Clement, malen ein rosarotes Bild, als wäre alles in Ordnung.

(Joachim Poß (SPD): Eine Schande Niederbayerns: Ernst Hinsken!)

Wie schreibt Friedrich Schiller, dessen 200. Todestag wir dieses Jahr gedenken? „Herr, dunkel war der Rede Sinn.“

(Joachim Poß (SPD): Missbrauchen Sie Schiller nicht für Ihre Schwarzmalerei! Der arme Schiller!)

Auch das sei Ihnen ins Gedächtnis gerufen.

   Herr Clement, seit drei Jahren versprechen Sie eine Wende auf dem Arbeitsmarkt und bei den Staatsfinanzen. Was haben Sie erreicht? Ihre Politik – das sagte ich soeben – macht die Bürger arbeitslos und arm. Sie und Bundeskanzler Schröder können es einfach nicht. Frau Kollegin Wöhrl hat zu Recht gesagt, dass wir alle auf das Jahr 2006 warten, in dem eine Wende kommen wird und wir die Bundesrepublik Deutschland auch auf wirtschaftlichem Gebiet wieder nach vorne bringen werden.

   Mit Schönreden allein ist es nicht getan. Bedauerlich ist nur, Herr Minister, dass Sie das, was Sie uns sagen, selbst glauben.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Bist du sicher?)

Dazu fällt mir ein Sprichwort ein, das ich entsprechend abwandeln möchte: Kräht der Clement wie der Gockel auf dem Mist, dann ändert sich die Wirtschaft, aber sie bleibt, wie sie ist.

(Dr. Uwe Küster (SPD): Flach, flacher, Hinsken! – Joachim Poß (SPD): War das von Schiller?)

– Das habe ich speziell auf Herrn Clement umgemünzt.

   Ich darf bei dieser Gelegenheit noch sagen: Ein Land nach dem anderen überholt uns beim Wohlstand: Das Wirtschaftswachstum in den USA beträgt 4,4 Prozent,

(Florian Pronold (SPD): Und die Schulden?)

in Großbritannien 4,4 Prozent und in Frankreich 2,5 Prozent. Der österreichische Bundeskanzler Schüssel erklärt mit Stolz: Deutschland liegt bereits weit hinter uns. – Ist das für diese Bundesregierung nicht ein Armutszeugnis? Wir können ja nichts dafür.

   Sie in der Regierung haben in Ihrer Regierungszeit viele Fehler gemacht. Das ging los mit dem Scheinselbstständigengesetz, der Abschaffung der 630-DM-Regelung, der Aufblähung der Mitbestimmung, dem Rechtsanspruch auf Teilzeit – allein dadurch sind 250 000 Arbeitsplätze verloren gegangen – und der Einführung der Ökosteuer. Sie haben die Bürokratie ausgeweitet, anstatt sie abzubauen. Sie haben die Investitionshaushalte gekürzt und Sie haben die Ich-AGs eingeführt. Meine Damen und Herren, was bringen uns diese 180 000 vom Staat subventionierten Ich-AGler mit einem Kostenvolumen von circa 1 Milliarde Euro? Die Ich-AGs bringen die regulären Betriebe in Schwierigkeiten, die brav und fleißig Steuern und Sozialabgaben zahlen, damit die Ich-AGs überhaupt finanziert werden können. Da stimmt doch etwas nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Die Wirtschaftskrise hat praktisch alle Bereiche erfasst.

(Doris Barnett (SPD): Auch die CDU/CSU!)

Im letzten Jahr sind in der Bauwirtschaft 50 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Für dieses Jahr ist ein weiteres Minus von 32 000 Arbeitsplätzen zu erwarten. Ich meine, so kann es doch nicht weitergehen. Herr Clement, ich bitte Sie, dies endlich zu verstehen, die Probleme zu erkennen und die Sorgen und Nöte der Bürger ernst zu nehmen.

   In dieser Zeit, in der wir alle bei Neujahrsempfängen als Redner auftreten,

(Joachim Poß (SPD): Das ist aber schlecht für Ihre Zuhörer!)

ergibt sich vielfach die Möglichkeit und Gelegenheit, nach der Veranstaltung mit den Anwesenden zu sprechen. Da kommen Klagen über Klagen. Es kann nicht weggewischt werden, dass zum Beispiel das Handwerk – das Rückgrat des Mittelstandes – mit dem Rücken zur Wand steht. Ein Drittel der Betriebe macht keinen Gewinn mehr. Allein in den letzten fünf Jahren hat das Handwerk 20 Prozent seiner Beschäftigten verloren. Es fällt auf den Stand der 70er-Jahre zurück. Es ist kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

   Frau Kollegin Wöhrl hat darauf hingewiesen, was wir brauchen. Wir brauchen vermehrt Innovationen. Wir müssen – das soll gerade im Einsteinjahr nachdrücklich gesagt werden – mehr für die Bildung tun. Da sind wir alle zusammen gefordert, ganz gleich, auf welcher Seite.

(Ludwig Stiegler (SPD): Wie ist es mit der Eigenheimzulage?)

Deshalb darf es in Bezug auf PISA für uns alle nicht „Geiz ist geil“heißen, sondern es muss „Geist ist geil“ heißen. Daran müssen wir arbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Florian Pronold (SPD): Das stimmt! Gehen Sie mit gutem Beispiel voran!)

Ich habe die Rede von Herrn Minister Clement aufmerksam verfolgt. Ich habe festgestellt, dass sie vieles an Inhalt hatte, aber keine einzige Vision. Herr Minister, ich möchte wissen, wie Sie die Probleme der Bundesrepublik Deutschland bewältigen wollen, damit es wieder besser wird.

   Was ist deshalb insbesondere für den Mittelstand zu tun? Ich meine, sechs Vorhaben müssen ganz oben stehen, nämlich einmal die Arbeitslosigkeit reduzieren, dann die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland stoppen und die Verschuldung und Bürokratie abbauen, wie es mein Heimatland Bayern macht. Da kann die Bundesregierung lernen, wie man vernünftige Politik macht.

(Florian Pronold (SPD): Nirgends gibt es so viele Verordnungen und so viel Bürokratie wie im Freistaat Bayern!)

– Da brauchen Sie, Herr Pronold, überhaupt nichts zu sagen, Sie 17-Prozent-Mann. Sie haben das niedrigste Wahlergebnis in der Bundesrepublik Deutschland erreicht. Immer den Mund aufreißen, aber keine Ahnung haben und nichts verstehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Es gilt vor allen Dingen die Ich-AGs abzuschaffen, den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und das Betriebsverfassungsgesetz auf den Prüfstand zu stellen, daraus Konsequenzen zu ziehen und es anders auszurichten.

(Ludwig Stiegler (SPD): Ein schwarzer Horrorkatalog!)

   Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland eine dritte Aufbruchstimmung, eine Aufbruchstimmung, wie wir sie nach der Fußballweltmeisterschaft 1954 hatten und wie wir sie nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 hatten. Ich hoffe, dass die dritte Aufbruchstimmung spätestens im Jahre 2006 kommt.

(Beifall des Abg. Manfred Grund (CDU/CSU))

   Lassen Sie mich nochmals Schiller zitieren. In „Don Carlos“ von Schiller heißt es: „Kardinal! Ich habe das Meinige getan. Tun Sie das Ihre!“ In Abwandlung dieses Zitats, sage ich Ihnen, Herr Minister: Minister! Ich habe das Meinige getan! Tun Sie das Ihre! Machen Sie eine vernünftige Politik, damit es in der Bundesrepublik Deutschland auch in Sachen Wirtschaft endlich wieder nach oben geht!

   Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Ludwig Stiegler (SPD): Ernst, das war keine große Begeisterung, die du ausgelöst hast!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Danke schön. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Hinsken hat seine Rede mit den Worten beendet: Wir brauchen eine dritte Aufbruchstimmung. – Bei der Schwarzmalerei

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Fakten sind das, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen!)

kann es keine Aufbruchstimmung geben. Wenn jemand so schwarz malt, dass er im Kohlenkeller noch Schatten wirft, Herr Hinsken, dann kann keine Bewegung in diesem Land entstehen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Kein Sonnenlicht dringt durch!)

Das ist eine Rede gegen die Wirklichkeit in diesem Land gewesen; denn tatsächlich ist die Schwächephase überwunden, tatsächlich haben wir den Pfad des kontinuierlichen Wachstums beschritten. Das hängt konkret mit unserer Politik zusammen. Umfassende Konzepte sind gefragt und wir sind in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die sich ergänzen müssen, mit umfassenden Konzepten angetreten. Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungspolitik bedingen sich gegenseitig.

   Ich will gerne auf das eingehen, was Frau Wöhrl angesprochen hat, nämlich dass Hartz IV nur zu einer besseren Vermittlung führe. Genau darin liegt der Casus knacksus, um es deutlich zu sagen.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Jetzt haben wir eine noch schlechtere Vermittlung!)

Natürlich ist bei der Arbeitsmarktpolitik das Vermittlungsgeschäft wesentlich. Wir alle wissen, dass durch bessere Vermittlung freie Arbeitsplätze deutlich schneller und besser besetzt werden können. Es sind 300 000 Arbeitsplätze gemeldet, das IAB und manche Unternehmensverbände gehen von 900 000 freien Stellen aus. Wenn wir also rund 1 Million freier Arbeitsplätze durch eine qualifiziertere Vermittlung besetzen können, dann organisieren wir einen Wachstumsschub in diesem Land. Wir sollten die Angelegenheit nicht kleinreden.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt ein viel zu hohes Potenzial an Überstunden. Auch insofern kann die Arbeitsmarktpolitik natürlich Implikationen für die Beschäftigungspolitik liefern.

   Auch gibt es in diesem Lande, was alle beklagt haben, zu wenige Existenzgründungen. Jetzt hat die Arbeitsmarktpolitik Facetten dafür geliefert, zusätzliche Beschäftigung durch Existenzgründungen zu organisieren. Das reden Sie jetzt schon wieder klein. Statt zu helfen, statt notfalls unterstützend tätig zu sein, sodass der Bestand dieser Existenzgründungen gesichert wird, tun Sie wieder so, als wäre die Arbeitsmarktpolitik nur eine Frage besserer Vermittlung. Sie ist viel mehr. Sie liefert beschäftigungspolitische Implikationen, und zwar in einem außerordentlich großen Maß.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wenn wir über Beschäftigungspolitik reden, dann möchte ich Ihnen auch klar sagen, dass unsere Agenda 2010 neben der Arbeitsmarktpolitik natürlich noch viele andere beschäftigungspolitische Implikationen hat, weil wir auch die Sozialpolitik den neuen Herausforderungen anpassen. Das haben Sie bisher nicht geschafft, wie Sie selbst nur zu gut wissen. Auf Details dazu werde ich noch eingehen.

   Richtig ist doch, dass Arbeitsmarktpolitik mit einer nachhaltigen Beschäftigungspolitik ergänzt werden muss, damit die Arbeitslosigkeit in diesem Land reduziert werden kann. Aus internationalen Vergleichen wissen wir, dass es dabei keinen Königsweg gibt. Vielmehr kommt es auf ein stimmiges Gesamtkonzept an. Der Sachverständigenrat sagt in diesem Zusammenhang über unsere Arbeitsmarktpolitik, dass dies die bedeutendsten Reformen sind, die in den letzten Jahrzehnten durch eine Regierung angepackt worden sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Auch die internationale Anerkennung dieser Reformen ist groß. Wir haben den Mut gehabt, diesen schwierigen Weg zu gehen. Menschen aus anderen Ländern Europas fragen uns, woher wir den Mut dazu haben. Sozialdemokraten werden von anderen Parteien nach Brüssel eingeladen und gefragt, woher wir den Mut genommen haben, ob wir nicht Angst gehabt haben davor, dass uns wegen dieses mutigen Schrittes die Mehrheit in diesem Lande entzogen wird. Wir haben den Mut gehabt und werden dafür belohnt werden, meine Damen und Herren. Ihre Eierei gerade in der Arbeitsmarktpolitik nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ wird nicht erfolgreich sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Unser Leitmotiv, der aktivierende Sozialstaat, wird mit dem Bild der Schaukel sehr schön beschrieben. Besser als Ludwig Stiegler das getan hat, kann ich das nicht beschreiben. Aber ich weiß natürlich nur zu gut, Herr Pofalla, dass eine Schaukel dann sicher ist, wenn man sich mit ihr bewegt. Je schneller und stärker man sich bewegt, umso mehr macht die Bewegung Spaß und Freude. Vielleicht hatten Sie als Kind keine Schaukel. Wir brauchen diese Bewegung in unserem Lande. Wir müssen weg von „passiv“ und hin zu „aktiv“. Das ist der Weg, den wir beschreiten müssen. Diesen Weg werden wir mit unseren Reformen offensiv gehen. Insofern waren viele Ihrer Redebeiträge, sowohl der von Herrn Pofalla als auch der von Herrn Brüderle, nichts anderes als der Versuch, wieder etwas schlechtzureden, was nicht so schlecht ist.

   Damit meine ich auch die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen. Das sage ich, obwohl wir uns darauf einstellen müssen, dass sie weiter steigen. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass wir jetzt endlich eine ehrliche Statistik haben, die ehrlichste, die es in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands gegeben hat.

(Dirk Niebel (FDP): Was ist mit den Trainingsmaßnahmen? – Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): 80 000!)

– Herr Kollege, Sie wissen doch genau, dass Trainingsmaßnahmen und andere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einzeln ausgewiesen werden, dass die Statistik also auch von daher völlig transparent ist.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Die sind aus der Statistik heraus!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Klaus Brandner (SPD):

Nein, ich möchte meinen Gedanken jetzt zu Ende bringen.

   Herr Pofalla hat eben wieder gesagt, wir hätten zurzeit den höchsten Stand der Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung.

(Dietrich Austermann (CDU/CSU): Richtig!)

Nach einer dreijährigen Stagnationsphase, Herr Austermann, gibt es in der Tat einen hohen Stand bei der Arbeitslosigkeit. Aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt des Jahres 2004 immer noch unter dem Niveau des Durchschnitts dessen war, was wir im Jahre 1997 von Ihnen übernommen haben. Der Jahresdurchschnitt im letzten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung ist höher gewesen, als er jemals war.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund (CDU/CSU): 1998! Sie haben die Zahlen von 1998 übernommen! Was Sie sagen, stimmt doch nicht! Hören Sie auf, uns zu verschaukeln!)

– Sie brauchen sich da gar nicht aufzuregen.

Bei den Lohnnebenkosten ist die Situation ähnlich. Wir alle wissen, dass die Lohnnebenkosten für die internationale Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere aber für die Dienstleistungen in diesem Land ein wichtiger Faktor sind. Deshalb haben wir die Sozialsysteme nachhaltig reformiert und werden den Reformprozess weiter vorantreiben. Sie sind aber auch ein sozialer Pfeiler unserer Arbeit in Deutschland.

   Angesichts der harten Daten müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass in den 80er-Jahren – in Ihrer Regierungsverantwortung – die Lohnnebenkosten bei 32 Prozent lagen. In den 90er-Jahren sind sie von 35,5 Prozent auf über 42 Prozent im Jahr 1998 gestiegen.

(Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Wiedervereinigung nicht vergessen! – Manfred Grund (CDU/CSU): Da habt ihr alle mit zugestimmt, einschließlich der Pflegeversicherung! 1,7 Prozent!)

   Wir haben in dieser Situation trotz der viel größeren Herausforderungen einen Pfad der Kontinuität beschritten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die deutsche Wiedervereinigung ist in der Tat zu berücksichtigen. Der demographische Wandel hat sich verstärkt und die Arbeitslosigkeit lag beständig auf einem hohen Niveau. Aber unter diesen Bedingungen haben wir es geschafft, die Lohnnebenkosten sechs Jahre lang zu stabilisieren und jetzt sogar systematisch zu senken.

(Beifall bei der SPD – Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Und die Steuern?)

Das ist die Leistung dieser Regierung.

   Insofern besteht die beste Politik, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen, in Investitionen in Bildung, Ganztagsschulen und in einer Innovationsoffensive, um die Grundlagen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu schaffen. Dafür treten wir ein und das ist der Weg, den wir kontinuierlich weiter beschreiten werden.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ein falscher Weg!)

   Lassen Sie mich etwas zu den Ausführungen von Herrn Pofalla zur Arbeitslosenversicherung anmerken. In einem Presseartikel hat er gefordert, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auf 5 Prozent zu senken. In dem Artikel heißt es weiter, dass er eigentlich 4 Prozent betragen müsste. Man muss sich einmal eine Vorstellung davon machen, was das konkret bedeuten würde. Eine Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 4 Prozent der Grundlohnsumme hätte einen Rückgang der Beitragseinnahmen um 18,75 Milliarden Euro zur Folge. Konkret bedeutet das, die aktive Arbeitsmarktpolitik, durch die Menschen in Beschäftigung kommen und für die wir zurzeit 14,1 Milliarden Euro ausgeben, zu ändern. Wer diesen Vorschlag ernsthaft verfolgt, muss dazu sagen, dass er das Arbeitslosengeld kürzen und keine aktivierenden Maßnahmen mehr anbieten will. Wer das will, der will die Bundesagentur für Arbeit aufgeben und zu einer reinen Lohnausfallversicherungsanstalt machen. Wer das will, muss mit dem erbittertsten Widerstand der Sozialdemokraten rechnen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke (FDP): Sie sind letztes Jahr um 1 Milliarde zurückgegangen!)

– Seien Sie doch froh, dass sie zurückgegangen sind. Das ist doch ein Beleg dafür, dass die Effizienz der Arbeitsmarktpolitik und der Bundesagentur für Arbeit kontinuierlich verbessert wird und dass nur die notwendigen Ausgaben getätigt werden. Seien wir doch froh darüber, statt es zu beklagen!

(Otto Fricke (FDP): Aber das hätte man doch für Maßnahmen nutzen können!)

   Mich hat allerdings überrascht, was in Fragen der Arbeitsmarktpolitik sonst üblich ist. Was zum Beispiel die Altenpflegeausbildung angeht, hätten die Länder längst reagieren müssen. Es ist doch interessant, dass auf der einen Seite gefordert wird, Beiträge zu senken und keine Mittel für entsprechende Maßnahmen mehr zur Verfügung zu stellen, und auf der anderen Seite im Parlament in einem Antrag gefordert wird, den Ländern mehr Mittel zuzuweisen, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen können. Eine solche Politik dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass!“ können wir Ihnen nicht durchgehen lassen, Herr Pofalla. Das ist Populismus – auch im Wahlkampf –, den wir offen ansprechen und Ihnen nicht durchgehen lassen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Lassen Sie mich kurz auf einige weitere Punkte zu sprechen kommen.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Nein, Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit überschritten. Ihnen bleibt nur noch die Zeit für einen Schlusssatz.

Klaus Brandner (SPD):

Dann will ich mich auf die Feststellung beschränken, dass unsere Reformen für den Fortschritt stehen. Das ist auch schon deutlich geworden. Bei dem von Herrn Pofalla vorgetragenen Reformkonzept handelt es sich um nichts anderes als um ein Abbaukonzept, das Angst macht. Wir brauchen aber Mut in der Gesellschaft. Wir müssen dafür eintreten, dass Reformen in der Gesellschaft wieder als etwas Positives begriffen werden. Wir haben dafür den Grundstock gelegt und werden in dieser schwierigen Phase mit Mut und Zuversicht dafür sorgen, dass Deutschland in der Aufwärtsentwicklung bleibt.

(Ernst Hinsken (CDU/CSU): Es geht runter!)

Es befindet sich nicht im freien Fall, wie es hier dargestellt worden ist. Ich lade Sie dazu ein, dabei konstruktiv mitzuhelfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler (SPD): Sie bleiben im Kohlenkeller! Sie werfen Schatten!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau.

Petra Pau (fraktionslos):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung für das Jahr 2005 gibt eine vorsichtige Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt in Höhe von 1,7 Prozent an. Zugleich wird eine noch höhere Arbeitslosenzahl als 2004 angenommen. Der Trend ist also genau umgekehrt, als noch im Herbst vorausgesagt und auch im Deutschen Bundestag von der Bundesregierung verkündet wurde. Das Hauptproblem für 4,5 bis 5 Millionen unmittelbar Betroffene und damit auch eines der Kardinalprobleme für die Sozialsysteme bleibt also unverändert riesengroß. Die Massenarbeitslosigkeit nimmt sogar zu. Das ist das belastende Minus der Wachstumsprognose der Bundesregierung.

   Als Wirtschaftshemmnisse wird gern auf die hohen Ölpreise und den im Vergleich zum Dollar zu starken Euro verwiesen. Dass beide Faktoren Einfluss auf die Wirtschaft und ihre Entwicklung haben, liegt auf der Hand. Aber das sind nicht die einzigen Faktoren, die hemmend wirken. Die entscheidende Schwachstelle ist nach wie vor der Binnenmarkt. Diese Schwachstelle ist hausgemacht; denn die Agenda-2010-Politik der Bundesregierung stärkt nicht den Binnenmarkt, sondern schwächt ihn weiter. Allein durch Hartz IV und das Arbeitslosengeld II wurden dem Binnenmarkt Milliarden Euro an Kaufkraft entzogen. Das senkt die Nachfrage und gefährdet insbesondere kleine und mittelständische Betriebe. Ergo sind weitere Arbeitsplätze gefährdet und es werden keine neuen geschaffen. Deshalb hat die PDS im Bundestag immer gesagt: Hartz IV ist nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten falsch. Hartz IV ist vielmehr auch in wirtschaftlicher Hinsicht kontraproduktiv, allemal in ohnehin strukturschwachen Regionen, und zwar sowohl im Osten als auch im Westen der Republik.

   Obendrein werden Begehrlichkeiten geweckt, die unter dem Strich ebenfalls negativ zu Buche schlagen werden. Die so genannten 1-Euro-Jobs für Arbeitslosengeld-II-Empfänger im Bereich der gemeinnützigen Leistungen waren noch nicht einmal eingerichtet, da riefen schon die Unternehmerverbände: Hier sind wir! 1-Euro-Jobs sollten auch in der Wirtschaft geschaffen werden, so die gesetzwidrige Forderung. Ausgerechnet der für den Aufbau Ost zuständige Minister Stolpe wurde in der vergangenen Woche mit den Worten zitiert, er könne sich das gut vorstellen.

   Die PDS lehnt dies konsequent ab. Wir fordern stattdessen, alles zu unterlassen, was Lohndumping befördert, die Kaufkraft der Beschäftigten senkt und den Binnenmarkt weiter schwächt. Es ist höchste Zeit für eine Grenze, damit Beschäftigte von ihrer geleisteten Arbeit wirklich leben können. Deshalb begrüße ich, dass nach Verdi nun auch die IG Metall wieder über einen gesetzlich fixierten Mindestlohn nachdenkt. Nach Berechnungen vieler Sozialwissenschaftler müsste ein Mindestlohn oberhalb von 1 400 Euro brutto angesiedelt werden. Die PDS schließt sich dieser Auffassung an. Ich erwarte von den Fraktionen der SPD und der Grünen, dass sie sich ebenfalls in Richtung eines Mindestlohngesetzes bewegen.

   Es gibt weitere Faktoren, die ihre Schatten vorauswerfen und auf soziale Standards zielen sowie den Binnenmarkt weiter schwächen werden. Ich verweise nur auf die EU-Dienstleistungsrichtlinie. Bleibt sie so, wie sie derzeit geplant ist, dann wird sie einen EU-weiten Wettlauf um niedrigste Sozial- und Umweltstandards eröffnen. Das ist weder im Sinne der Bürgerinnen und Bürger noch im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung. Deshalb fordert nicht nur die PDS: Die EU-Dienstleistungsrichtlinie muss gründlich überarbeitet werden, und zwar auch im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung.

   Zugleich gilt es, gemeinsam mit Polen und Tschechien die EU-Anschlussregionen gezielt und beschleunigt zu entwickeln, so wie es Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit der Oderregion gemeinsam vorhaben. Das ist umso dringlicher, als die anhaltende und notwendige EU-Förderung für ostdeutsche Regionen zumindest bislang nicht gesichert zu sein scheint. Die EU-Osterweiterung birgt große Chancen für alle Beteiligten. Sie birgt aber auch Gefahren für ganze Regionen. Auch das gehört zur Wirtschaftsprognose.

   Schließlich werden der Binnenmarkt und die Wirtschaftsentwicklung so lange schwächeln, solange die Kommunen als Auftraggeber ausfallen. Anders gesagt: Wir brauchen eine Steuerreform, mit der die Nachfrage angekurbelt und nicht weiter gedrosselt wird. Die rot-grüne Politik bewirkt allerdings das genaue Gegenteil. Gerechtigkeit halber muss man allerdings sagen, dass die bekannten Forderungen von CDU/CSU das Manko sogar noch potenzieren würden.

   Ich wiederhole: Die meisten Probleme, die wir heute behandeln, sind in politischer Hinsicht hausgemacht.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.

(Beifall bei der SPD)

Joachim Poß (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Pau, ein paar Sätze zu Ihnen. Ich glaube, dass Sie sich mit dem Leugnen der Notwendigkeit struktureller Veränderungen wirklich an dem versündigen, was Sie zu tun vorgeben. Insbesondere gegenüber den Menschen in Ostdeutschland geben Sie vor, deren Interessen zu vertreten. Derjenige, der sich der Gestaltung verweigert, versündigt sich aber an den Menschen, die auf Arbeit hoffen. Das muss man ganz klar feststellen.

(Beifall bei der SPD)

   Ich glaube und prognostiziere, dass sich der Optimismus von Wolfgang Clement und dieser Koalition durchsetzen wird. Das, was wir hier heute Morgen erlebt haben, nämlich die Premiere von Herrn Pofalla sozusagen als Verkörperung der Opposition, hat eines deutlich gemacht: Die Opposition wird immer ideenloser und immer kraftloser. Das ist die Zustandsbeschreibung des heutigen Tages.

(Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler (SPD): Das sind Leichtmatrosen!)

   Die Menschen in unserem Lande sind leider – das zeigen auch die Umfragen – verunsichert. Aber sie sehen gleichwohl immer stärker die Notwendigkeit, Veränderungen vorzunehmen, um den gesellschaftlichen Wandel zu gestalten. Außerdem sehen sie in dieser Koalition aus SPD und Grünen immer stärker diejenige Kraft, die Erneuerung in sozialer Verantwortung in Deutschland anpackt und auch schafft. Auch das ist die Botschaft des heutigen Tages.

(Beifall bei der SPD)

   Die Antwort der Opposition ist altbekannt: Sie besteht in schiefen internationalen Vergleichen; da werden Äpfel mit Birnen verwechselt. Immer wieder wird die Lokomotivfunktion der Bundesrepublik Deutschland beschworen. Wann hatten wir denn diese Lokomotivfunktion? Das war Ende der 70er-Jahre, als Jimmy Carter Helmut Schmidt sagte, Deutschland solle eine solche Funktion übernehmen. Unter den zu Beginn der 80erJahre herrschenden Umständen hatte die Bundesrepublik Deutschland die Lokomotivfunktion.

   Ich möchte, wie es Frau Merkel in den letzten Tagen getan hat, die Statistik bemühen: Deutschland sei im Ranking der OECD auf dem 18. Platz. Schauen Sie doch einmal genau nach: Auf dem 18. Platz standen wir auch 1988, also vor der großen Aufgabe der Vereinigung. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der SPD)

   Sie werden dieses Spiel weiterspielen, und zwar mit schiefen Vergleichen, die nicht weiterführen und die vor allem eines nicht bewirken: dass die Probleme gelöst werden und dass Menschen verstärkt in Arbeit kommen. Das ist die Folge Ihres Schwarzredens und entsprechenden Handelns.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich glaube, dass das, was wir in den letzten Jahren unter der Überschrift „Agenda 2010“ verstärkt und auch schon vorher angepackt haben – das zeigen der Jahreswirtschaftsbericht und auch die Äußerungen des Sachverständigenrates –, ein großer Schritt in die richtige Richtung ist.

   Das, was Sie, Kollege Pofalla, vorgetragen haben, bedeutet im Klartext: Lohnabbau, Sozialabbau, Abbau von Arbeitnehmerrechten. In der gleichen Rede konfrontieren Sie uns mit tatsächlichen oder vermeintlichen Daten aus dem Armuts- und Reichtumsbericht. Was meinen Sie denn? Ihrer Auffassung nach sind unsere Standards doch viel zu hoch.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Unsinn!)

   Ich empfehle Ihnen einmal eine Stunde der Einkehr. Offenkundig haben bisher weder die Oppositionsfraktion CDU/CSU noch die Oppositionsfraktion FDP ihre Strategie gefunden. Das, was Sie hier geboten haben, ist doch hilflos.

(Beifall bei der SPD)

Da passt doch eines nicht zum anderen. Sie verbreiten hier ökonomischen und gesellschaftlichen Unsinn.

   Sie blenden zum Beispiel den Umstand aus – meine Vorredner haben es schon erwähnt; der Sachverständigenrat hat diesen Bereich sehr intensiv bearbeitet; er hat in seinem aktuellen Bericht noch einmal auf seine vorherigen Studien verwiesen –, dass die Situation in Ostdeutschland die Wachstumsperspektive Gesamtdeutschlands nach wie vor entscheidend tangiert. Das betrifft die Arbeitslosigkeit, den Rückgang der Erwerbstätigkeit und die unterdurchschnittliche Zuwachsrate Deutschlands beim Bruttoinlandsprodukt. Die Wahrheit ist, dass der Aufholprozess in Ostdeutschland ins Stocken gekommen ist. Deswegen müssen wir dieses Stocken gemeinsam überwinden. Das bedeutet aber kein Abschreiben des Ostens. Die Wiedervereinigung ist für uns vielmehr ein historischer Glücksfall gewesen. Zur Vollendung der Einheit brauchen wir weiterhin erhebliche WestOstTransfers.

   Die CDU/CSU spielt das alte Spiel, indem sie behauptet, wir seien das wirtschaftliche Schlusslicht Europas. Das stimmt nicht. Wenn Sie sich die strukturellen Probleme des Gesundheitswesens in Großbritannien und bei der Rente und den Pensionen in anderen Ländern anschauen, werden Sie feststellen – das hat auch ein Mitglied des Sachverständigenrates, Frau Weder di Mauro, kürzlich in einer Rede in Basel getan –, dass wir durch die Anstrengungen der letzten Jahre inzwischen weiter als andere europäische Staaten sind und dass wir das Potenzial haben, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands zu sichern. Nur wir, so der Sachverständigenrat, haben die große Herausforderung der Bewältigung der Vereinigung wirklich schultern können. Keine andere europäische Volkswirtschaft wäre dazu in der Lage gewesen.

Deswegen haben wir auch das Potenzial, die Probleme nach und nach zu lösen. Das Ausland sieht das so. Warum Sie das nicht so sehen und damit potenzielle ausländische Investoren sogar abschrecken, versteht im Ausland niemand.

   Im Zusammenhang mit der Finanzpolitik und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt frage ich: Warum haben Sie, wenn der EU-Währungskommissar Almunia kein Problem damit hat, die enorme Herausforderung der deutschen Einheit zur Beurteilung der deutschen Finanzlage im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes heranzuziehen, damit ein Problem?

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Herr Pofalla oder Frau Merkel, Sie tragen vor, Sie hätten tragfähige Konzepte zur Verbesserung der Wirtschaftsentwicklung und der Beschäftigung in Deutschland. Frau Merkel hat gesagt: „Der inhaltliche Diskussionsprozess in der Union war sicherlich nicht immer einfach; aber diese Phase ist jetzt vorbei.“ Frau Merkel ist klug genug, zu wissen, dass das, was sie da gesagt hat, nicht stimmt. Es gibt in keinem einzigen Bereich ein Unionskonzept, das die Differenzen und Widersprüche zwischen CDU und CSU auflöst. Ihr so genanntes Steuerreformkonzept oder Ihr Gesundheitsreformkonzept kaschiert die Widersprüche, mehr nicht. Deswegen haben Sie diese misslungenen Entwürfe auch in der Schublade verschwinden lassen.

    In der Anhörung des Finanzausschusses in der letzten Woche wurde Ihnen noch einmal attestiert: Ihr Steuerreformkonzept ist unsozial, unfinanzierbar, fehlerhaft. Es fehlt der gesamte Bereich der Unternehmensbesteuerung. Das wollen Sie bis zum Jahresende nachliefern. Das heißt, Sie haben kein Konzept für Bereiche, für die Sie für sich reklamieren, ein Konzept zu haben.

(Beifall bei der SPD)

   Das gilt auch für den Bereich Familie. Jetzt endlich wollen Sie ein Konzept zur Familienpolitik erstellen – ebenfalls bis zum Jahresende. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Was erzählen Sie im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf oder in Nordrhein-Westfalen oder überhaupt bis zum Ende des Jahres? Wie sind Sie überhaupt konzeptionell aufgestellt? Sie konstatieren, dass Sie für die Familienpolitik noch etwas erarbeiten müssen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Die irren herum!)

Sie konstatieren, dass Sie für andere Bereiche noch etwas erarbeiten müssen. Sie sind weder inhaltlich noch taktisch noch personell aufgestellt. Das ist Ihre Situation.

(Beifall bei der SPD)

   Ihr Prozess der inhaltlichen Klärung ist nicht abgeschlossen. Überall Fehlanzeige! Ihre rein mechanistische Sichtweise des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts würde zur Schwächung von Wirtschaft und Beschäftigung in Deutschland führen. Auch in 2005 bleiben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, offensichtlich das, was Sie seit Jahren sind: unverbindlich und widersprüchlich. Das ist keine Alternative, jedenfalls keine Alternative, die man den Bürgerinnen und Bürgern in der Bundesrepublik ernsthaft zumuten sollte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler (SPD): Gut, dass es uns gibt! Danke, Jochen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietrich Austermann.

Dietrich Austermann (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Poß hat gefragt, was wir denn den Bürgern in Schleswig-Holstein vor der Landtagswahl erzählen.

(Joachim Poß (SPD): Was Sie erzählen, ist bekannt! Es hat nur nichts mit der Wahrheit und der Realität zu tun!)

Ich will die Frage beantworten. Wir sagen ihnen: Frau Simonis ist ökonomisch gescheitert. Wir sagen ihnen: Die Bundesregierung ist ökonomisch gescheitert. Ich will dafür den Beweis antreten.

   Wir sind am Anfang einer Debatte oder am Ende einer Debatte,

(Ludwig Stiegler (SPD): Am Anfang oder am Ende? – Joachim Poß (SPD): Zunehmend am Ende!)

die sich mit dem Jahreswirtschaftsbericht befasst, der im Januar, also zu Beginn des Jahres, Aussagen darüber trifft, in welche Richtung sich das Land entwickelt. Wenden wir uns dem zu, was die Bürger am meisten betrifft! Ich vermute, das ist die Frage: Hast du Beschäftigung, hast du ein Einkommen, ja oder nein? Dazu erklärt die Regierung im Jahreswirtschaftsbericht selbst, dass die Zahl der Arbeitslosen, also der Menschen, die keine Arbeit haben, im Jahresverlauf steigt.

(Ludwig Stiegler (SPD): Im Jahresverlauf sinken soll! Sie können nicht einmal lesen!)

Das heißt, die Situation verschlechtert sich, Herr Kollege Stiegler.

(Ludwig Stiegler (SPD): Im Jahresverlauf wird sie besser!)

Ich will Ihnen das konkret an einem Beispiel belegen. Als der Bundeshaushalt für das Jahr 2005 aufgestellt wurde, im Juni letzten Jahres, ging das Kabinett für dieses Jahr von einer Arbeitslosenquote von 4,2 Millionen aus. Im Herbst kam die Bundesagentur zu dem Ergebnis, dass sie 4,35 Millionen betragen wird. Der Jahreswirtschaftsbericht geht jetzt von knapp 4,6 Millionen Arbeitslosen aus. Das heißt, allein seit der Vorstellung des Kabinettsvorschlages für den Haushalt dieses Jahres hat sich nach Einschätzung der Bundesregierung die Zahl der voraussichtlich Arbeitslosen um 400 000 erhöht. Für diesen Personenkreis zumindest hat sich also die persönliche Perspektive verschlechtert.

   Der Kollege Hinsken hat das ein bisschen anders formuliert, indem er sagte: Rot-Grün macht arm und arbeitslos. Genauso ist das. Sie machen arm, weil ein größerer Teil der Bevölkerung weniger zu tun und damit weniger Einkommen hat und weil die Zahl derjenigen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind, immer größer wird.

    Sie machen auch den Staat arm, denn der Versuch, über hemmungsloses Schuldenmachen den Arbeitsmarkt anzukurbeln,

(Ludwig Stiegler (SPD): Die meisten Schulden haben immer noch Sie gemacht!)

hat ja nicht funktioniert. Wir haben die höchsten Schulden – 53,7 Milliarden Euro an Schulden hat der Bund im letzten Jahr aufgenommen –, die wir je hatten, und wir haben eine steigende Arbeitslosen- bzw. sinkende Beschäftigtenzahl. Dennoch wird hier immer wieder versucht, den Eindruck zu erwecken, dass man dadurch, dass man irgendwoher einfach immer mehr Kredite aufnimmt, die Situation verbessern könnte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Spätestens nach ein bis zwei Jahren rächt sich dieses Schuldenmachen auf grausame Weise. So liegen die Wachstumserwartungen im Vergleich zum Vorjahr schon niedriger.

   Jetzt ist die Frage, welche Perspektiven der Wirtschaftsminister dafür aufgezeigt hat, dass es später besser wird. Wir sind es von ihm gewohnt, dass er jeweils zu Beginn des Jahres sagt, die Situation im Moment sieht zwar so und so aus, aber am Ende des Jahres wird es 200 000 Arbeitslose weniger geben.

(Ludwig Stiegler (SPD): Er hat Recht behalten! Seine Wachstumsprognose für das Jahr 2004 war richtig!)

Im Jahreswirtschaftsbericht gibt es jedenfalls keine Anhaltspunkte dafür, dass das so kommen wird. Auch aus Ankündigungen von konkreten Maßnahmen kann man das nicht ableiten, denn es wurden keine konkreten Maßnahmen angekündigt. Der Einzige, der konkrete Vorschläge unterbreitet hat, wo man ansetzen könnte, um über das Miniwachstum, das keine konkrete Verbesserung der Beschäftigungssituation mit sich bringt, hinauszukommen, war der Kollege Pofalla. Er hat ein Zehn-Punkte-Programm vorgestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Ludwig Stiegler (SPD): Zehn Stichworte!)

   Kein anderer, und erst recht niemand aus den Regierungsparteien, hat einen einzigen konkreten Vorschlag gemacht. Sie haben nur über erneuerbare Energien und Ähnliches gesprochen. Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Der Kollege Schulz, der hier ein Gesicht macht, als hätte er die konkreten Wirtschaftsdaten der Bundesregierung gelesen, sagte, Sie hätten etwas für erneuerbare Energien getan. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben schon im Bereich erneuerbare Energie gehandelt, da hatten Sie noch die Eierschalen der Göttinger Hausbesetzerszene abzustreifen. Da haben wir uns schon um Windenergie, nachwachsende Rohstoffe und vieles andere mehr gekümmert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Der Herr Kollege Schulz hat, wie ich glaube, mit Göttingen nichts zu tun.

(Rainer Brüderle (FDP): Er ist schon lange weg!)

Dietrich Austermann (CDU/CSU):

Es ist erfreulich, dass die Präsidentin mitdenkt. Ich will ganz klar sagen, wen ich gemeint habe: Es war der Kollege Trittin. Wir waren beide zu der Zeit in Göttingen.

(Ludwig Stiegler (SPD): Dann entschuldigen Sie sich!)

Damals musste ich als Stadtdirektor dafür sorgen, dass er aus einem besetzten Haus verschwindet und sich ordentlichen Dingen zuwendet.

(Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Da hätte ich aber Wasserwerfer eingesetzt! – Joachim Poß (SPD): Er ist schwer von der Rolle, wenn er so etwas durcheinander wirft!)

   Meine Damen und Herren, ich bin gefragt worden, was wir in Schleswig-Holstein täten. Ich sage Ihnen noch einmal: Was im Großen für den Bund gilt, gilt in gleicher Weise für die rot-grün regierten Bundesländer. Rot-Grün macht arm und arbeitslos. In Schleswig-Holstein gibt es 40 000 Arbeitslose mehr als zu der Zeit, als Frau Simonis Ministerpräsidentin wurde.

(Joachim Poß (SPD): Herr Austermann, aus dem Finanzminister wird nichts mehr!)

   Im letzten Jahr haben 10 000 Menschen ihre Beschäftigung verloren. Innerhalb eines Jahres 10 000 Menschen! Die Situation bezüglich der Armut ist so schlimm, dass 45 000 Kinder in Schleswig-Holstein heute Sozialhilfe beziehen.

   Sie haben sich auf aktuelle Daten bezogen. So hat der Wirtschaftsminister darauf verwiesen, dass die GfK herausgefunden hat, dass es im Dezember eine Veränderung beim Konsum gegeben hat. Das hängt wohl irgendwie mit Weihnachten zusammen. Schauen Sie sich einmal die tatsächliche Situation an. Heute konnte man in einer neuen Studie lesen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich seit der Amtsübernahme durch die rot-grüne Bundesregierung vergrößert habe.

(Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! Sehr richtig!)

Deutlicher kann man, glaube ich, gar nicht darstellen, dass Sie auf dem falschen Wege sind.

   Die Energiepolitik ist hierfür ein gutes Beispiel. Der Wirtschaftsminister des Landes Schleswig-Holstein redete davon, dass er im ersten Halbjahr 2004 im Vergleich zum Jahr 2003 ein gutes Wirtschaftswachstum gehabt habe. Worauf ist das zurückzuführen? Im ersten Halbjahr 2004 war das Kernkraftwerk Brunsbüttel am Netz, im ersten Halbjahr 2003 nicht. Indem Sie mit Ihrer Wirtschaftspolitik für höhere Strompreise und insgesamt für höhere Energiekosten sorgen, verschlechtern Sie zugleich die Situation der Menschen und der Betriebe.

   Lassen Sie mich abschließend ein Beispiel nennen, das meines Erachtens deutlich macht, wo und wie etwas falsch läuft und warum es anders laufen muss. Die Firma Dräger in Lübeck, die 1 500 Mitarbeiter beschäftigt, überlegte, mit dem Teilkonzern Dräger Medical nach Tschechien zu gehen. Man hat mit dem Betriebsrat verhandelt. Die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein hat – das war ihr einziger Beitrag zu diesem Thema – die Geschäftsleitung beschimpft. Nach langem Hin und Her gab es eine Einigung zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung. Jeder hat gedacht, damit sei die Kuh vom Eis. Wochen später jedoch war in der Zeitung zu lesen, der Aufsichtsrat könne das Projekt noch nicht abschließen, weil der Bundesvorstand der IG Metall in Frankfurt noch keinen Termin gefunden habe, um sich mit dem Vorhaben zu befassen.

   Wenn Sie etwas für die Wirtschaft tun wollen, dann sorgen Sie dafür – das hat der Kollege Pofalla vorhin gesagt und das hat ja auch der Bundeskanzler im Rahmen seiner Agenda 2010 einmal angekündigt –, dass betriebliche Bündnisse möglich sind! Sorgen Sie dafür, dass in den Betrieben selbst entschieden wird, was für die Betriebe gut und richtig ist, und dass nicht Gewerkschaftsfuzzis weit weg darüber entscheiden, was zum Wohle – in diesem Falle: zum Schaden – des Landes gemacht wird.

   Rot-Grün macht arm und arbeitslos und die Büchsenspanner der Gewerkschaften stehen dabei und reiben sich die Hände. Das muss anders werden, damit es in Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland besser wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:

Ich schließe die Aussprache.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/4700 und 15/4300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 154. Sitzung – wird morgen,
Freitag, den 28. Januar 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/15154
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