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Das Parlament
Nr. 05 / 30.01.2006

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Wichard Woyke

Frankreichs tiefste innere Spaltung

Wiederentdeckt: Léon Blums Analyse der Dreyfus-Affäre

Léon Blum, 1872 geboren und von1936 bis 1938 Frankreichs Ministerpräsident der Volksfrontregierung, setzte in dieser Zeit zahlreiche Reformen in Gang, vor allem das Recht auf bezahlten Urlaub. Blum wurde, wie viele Vertreter der französischen Linken, stark von der Dreyfus-Affäre geprägt. Bei der Dreyfus-Affäre handelte es sich um die schwerste innenpolitische Krise der Dritten Republik.

Aufgrund eines angeblich aus der Deutschen Botschaft stammenden Schriftstücks wurde der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus im Oktober 1894 verhaftet, von der antisemitischen Presse verfemt und in einem juristisch nicht haltbaren Verfahren im Dezember 1894 kriegsgerichtlich zu Degradierung und lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt. Erst zwei Jahre später wurde der Generalstabsoffizier Esterhazy als wahrer Schuldiger ausgemacht, was Verteidigungsministerium und Generalstab aber nicht hinderten, starr an der Schuld von Dreyfus festzuhalten.

Zolas zorniges "J'accuse"

Als der Schriftsteller Emil Zola 1898 in einem offenen Brief in Clemencaus Zeitung "L' Aurore" unter dem berühmt gewordenen Titel "J'accuse" das Verhalten gegen Dreyfus attackierte, wurde er dafür verurteilt. Es kam zur innenpolitischen Machtfrage. 1899 wurde in einem Revisionsprozess Dreyfus erneut rechtswidrig zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt, später begnadigt und erst 1906 vom Kassationsgerichthof voll rehabilitiert.

Blums Buch zeichnet diese Entwicklung vor dem Hintergrund eines voller Ideale steckenden jungen Politikers nach, der staunend lernen musste, dass es nicht in jeder Beziehung um die Wahrheit ging, sondern dass die Dreyfus-Affäre auch für die Interessen der unterschiedlichsten Akteure instrumentalisiert wurde.

Blum erkannte, dass die Dreyfusards, also diejenigen, die von der Unschuld des jüdischen Hauptmanns überzeugt waren, nach der Entdeckung des wahren Schuldigen keine Unterstützung in der Gesellschaft erhielten, sondern dass sich Monarchisten, Adel, Armee, Großbürgertum und Klerus gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens gestemmt hatten. "Warum gab es einen derartigen Widerstand gegen die Wahrheit, die Gerechtigkeit? Was hatte die Verblendung, diese Bosheit der Menschen zu bedeuten?", fragt Léon Blum. Er sah, dass die Dreyfus-Affäre die älteren Gegensätze zwischen Konservativen und Radikalrepublikanern wieder aufriss und dass das ganze Land in zwei unversöhnliche Lager gespalten, ja geradezu paralysiert war.

Die Leidenschaften waren erregt bis zur Gewalttätigkeit. Der Inhalt des Kampfes hatte sich inzwischen verändert: "Man kämpfte nicht mehr für oder gegen Dreyfus, für oder gegen die Revision - man kämpfte für oder gegen die Republik, für oder gegen den Militarismus, für oder gegen den säkularisierten Staat. Und während sich Gegenstand und Preis des Kampfes geändert hatten, hatte sich auch in den Reihen der Kämpfer der Wechsel vollzogen. Das republikanische Lager hatte viele Gegner der Revision aufgenommen, viele Gleichgültige, viele ihrer nur lauwarmen oder feigen Anhänger. Umgekehrt waren viele Dreyfusards der ersten Stunde wieder auf das ihnen natürliche Terrain zurückgekehrt, ins Lager der Reaktion."

Geradezu resigniert stellt Blum fest, dass sich wenige Jahre nach der die Republik spaltenden Dreyfus-Affäre Gesellschaft, Politik, Gruppen und Individuen genau wieder in einem Zustand befanden, als wäre nicht geschehen.


Léon Blum

Beschwörung der Schatten.

Die Affäre Dreyfus.

Aus dem Französischen, mit einer Einleitung und mit Anmerkungen versehen von Joachim Kalka.

Berenberg Verlag, Berlin 2005; 117 S., 19,- Euro

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