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Johannes Zang
"Es kann nicht schlimmer kommen"
Die Palästinenser haben radikal
gewählt und sehnen sich nach Normalität
Bethlehem/Jerusalem. Samar Ghattas scheint sich nicht sonderlich
für die palästinensischen Wahlen zum Autonomierat zu
interessieren, sie weiß nicht einmal, dass 13 Parteien
antreten. Die Künstlerin aus Bethlehem denkt nur an eines:
ihre Ausstellung am nächsten Mittwoch in Jerusalem. Ihre erste
in der heiligen Stadt. Doch da ist die Mauer und der "Terminal
Rachel" - so heißt der israelische Kontrollpunkt neuerdings.
Werden ihr die israelischen Behörden am Tag der Ausstellung
die Reise nach Jerusalem erlauben?
Gerade eben hat der palästinensischen Christin ein
Deutscher Papiere gebracht, die ihr zu dem benötigten
israelischen Passierschein verhelfen sollen. Ohne diesen kann sie
den israelischen Kontrollpunkt unmittelbar an der Mauer nicht
überqueren. "Bist Du mit dem Fahrrad gekommen?", fragt sie
ungläubig den in Jerusalem arbeitenden Orgellehrer, als dieser
den Helm abnimmt. "Mit dem Rad brauche ich nur eine halbe Stunde
und am Kontrollpunkt war ich in einer halben Minute durch." Die
Mittdreißigerin zieht die Augenbrauen hoch, wohl eine Art
Kompliment, dann überfliegt sie das auf Englisch gehaltene
Schreiben des theologischen Studienjahres der Abtei Hagia Maria
Sion, Veranstalterin der Ausstellung. "Die Uhrzeit fehlt",
bemängelt Frau Ghattas. Leichte Nervosität liegt in ihren
Gesichtszügen. Dann Erleichterung - auf dem zweiten Schreiben
entdeckt sie "19.30 Uhr". "Heute nachmittag will ich den
Passierschein beantragen", sagt sie. Doch ob die
palästinensische Stelle, die die Passierscheine mit dem
israelischen Militärgouverneur koordiniert, am Wahltag
arbeitet?
Beim Gang durch Bethlehem fällt dem Besucher an diesem
wolkenverhangenen Tag das Meer an Wahlplakaten auf. An
Hauswänden und Laternenmasten, an Autotüren und
Windschutzscheiben prangen die Kandidaten. Quer über
Straßen gespannt, lachen sie von Bannern herunter und
versprechen (das Blaue?) im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel
herunter. Vereinzelt hupen sich mit palästinensischen Flaggen
geschmückte Autos durch die Straßen. Schulen bleiben
geschlossen, einige der Geschäfte auch. Beim
Olivenholzschnitzer Giacaman am Krippenplatz steht indes - trotz
der Kälte - die Tür offen. Um eine Prognose gebeten, gibt
sich Joseph zurückhaltend. "Alles ist noch unklar." Was ihn
viel mehr beschäftigt, ist die Frage: "Warum kommen kaum
Pilger in sein Geschäft?", etwa 200 Meter von der
Geburtskirche entfernt. Immer wieder sieht er Pilgergruppen auf dem
Weg zur Kirche, nach dem Besuch jedoch würden diese zum Bus
zurückeilen. Der Zukunft seines Geschäftes, an dem etwa
ein Dutzend Familien hängt, sieht er sorgenvoll entgegen.
Im Beit Gibrin-Flüchtlingslager, einem von dreien in
Bethlehem, hat sich eine Menschentraube vor dem Wahllokal gebildet.
Manch einer trägt hier einen Schal in den Nationalfarben.
Etliche Kinder haben sich ein grünes Kopftuch umgebunden und
geben sich als Hamas-Sympathisanten zu erkennen.
Meinungsumfragen hatten bis zuletzt einen Vorsprung von Fatah
vorausgesagt. Wahlforscher hatten indes eingeräumt, dass
dieser bei Regen schmelzen könnte. Denn dann - so die
vermeintlichen Kenner der Volksseele - würden eher
Hamas-Anhänger das Haus verlassen als deren Gegner.
Und wer hat nun gewonnen? War bei Schließung der Wahllokale
am 25. Januar noch gemeldet worden, Fatah hätte 58 und Hamas
53 Sitze errungen, so entstand am Tag danach ein spiegelverkehrtes
Bild. Hamas selbst erklärte sich zum Sieger und einige
Fatah-Leute bestätigten die Mehrheit des Erzwidersachers.
Wenige Stunden später trat das palästinensische Kabinett
unter Ministerpräsident Ahmed Kureia zurück.
Waren die Warnungen von Fatah verpufft, denen zufolge ein
Hamas-Sieg ein Ende der finanziellen Hilfe der internationalen
Staatengemeinschaft an die palästinensische
Autonomiebehörde bedeuten würde? Waren die Drohungen, die
"muslimischen Extremisten" würden allen Palästinensern
einen "unmöglichen Lebensstil" aufzwingen, an diesen ohne
Wirkung abgeprallt?
Hamas-Führer Ismail Haniya präzisierte im Laufe des
Tages den Sieg: "Hamas hat mehr als 70 Sitze in Gaza und dem
West-Jordanland gewonnen, was eine Mehrheit der Stimmen bedeutet."
Nach Auszählung von rund 95 Prozent der Stimmen stand am
vergangenen Donnerstagabend dann fest: Die Hamas erhält mit 76
der 132 Mandate die absolute Mehrheit.
Mahdi F. Abdul Hadi, Professor für Geschichte, hatte dies
im Gespräch mit "Das Parlament" vor Wochen schon vorausgesagt.
Der Gründer und Vorsitzende von "Passia", der
Palästinensischen Akademischen Gesellschaft zum Studium
internationaler Angelegenheiten hatte Hamas im Rennen gegen die
"unfähigen korrupten Greise" von Fatah vorne gesehen. Für
ihn würde Fatah mit ihrer "Führungs- und Visionskrise"
den Kürzeren ziehen gegenüber Hamas, der "islamischen,
vereinten Bewegung mit einer Vision, einer Mission und einer
Führung". Und was will die Hamas eigentlich? Der Name Hamas
ist ein Akronym aus "Harakat al-muqawama al-islami-yya", was soviel
wie "Islamische Widerstandsbewegung" bedeutet. Der Name selbst
bedeutet im Arabischen "Begeisterung" und "Eifer". Die
Gründungscharta der Hamas von 1988 erklärt "die Fahne
Allahs über jedem Zoll von Palästina aufzuziehen" zum
Ziel der Organisation. Die gesamte Region Palästina und damit
auch Israel sieht die Bewegung als "islamisches Heimatland", das
niemals Nicht-Muslimen überlassen werden dürfe. Pflicht
eines jeden Muslims sei es, für die Eroberung Israels zu
kämpfen. Fernziel ist die Errichtung einer islamischen
Theokratie. Hamas-Organisationen haben sowohl politische Mittel als
auch Gewalt angewandt, um ihre Ziele zu erreichen.
Friedensinitiativen werden von der Hamas als "reine
Zeitverschwendung" abgelehnt. Sie seien "nichts anderes als ein
Mittel, um Ungläubige als Schlichter in den islamischen
Ländern zu bestimmen", für Palästina gebe es keine
andere Lösung als den Dschihad, wie Artikel 13 der Charta
sagt.
Ihre Beliebtheit verdankt die Hamas nicht zuletzt ihrem
karitativen Engagement sowie dem für Bildung und medizinische
Versorgung. Der politisch-karitative Arm der Hamas wurde von Israel
anerkannt. Viele Experten stimmen darin überein, dass Israel
die Hamas unangetastet ließ, um sie der weltlichen
Fatah-Bewegung Jassir Arafats entgegenzusetzen, manche sprechen gar
von einer Unterstützung durch Israel.
Für den Aufstieg der Widerstandsbewegung machte der
palästinensische Minister Saeb Erekat am Tag nach der Wahl
jedenfalls Israel zusammen mit den Vereinigten Staaten
verantwortlich. Passia-Chef Abdul Hadi hatte vor den Wahlen noch
schärfer formuliert: "Israel stimmt indirekt für Hamas,
da es der Hamas den Wahlkampf in Ost-Jerusalem verbietet." Israels
Botschaft laute damit: "Unser Feind ist die Hamas. Somit werden die
Leute für den israelischen Feind stimmen", hatte Abdul Hadi
prophezeit.
Wo steht die Hamas, die bei dieser Wahl unter dem Motto "Wechsel
und Reform" angetreten ist, jetzt? Vor den Wahlen hatte der
Hamas-Führer Mahmud Asahar in Gaza mit seiner Aussage
aufhorchen lassen, dass Verhandlungen mit Israel "kein Tabu" seien.
Und in der Vergangenheit hatten führende Hamasköpfe
eingeräumt, sich mit einem Staat innerhalb des
West-Jordanlandes, des Gaza-Streifens und Ost-Jerusalems zufrieden
zu geben. Nach Meinung des israelischen Politologen Gershon Baskin
hätten zwei von Israel im vergangenen Herbst verhaftete
Hamas-Aktivisten begonnen, das "Hamas-Programm umzugestalten". Sie
hätten sogar vorgeschlagen, den Hamas-Schwur, der "zur
Zerstörung Israels aufruft" zu ändern. Und Scheich Hassan
Yousef habe geäußert, dass ein
"Zehn-Jahre-Waffenstillstand mit Israel möglich und für
weitere zehn Jahre erneuerbar" sei, sollte Israel sich von allen
besetzten Gebieten zurückziehen. Der in Haft sitzende
Hamasführer Mohammed Ghazal soll gesagt haben, dass die
Hamas-Charta "nicht der Koran" und deshalb änderbar sei.
Für Baskin stellten deshalb die Verhaftungen "nicht gerade das
dar, an dem Israel interessiert sein sollte". Für den Israeli,
der zusammen mit dem Palästinenser Hanna Siniora die
"israelisch-palästinensische Denkfabrik" IPCRI leitet,
befindet sich Hamas in einem "Prozess der Evolution", in dem es
"seine Seele sucht". Er als Israeli frage sich, ob die Hamas, die
"deine Zerstörung anstrebt", ein Verhandlungspartner für
Israel sein kann.
Um eine Stellungnahme zum Wahlausgang gebeten, antwortet Baskins
Kollege Siniora: "Die Menschen wollten den Wechsel und sie bekamen
ihn." Und was werden die Konsequenzen für den Alltag der
Menschen sein? "Es kann ja gar nicht schlimmer kommen", so der
Palästinenser.
Angesichts von 376 israelischen Barrieren im West-Jordanland -
nicht einmal halb so groß wie Thüringen - gut
verständlich. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist seit 1999
um 38 Prozent zurückgegangen. Nahezu die Hälfte der
Palästinenser lebt - bei einer Arbeitslosenrate von 27 Prozent
- unterhalb der Armutsgrenze, das heißt mit weniger als zwei
Dollar am Tag.
Gershon Baskin hatte sein Land schon vor Monaten aufgefordert,
Mahmud Abbas zu unterstützen. Dieser müsse "richtige
Ergebnisse" vorlegen, um Zuspruch zu gewinnen. "Die
(palästinensischen, die Red.) Gebiete müssen
geöffnet werden", hatte Baskin gefordert. "Der
Durchschnittspalästinenser muss in die Lage versetzt werden zu
verstehen, dass Frieden sich bezahlt macht." Ariel Scharon
müsse die israelische Hand zu Abbas ausstrecken und sich
engagieren.
Viel ist wohl auf beiden Seiten seitdem nicht geschehen, sonst
müsste sich Samar Ghattas jetzt nicht den Kopf wegen ihrer
Ausstellungseröffnung zerbrechen. Wenn sie einen Passierschein
erhalten sollte, für wieviele Stunden wird er gültig
sein?, fragt sie sich. Nur bis 19 Uhr, wie er für viele in
Israel tätige palästinensische Arbeiter ausgestellt wird?
Oder gar bis 22 Uhr? Das Zittern bleibt. Für sie ist es nach
wie vor einfacher und kalkulierbarer, nach Jordanien, Japan oder
Deutschland zu reisen als die acht Kilometer zum Zionsberg in
Jerusalem.
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