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Thomas Veser
Eigentümer ohne Eigentum
Auf der Suche nach der Zukunft - eine wilde
Siedlung am Rande des albanischen Industriereviers
Bislang konnte der Bauherr lediglich das
Erdgeschoss seines neuen Hauses vollenden. Zwei geschwungene
Wendeltreppen aus Beton führen auf das provisorische Dach,
dort flattert an den freistehenden Armierungseisen der schwarze
Adler auf rotem Grund, Albaniens Nationalflagge, einträchtig
neben dem US-Sternenbanner, im Land der Skipetaren Symbol für
grenzenlose Freiheit. Wann der Bauherr den ersten Stock
hinzufügen kann, steht noch in den Sternen, denn Bargeld ist
knapp in Keneta, einem neuen Wohnviertel am Rand der Hafenstadt
Durrës, mit rund 200.000 Einwohnern zweitgrößte
Stadt Albaniens.
Rund 45 Prozent der Bewohner dieses wild
wachsenden Stadtteils haben keine Arbeit, wer einen
Hilfsarbeiterjob auf einer der zahlreichen Baustellen ergattert,
bringt monatlich umgerechnet 35 US-Dollar nach Hause. Albanien mit
seiner von Handel und Baugewerbe geprägten Wirtschaft ist auch
heute noch Europas ärmstes Land. Offiziell liegt die
Arbeitslosigkeit bei 14 Prozent, in Wirklichkeit dürfte sie
jedoch fast dreimal so hoch sein; etwa 25 Prozent der rund 3,2
Millionen Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze.
Aus dem verarmten Südosten und Norden,
wo die Landwirtschaft seit Beginn der 90er-Jahre um 40 Prozent
zurückgegangen ist, wandern fortwährend Menschen ab. Sie
hoffen auf bessere Lebensbedingungen in Albaniens einziger
Industrieregion, die sich zwischen den Städten Tirana,
Durrës und Kruja erstreckt.
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen
Regimes, das in Albanien eine besonders harte Gangart praktiziert
und das Land regelrecht in die Isolation geführt hatte, nahmen
sich die Bewohner kurzerhand jene Freiheiten, die ihnen der
repressive Staat damals vorenthalten hatte. Für die meisten
Neuankömmlinge hat sich die Hoffnung auf Arbeitsplätze
freilich als Illusion erwiesen, nur wenige Männer fanden
Stellen im florierenden Hafen oder in der Verwaltung.
Enttäuschung und Wut waren die Folgen; sie hatten sich
letztmals 1996/1997 landesweit in Unruhen entladen. Zielscheiben
der Gewalt waren öffentliche Gebäude, aber auch Fabriken,
wodurch sich die Aufgebrachten ihre eigene Lebensgrundlage
entzogen.
Verschärft wurde die Lage durch den so
genannten Pyramidenskandal: Spekulanten hatten der Bevölkerung
mit dem Versprechen, schnell großen Gewinn zu erwirtschaften,
gewaltige Geldbeträge
aus der Tasche gezogen. Als die komplizierten
Finanzierungsmodelle zusammenbrachen, blieben unvollendete
Baustellen zurück, und ihr Geld sahen die Menschen nie
wieder.
Keneta symbolisiert die Machtlosigkeit des
Staates, dem die urbanistische Lenkung längst entglitten ist.
Anfangs lebten dort etwa 160 Familien, inzwischen ist ihre Zahl auf
6.800 geklettert. In dem ehemaligen Sumpfgelände müssen
sich die Menschen auf 350 Hektar Fläche mit staubigen Pisten
zufriedengeben, und nur selten haben die Häuser
Wasseranschluss. Kein Balkanland besitzt eine dürftigere
Infrastruktur als Albanien, vor allem chronische Energieknappheit
erschwert den wirtschaftlichen Neustart.
In Keneta ist die Lage besonders prekär,
da es keine Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und
Grünflächen gibt. Der Abfall bleibt liegen und wird an
Ort und Stelle verbrannt. An das städtische
Abwasserentsorgungssystem ist das Viertel nicht angeschlossen, es
gibt nur primitive Sickergräben.
Um an Strom und Wasser zu gelangen, zapft man
einfach die offizielle Infrastruktur an. Die Einwohner betreiben
Selbstbedienung, an vielen schadhaften Stellen spritzt Wasser aus
den illegalen Leitungen, so gelangen auch Krankheitserreger in die
Haushalte und lösen Infektionen aus.
Der Stadtverwaltung ist Keneta ein Dorn im
Auge, "man hat jedoch inzwischen eingesehen, dass sich die Siedlung
nicht so einfach von der Bildfläche tilgen lässt",
bemerkt Oriana Arapi, Mitarbeiterin des Urbanismus-Instituts
CoPlan. Die Nichtregierungsorganisation, deren junges Team vor
allem aus Stadtplanern, Ingenieuren und Sozialarbeitern besteht,
arbeitet mit Unterstützung der österreichischen
Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) seit 1997 an der Integration von
Keneta in die Gesamtentwicklung von Durrës.
Im ersten Schritt grenzte CoPlan eine
Pilotzone ab. Schritt für Schritt sammelte man technische
Daten über Grundstücksgröße, Gebäude und
Bewohnerzahl. Im Zuge dieser Erhebungen habe man versucht, die
Eigentumsverhältnisse abzuklären, berichtet Oriana Arapi.
Die meisten Bewohner hätten für ihre Grundstücke
Geld bezahlt. Anfangs habe der Quadratmeterpreis bei einem bis zwei
US-Dollar gelegen, heute sind 20 bis 30 US-Dollar fällig.
Faktisch jedoch haben viele Neuankömmlinge, die für diese
Transaktionen keine Dokumente vorweisen können, ihre
Gebäude auf besetztem Staatsgelände errichtet, "sie
wurden Eigentümer ohne Eigentum". Nach Schätzungen der
CoPlan-Urbanisten gab jede Familie im Schnitt bisher umgerechnet
10.000 US-Dollar für den Hausbau aus.
Die verworrenen Besitzverhältnisse
erschwerden allerdings die Einbindung Kenetas in die Gesamtplanung,
meint Oriana Arapi. "Der Graben zwischen der Stadtverwaltung, die
Kenetas Bewohner als Besetzer betrachtet und den Einwohnern, die
sich unter großen finanziellen Opfern ihre eigenen vier
Wände geschaffen haben, ist sehr groß."
Seit 2004 gibt es zwar ein nationales Gesetz,
um diese Besitzverhältnisse zu legalisieren. Bis Anfang 2005
hatten die Betroffenen die Möglichkeit, den Behörden
gegenüber darzulegen, was genau sie als ihr Eigentum
betrachten. Auf dieser Grundlage ist geplant, den
Investitionsbedarf für die Anbindung Kenetas an die
städtischen Infrastrukturen zu ermitteln, je nach
Quadratmeterzahl sollen die Besitzer dann zur Kasse gebeten werden.
Ein beträchtlicher Teil von ihnen hat die Frist ungenutzt
verstreichen lassen.
Wie tief Groll und Misstrauen gegen die
Stadtverwaltung sitzen, zeigen die Bemerkungen des aus Nordalbanien
zugezogenen Skënder Demushi, der mit seiner Schwester ein
Café betreibt. "Wir haben hier auf ein besseres Leben gehofft
als zu Hause in den Bergen, von wo Lehrer, Ärzte und Beamte
schon lange abgewandert sind", bekräftigt er. "Aber die Stadt
bleibt untätig, ich fühle mich nicht integriert und im
Stadtrat sind wir ebenfalls nicht vertreten", klagt er.
Etwas positiver blickt die stellenlose
Sprachlehrerin Aida Ago in die Zukunft; sie richtete in ihrer
Mietwohnung einen Ganztagskindergarten ein.
"Verdienstmöglichkeiten sind für uns so schlecht, dass
beide Elternteile ständig nach Arbeit Ausschau halten
müssen", berichtet sie. Nach einer ganztägigen Betreuung
durch eine pädagogisch geschulte Kraft bestehe daher
große Nachfrage.
Dass ihr Ziel, aus der wilden Siedlung Keneta
ein normales Wohnviertel mit Straßen, Schulen,
Krankenhäusern und den üblichen Sozialeinrichtungen zu
werden, gegenwärtig nichts mehr als ein schöner Traum
ist, haben Oriana Arapis Einschätzung nach die meisten der
rund 35.000 Bewohner eingesehen; sie setzt ihr Hoffnungen auf einen
freiwilligen Gemeinschaftszusammenschluss, den die "International
Catholic Migration Commission" (ICMC) betreibt. Mitten in Keneta
hat die international tätige Hilfs-organisation ihren Sitz
gewählt, ihr Ziel besteht darin, die Bewohner der Siedlung
für freiwillige Einsätze zugunsten der Gemeinschaft zu
gewinnen. Dass dies jedoch keine leichte Aufgabe ist,
bestätigt die ICMC-Mitarbeiterin Bardhe Vorfi.
Mit ihrer Beharrlichkeit erzielten Bardhe
Vorfi und ihre Mitarbeiterin Xhevrie Byku dennoch bereits erste
Erfolge: Mittlerweile trifft sich eine Gruppe von Frauen, um
gemeinsam über soziale Probleme in der Siedlung zu
diskutieren, dabei richtet ICMC das Hauptaugenmerk auf
benachteiligte Frauen, etwa Geschiedene, Witwen oder Frauen, die
von ihren Männern misshandelt werden. Mit der Stadtverwaltung
renovierten ICMC-Mitarbeiter einen Kindergarten, und im
Gemeinschaftszentrum können Jugendliche in einer Theatergruppe
ihre Talente entfalten. Englisch- und Computerkurse sowie
Gesprächsrunden zu den Themen Gesundheit, berufliche
Fortbildung und Stellensuche runden das Angebot ab.
Aber auch Männer seien inzwischen auf
den Geschmack gekommen, berichtet Xhevrie Byku; sie besorgen nun
selbst, was den schwachen Staat offensichtlich überfordert -
Sie beseitigen nicht nur den Abfall, sondern halten auch an
wichtigen Stellen das Wegesystem in Schuss.
Über ihre Zukunftsängste reden nur
die wenigsten Bewohner von Keneta, bekräftigt Xhevrie Byku.
Vorherrschend sei viel eher ein permanentes Gefühl der
Unsicherheit. Das ist jedoch offenbar nicht so stark, dass es die
Menschen davon abhalten könnte, irgendwann einmal den Bau des
nächsten Stockwerks in Angriff zu nehmen.
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