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Ursula Homann
Gibt es wieder "die Judenfrage"?
Moshe Zimmermann über Judenhass und soziale
Probleme
Der Antisemitismus ist ein trübes Kapitel
mit vielfältigen Aspekten. Dieser Eindruck drängt sich
auf, sobald man sich in die Aufsätze vertieft, die der
israelische Historiker Moshe Zimmermann während der letzten 25
Jahre für unterschiedliche Publikationen verfasst und nun,
überarbeitet und mit aktuellen biografischen Hinweisen
versehen, in einem Sammelband neu herausgegeben hat.
Zimmermanns Beiträge zeigen sehr
deutlich, wie sich in Deutschland der Judenhass - ab 1879
Antisemitismus genannt - seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis in
die Gegenwart hinein entwickelt hat, welche Funktion er für
die deutsche Gesellschaft hatte, wie deutsche Juden versuchten, mit
dieser Provokation fertig zu werden und wie Historiker das
Phänomen bewertet und eingeordnet haben. Manche
Diskontinuitäten und auch Ungereimtheiten in der Entwicklung
des Antisemitismus treten dabei sowohl auf individueller wie auf
kollektiver Ebene zutage.
Weder Adolf Hitler noch Theodor Fritsch noch
Julius Streicher wurden als Antisemiten geboren. Wilhelm Marr, der
Schöpfer des Begriffs Antisemitismus, entpuppte sich erst im
Alter von 40 Jahren als bewusster "Judenfresser". Doch gibt es auch
Beispiele in umgekehrter Richtung. Helmuth von Gerlach
überzeugte durch seine Hinwendung "von Rechts nach Links",
während Friedrich Naumann als junger Pfarrer mit dem
Antisemiten und Berliner Hofprediger Adolf Stoecker kooperierte, um
sich nach seinem Wandel zum Liberalen klar und offen vom
Antisemitismus zu distanzieren.
Wie aber konnte ausgerechnet in der Zeit der
Emanzipation und rechtlichen Gleichstellung der Juden der
Antisemitismus derart anwachsen? Zimmermann konstatiert einen
Zusammenhang zwischen der "sozialen" und der "nationalen Frage".
Viele, die sich durch Industrialisierung und Modernisierung
gefährdet fühlten, schmähten die Juden. Die letzten
Schranken fielen nach 1933, nachdem alle staatlichen Organe und
Institutionen in Deutschland in den Dienst der "Lösung der
Judenfrage" gestellt worden waren und so der Weg vom Vorurteil
über die Technik zur radikalsten Tat frei geworden
war.
Wie indessen verlief die jüdische
Auseinandersetzung mit dem deutschen Judenhass? Nicht wenige Juden
sahen im jüdischen Nationalismus und Zionismus eine
angemessene Antwort auf den Antisemitismus. Allerdings machte sich
in der jüdischen Bewegung der Selbstemanzipation am Ende eine
deutlich antiliberale und antiaufklärerische Strömung
breit. Man wetterte gegen Mischehen und plädierte für die
"Reinerhaltung der jüdischen Art". Jedoch sollten, mahnt
Zimmermann, die aufklärerischen Komponenten des nationalen
Judentums nicht übersehen werden. Es gab den "Verein zur
Abwehr des Antisemitismus", in dem Juden und Nichtjuden
zusammenarbeiteten. Zugleich bemühte man sich, um eine weitere
Steigerung des Antisemitismus zu verhindern, die vermehrt in den
Westen flüchtenden Ostjuden so reibungslos wie möglich in
Richtung Amerika oder Palästina zu befördern.
Fatale Fehleinschätzung
In der Weimarer Republik wiederum dachten die
meisten Juden und das gesamte Bürgertum, die Gefahr des
Kommunismus sei gravierender als die Gefahr von Rechts. Nach dem
30. Januar 1933 entstand in Deutschland die "innere Emigration" als
Reaktion auf die Diktatur. Nur wenige schätzten die
NS-Pläne realistisch ein. Kaum einer ahnte, was sich dann
später, nach 1935 und 1938, tatsächlich abspielen
würde.
Nach 1945 habe der Antisemitismus, obgleich
Vorurteile gegenüber Juden noch keineswegs verschwunden seien,
erheblich an Bedeutung verloren, meint der israelische Historiker.
Das hänge nicht nur mit dem Schrecken von Auschwitz zusammen,
sondern auch damit, dass die soziale Frage und die nationale Frage
lange Zeit nicht mehr als Synonyme für die "Judenfrage"
instrumentalisierbar gewesen seien. Allerdings habe die
gegenwärtige Gefährdung des Wohlfahrtsstaates in
Deutschland "die Voraussetzung für eine erneute Thematisierung
der ,Judenfrage' und für eine Aktualisierung des Themas des
Antisemitismus" geschaffen.
Das ist eine, wie mir scheint, recht gewagte
These. Sollten wirklich wieder einmal nur die ökonomischen
Verhältnisse unser Denken bestimmen? Hat der aufgeklärte
und sich seiner geschichtlichen Verantwortung bewusste Geist denn
gar nichts zu vermelden? Die so genannte Judenfrage sollte doch
längst als Chimäre durchschaut und ad acta gelegt worden
sein!
Als Resümee bleibt festzuhalten, dass
Moshe Zimmermann mit großer wissenschaftlicher
Gründlichkeit, anhand zahlreicher Details und konkreter
Beispiele, den keineswegs gradlinigen Weg des Antisemitismus
verfolgt. Er schneidet viele Fragen und Probleme an und vermittelt
eine, mitunter verwirrende Fülle von Informationen.
Bedauerlicherweise hat sich der Druckfehlerteufel fast ungehindert
austoben können, obwohl ihm sicherlich nicht allein auch noch
die grammatikalischen und stilistischen Ungenauigkeiten in den
übersetzten Beiträgen anzulasten sind.
Moshe Zimmermann
Deutsch-jüdische
Vergangenheit.
Der Judenhaß als
Herausforderung.
Schöningh Verlag, Paderborn 2005; 308
S., 29,90 Euro
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