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Robert Luchs
Schutthalden der Träume von einem besseren
Leben
Wie die "Müllkinder" von Phnom Penh ums
Überleben kämpfen
Phnom Penh. Glaubt man dem Kalender, müsste die Regenzeit
längst vorbei sein. Doch dass auch in Kambodscha der
Klimawandel die Gesetzmäßigkeiten durcheinander wirbelt,
beweisen stundenlange tropische Regenfälle in eindrucksvoller
Heftigkeit. Auf dem Weg zum östlichen Stadtrand der Hauptstadt
Phnom Penh kommt der Wagen nur langsam voran. Die Schlaglöcher
sind mit Wasser gefüllt, noch hundert Meter, dann streikt der
Fahrer. Beim Aussteigen steht man knietief im Schlamm.
Beißender Qualm zeigt das Ziel an: Die Müllhalden der
Metropole, die "garbage hills", erheben sich grau in grau. Schritt
für Schritt geht es auf schwankendem Boden nach oben, vorbei
an messerscharfen Glas- und Flaschenresten, an verrosteten Dosen
und Plastiksäck-en. Der Gestank wird immer penetranter, alle
Abfälle Kambodschas scheinen sich hier zu einem
unerträglichen Gemisch aufzutürmen.
Rauchfahnen stehen über dem Hügel, dazwischen tauchen
neben einigen, in zerlumpte Jacken gehüllten Erwachsenen
mehrere Kinder auf. Mit Stöcken stochern sie in den
Überresten aus den Müllplätzen der
Millionenstadt.
Die 13-jährige Cheam ist eines von rund 200 Kindern, die
hier nicht nur nach verwertbaren Abfällen suchen, sondern auch
in einer aus mehreren Stangen und Plastikplanen
behelfsmäßig errichteten Hütte leben. Der Dauerregen
hat ihr arg zugesetzt, das von der Nässe vollgesogene Dach
hängt tief durch. Mehrere dieser Hütten sind über
den Müllberg verteilt, wo der faulige Gestank inzwischen
unerträglich geworden ist.
Wie auf Kommando rennt Cheam plötzlich los, springt
über eine zerbeulte Tonne und taucht in einen Pulk von Kindern
ein - soeben hat wieder ein Lastwagen seine Ladung abgekippt, und
nur wer schnell ist und einen guten Blick für intakte
Flaschen, Dosen, Aluminium und Plastik hat, kann auf der Halde
überleben. Cheam hat heute Glück, geübt schiebt sie
mehrere Plastiksäcke zusammen, und auch einen Korb nimmt sie
mit, den sie beim Schrotthändler gut verkaufen kann.
Es ist ein Hungerlohn, der kaum zum Überleben ausreicht,
den Cheam und ihre Eltern auf dem städtischen Müllberg
verdienen. Ihre beiden Geschwis-ter sind klein und können noch
nicht zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. War es früher
noch ein Dollar am Tag, so bekommen die Müllsammler inzwischen
lediglich die Hälfte, etwa 2.000 kambodschanische Riel,
erklärt Chea Pyden, der seine ganze Kraft für die
Menschen hier einsetzt.
Ein halber Dollar, das ist viel weniger als das ohnehin
äußerst knappe jährliche Durchschnittseinkommen von
rund 300 Dollar. Die Zwischenhändler, die mit der Drecksarbeit
nichts zu tun haben, leben nicht schlecht von dem, was unter
unvorstellbaren Bedingungen zusammengetragen wird.
Chea Pyden ist Direktor der "Vulnerable Children Assistance
Organisation (VCAO), einer Organisation also, die
schutzbedürftigen Kindern hilft. Unterhalb des Müllbergs
hat die Hilfsorganisation ein einfaches Haus errichtet, wo die
Kinder nach ihrer Arbeit unterrichtet werden. Es ist ein
Minimalunterricht, aber immerhin sind die Kinder nicht der
Straße ausgeliefert, wo die Gefahr durch Drogenkonsum
ständig wächst. Der Unterricht ist kostenlos, doch
bekommen die in Kambodscha völlig unterbezahlten Lehrer einige
hundert Riel zugesteckt.
In einem anderen Raum stehen einige alte Nähmaschinen.
Mädchen werden von freiwilligen Helferinnen im Zuschneiden und
Nähen unterwiesen. Dem Engagement von Chea Pyden ist es zu
verdanken, dass die städtischen Behörden kooperieren.
Finanzielle Hilfe ist von ihnen zwar nicht zu erwarten, doch sie
kümmern sich um Gesundheitskontrolle und Impfungen. Die
Mitarbeiter wissen, dass die Kinder auf das Geld, das sie auf der
stinkenden Halde verdienen, dringend angewiesen sind. "Deshalb
haben wir den Unterricht auf den Nachmittag gelegt, wo nicht so
viel Müllwagen kommen", sagt Chea Pyden. Dann allerdings sind
die Kinder müde, manche schlafen beim Unterricht ein.
Ihre Erschöpfung wurde der kleinen Sral Srey Nick zum
Verhängnis. Nur kurz war sie vor zwei Jahren auf einem
Abfallhaufen eingeschlafen, als ein Müllwagen über sie
hinwegrollte. Die Elfjährige war sofort tot. Die
Hilfsorganisation protestierte bei den zuständigen
Behörden, nachdem es auch schon früher zu tödlichen
Unfällen gekommen war. Seitdem hat es keine weiteren
Todesfälle mehr gegeben.
In sechs Klassen lernen jeweils 180 bis 200 Schüler. Von
den von der Hilfsorganisation "terre des hommes" unterstützten
Kindern kommen viele aus schwierigen Familien. Täglich erleben
sie häusliche Gewalt, Drogen- und Gewaltexzesse. Um so
erstaunlicher ist es, dass bisher über 150 Familien mit Hilfe
von VCAO eine andere Arbeit aufgenommen haben und von der
Müllhalde wegziehen konnten.
Chea Pyden sieht dies ganz und gar nicht euphorisch: "Jede
dieser Familien wird durch eine andere ersetzt, die aus den
Provinzen kommen, um Arbeit zu finden. So bildet der Müll die
schmale Existenzgrundlage für etwa 500 Familien. Auf der
rauchenden Schutthalde enden alle Träume von einem anderen,
einem besseren Leben.
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