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Alexander Weinlein
Editorial
Es scheint paradox: Während die Deutschen in Scharen vor
dem Winter an die Strände der Dominikanischen Republik
flüchten, während Gerhard Schröder im Kanzleramt
seiner Leidenschaft für kubanische Zigarren frönte,
während in den zurückliegenden Koalitionsverhandlungen
das Wort von der Jamaika-Koalition die Runde machte, während
Wim Wenders Dokumentarfilm "Buena Vista Social Club" eine Welle der
Begeisterung für kubanische Musik entfachte und die
Tanzschulen allenorten Salsa-Kurse anboten, während Jonny Depp
in der Rolle des Piratenkapitäns Jack Sparrow im "Fluch der
Karibik" ein Millionenpublikum in den Kinos amüsierte,
während Trinidad und Tobago in deutschen Fußballstadien
dieses Jahr ihr WM-Debüt geben werden, während in
Cocktailbars "Cuba libre" geschlürft wird, während
deutsche Sportreporter von den langen Beinen karibischer
Sportschönheiten wie Marlene Ottey schwärmen,
während auf den Musiksendern MTV und VIVA Megastars wie
Jennifer Lopez und Ricky Martin auf der "Latino-Welle" surfen,
während das Konterfei von Ché Guevara auf T-Shirts wie
eine Pop-Ikone durch die Fußgängerzonen getragen wird und
Eltern über die Dread Locks ihrer Töchter und Söhne
stöhnen, spielt gleichzeitig jene Region, in der all diese
Phänome ihren Ursprung finden, in der politischen Wahrnehmung
eine eher untergeordnete Rolle. Überall herrscht unbeschwertes
"Bacardi"-Feeling und wird "Kuba flüssig" in einer Flasche
"Havanna Club" verkauft, wie es die gleichnamigen Rum-Marken in
ihrer Werbung versprechen. Von Problemen keine Spur.
Das war nicht immer so: 45 Jahre liegt es nun zurück, dass
man auch in Deutschland gespannt - aber vor allem ängstlich -
in die Karibik sah. Der Blick richtete sich 1962 auf Kuba, das drei
Jahre zuvor bereits schon einmal das Interesse der
Weltöffentlichkeit erregt hatte, als ein junger
Guerilla-Führer namens Fidel Castro nach sechs Jahren
Bürgerkrieg der Batista-Diktatur ein Ende bereitet hatte. Doch
die anfänglichen Sympathien für die ku- banische
Revolution wichen schnell dem blanken Entsetzen, als die
Sowjetunion auf der Karibikinsel atomwaffenfähige Raketen
stationierte, mit denen sie die USA direkt bedrohen konnte. Die
Welt stand am Rand eines Nuklearkrieges. Mit der Beilegung der
Kuba-Krise verschwand die karibische Inselwelt wieder aus dem Blick
- zumindest in Deutschland. Auch wenn sich die US-Intervention 1977
auf Grenada wie eine Miniatur-Neuauflage des Dauerkonfliktes
zwischen der USA und ihrem sozialistischen Herausforderer vor der
eigenen Haustür ausnahm.
Doch abseits der größeren und kleineren politischen
Erdbeben "erfreuen" sich die karibischen Inseln in Deutschland bis
heute vor allem der gängigen Klischees eines
Urlaubsparadieses. Die Schattenseiten geraten dabei schnell aus dem
Blick. Man horcht kurz auf, wenn die Diktatur eines "Papa
Doc"-Duvalier oder eines Aristide auf Haiti ein Ende findet, um die
Information anschließend unter dem Schlagwort
"Bananenrepubliken" abzulegen.
Im vergangenen Jahr schließlich kehrte die Karibik jedoch
auf drastische Weise in das Bewusstsein zurück. Eine Reihe
schwerer Hurrikans forderte eine große Anzahl Menschenleben
und richtete katastrophale Schäden in den Küstenregionen
der Karibik an - die Deutschen verfolgten es schockiert an den
Fernsehgeräten. New Orleans stand dabei - sicherlich nicht zu
Unrecht - im Zentrum des Interesses. Doch die Inseln, die in immer
kürzer werdenden Abständen unter den schweren
Tropenstürmen leiden, fanden in der Berichterstattung -
sicherlich zu Unrecht - deutlich weniger Beachtung. Dabei stellen
die Hurrikans gerade für die Armenhäuser der Karibik eine
Ungleich schwerere Belastung dar als für die USA.
Diese Ausgabe soll deshalb ein Anreiz sein, sich intensiver mit
der karibischen Inselwelt, ihren schönen Seiten aber auch mit
ihren Problemen zu befassen. Denn wo es viel Sonne gibt, gibt es
auch viel Schatten.
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