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Wichard Woyke
Frankreichs tiefste innere Spaltung
Wiederentdeckt: Léon Blums Analyse der
Dreyfus-Affäre
Léon Blum, 1872 geboren und von1936 bis 1938 Frankreichs
Ministerpräsident der Volksfrontregierung, setzte in dieser
Zeit zahlreiche Reformen in Gang, vor allem das Recht auf bezahlten
Urlaub. Blum wurde, wie viele Vertreter der französischen
Linken, stark von der Dreyfus-Affäre geprägt. Bei der
Dreyfus-Affäre handelte es sich um die schwerste
innenpolitische Krise der Dritten Republik.
Aufgrund eines angeblich aus der Deutschen Botschaft stammenden
Schriftstücks wurde der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus
im Oktober 1894 verhaftet, von der antisemitischen Presse verfemt
und in einem juristisch nicht haltbaren Verfahren im Dezember 1894
kriegsgerichtlich zu Degradierung und lebenslänglicher
Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt. Erst zwei Jahre
später wurde der Generalstabsoffizier Esterhazy als wahrer
Schuldiger ausgemacht, was Verteidigungsministerium und Generalstab
aber nicht hinderten, starr an der Schuld von Dreyfus
festzuhalten.
Zolas zorniges "J'accuse"
Als der Schriftsteller Emil Zola 1898 in einem offenen Brief in
Clemencaus Zeitung "L' Aurore" unter dem berühmt gewordenen
Titel "J'accuse" das Verhalten gegen Dreyfus attackierte, wurde er
dafür verurteilt. Es kam zur innenpolitischen Machtfrage. 1899
wurde in einem Revisionsprozess Dreyfus erneut rechtswidrig zu zehn
Jahren Festungshaft verurteilt, später begnadigt und erst 1906
vom Kassationsgerichthof voll rehabilitiert.
Blums Buch zeichnet diese Entwicklung vor dem Hintergrund eines
voller Ideale steckenden jungen Politikers nach, der staunend
lernen musste, dass es nicht in jeder Beziehung um die Wahrheit
ging, sondern dass die Dreyfus-Affäre auch für die
Interessen der unterschiedlichsten Akteure instrumentalisiert
wurde.
Blum erkannte, dass die Dreyfusards, also diejenigen, die von
der Unschuld des jüdischen Hauptmanns überzeugt waren,
nach der Entdeckung des wahren Schuldigen keine Unterstützung
in der Gesellschaft erhielten, sondern dass sich Monarchisten,
Adel, Armee, Großbürgertum und Klerus gegen die
Wiederaufnahme des Verfahrens gestemmt hatten. "Warum gab es einen
derartigen Widerstand gegen die Wahrheit, die Gerechtigkeit? Was
hatte die Verblendung, diese Bosheit der Menschen zu bedeuten?",
fragt Léon Blum. Er sah, dass die Dreyfus-Affäre die
älteren Gegensätze zwischen Konservativen und
Radikalrepublikanern wieder aufriss und dass das ganze Land in zwei
unversöhnliche Lager gespalten, ja geradezu paralysiert
war.
Die Leidenschaften waren erregt bis zur Gewalttätigkeit.
Der Inhalt des Kampfes hatte sich inzwischen verändert: "Man
kämpfte nicht mehr für oder gegen Dreyfus, für oder
gegen die Revision - man kämpfte für oder gegen die
Republik, für oder gegen den Militarismus, für oder gegen
den säkularisierten Staat. Und während sich Gegenstand
und Preis des Kampfes geändert hatten, hatte sich auch in den
Reihen der Kämpfer der Wechsel vollzogen. Das republikanische
Lager hatte viele Gegner der Revision aufgenommen, viele
Gleichgültige, viele ihrer nur lauwarmen oder feigen
Anhänger. Umgekehrt waren viele Dreyfusards der ersten Stunde
wieder auf das ihnen natürliche Terrain zurückgekehrt,
ins Lager der Reaktion."
Geradezu resigniert stellt Blum fest, dass sich wenige Jahre
nach der die Republik spaltenden Dreyfus-Affäre Gesellschaft,
Politik, Gruppen und Individuen genau wieder in einem Zustand
befanden, als wäre nicht geschehen.
Léon Blum
Beschwörung der Schatten.
Die Affäre Dreyfus.
Aus dem Französischen, mit einer Einleitung und mit
Anmerkungen versehen von Joachim Kalka.
Berenberg Verlag, Berlin 2005; 117 S., 19,- Euro
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