Aleaxander Kühne
Selbstbehauptung
Nationale Parlamente und die EU
Der Schriftsteller L. Frank Baum erzählt im "Zauberer von
Oz" die Geschichte des Mädchens Dorothy, das
wunschgemäß in ein Land jenseits des Regenbogens gelangt.
Umgemünzt auf den Prozess der europäischen Integration
könnte man die Geschichte so lesen: Dorothy (die
Mitgliedstaaten der EU) verirrt sich fern der Heimat in ihrem lang
ersehnten Ort (die Europäische Union). Nach einer langen und
unwegsamen Reise weiß Dorothy schließlich, sich an die
fremde Umgebung anzupassen, indem sie die magische Kraft ihrer
neuen roten Schuhe entdeckt.
Dieser "Anpassung" wendet sich Matthias Zier zu. Er rückt
die Frage nach dem Einfluss der Vergemeinschaftung auf die
Institutionen der Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt seiner
Betrachtung. Er kann zeigen, dass die Verlagerung politischer und
wirtschaftlicher Kompetenzen auf die EG beziehungsweise EU die
Institutionen der Nationalstaaten nachhaltig verändert.
Unstrittig ist, dass es eine horizontale Machtverschiebung von
der Legislative hin zur Exekutive gegeben hat. Das zeigt bereits
der Anteil an transnationaler Rechtssetzung, welcher innerhalb der
Mitgliedstaaten seit der Gründung der Europäischen
Gemeinschaften beständig zugenommen hat. Mit dem damit
verbundenen Zuwachs an Kompetenzen auf der europäischen Ebene
gehen nahezu zwangsläufig ein Verlust nationaler
Gesetzgebungsbefugnisse und eine "Abwertung" der
Gesetzgebungsorgane einher.
Oldie und Newcomer
Ziers Band ist insofern hochaktuell und zudem spannend zu lesen.
In seiner empirisch und historisch-chronologisch aufgebauten
Vergleichsstudie beleuchtet der Autor die parlamentarische, auf die
Europapolitik der Regierungen in Deutschland, Österreich und
Dänemark gerichtete Kontrolle. Damit stehen ein
Gründungsmitglied, ein Teilnehmer der Erweiterung von 1973 und
ein Angehöriger der Beitrittsrunde von 1995 im Mittelpunkt.
Zier will den Gegebenheiten der einzelnen Länder gerecht
werden, gleichwohl aber staatenübergreifend nach
Möglichkeiten für verallgemeinerungsfähige
Interpretationen suchen.
Im Kern der Betrachtung stehen die nationale Ebene sowie die
institutionelle Anpassung, die auf ihr stattfindet. Zwar wird bis
heute die Rolle des Europäischen Parlaments, sehr viel weniger
aber die Rolle einzelstaatlicher Parlamente problematisiert. Deren
legitimatorische Funktion wird oft genug als erfüllt
vorausgesetzt. Zier löst sich von dieser starren Denkfigur und
macht so die Rolle nationaler Parlamente im Mehrebenensystem einer
empirischen Überprüfung zugänglich.
Dazu wird entlang der zentralen Regierungskonferenzen eine
historisch-chronologische Einteilung in fünf einzelne Phasen
vorgenommen. Für jede Phase wird die Fragestellung
vergleichend erörtert, so dass der gesamte Prozess der
Integration erfasst wird. Diese Vorgehensweise unterscheidet Ziers
Untersuchung von bereits vorhandenen Studien, weil diese sich in
aller Regel auf die Gegenwart und die nähere Vergangenheit
beschränken.
Der Hauptteil der Arbeit widmet sich zwei zentralen
Fragestellungen. Erstens: Welche Gemeinsamkeiten und welche
Unterschiede weisen die Legislativen bei möglichem
Funktionsverlust auf? Welche Institutionen schaffen sich die
einzelnen Parlamente, um dem Integrationsprozess gerecht zu werden,
wie werden diese genutzt oder nicht, modifiziert oder gar
verworfen? Und zweitens: In welcher Art und Weise erfüllen die
Parlamente ihre Aufgaben, und welchen Beitrag können sie zur
Steuerung des politischen Prozesses noch leisten?
Man liest dieses Buch mit hohem Gewinn. Es besticht durch
einprägsame, klare und angenehm bildhafte Sprache. Die
materialreiche Arbeit liefert einen wichtigen Beitrag zur
Erforschung nationaler Parlamente im Integrationsprozess der EU.
Das Buch wird sowohl für den wissenschaftlich Arbeitenden als
auch für den politischen Praktiker eine unerlässliche
Quelle sein. Bleibt nur zu hoffen, dass der Prozess der
europäischen Integration ein anderes Ende findet als der
Zauberer von Oz. Dorothy entdeckt, dass es nirgends schöner
ist als zu Hause und verlässt das Land jenseits des
Regenbogens wieder.
Matthias Zier
Nationale Parlamente in der EU.
Vandenhoeck & Ruprecht unipress, Göttingen 2005; 392
S., 39,90 Euro
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