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Johanna Metz
Laboratorien für die Zukunft der
Städte
Essen und Görlitz wollen 2010
Kulturhauptstadt Europas werden
Eines ist sicher: Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2010 wird
eine deutsche Stadt sein. Fristgerecht zum 31. Dezember 2005 hat
das Auswärtige Amt die Bewerbungsunterlagen von Essen und
Görlitz bei der Europäischen Kommission eingereicht.
Nachdem beide Städte im vergangenen Jahr eine nationale Jury
von ihren Konzepten überzeugt hatten, geht der Schlagabtausch
der Finalisten in die letzte Runde: Noch knapp 100 Tage haben sie
Zeit, die EU-Gremien von ihrer Bewerbung zu überzeugen. Zur
Abstimmung stehen zwei Konzepte, die so unterschiedlich sind wie
die Kandidaten: Denn Essen gegen Görlitz, das ist eben auch
Industriezentrum gegen Provinz- idyll, Zechenromantik gegen barocke
Bürgerlichkeit, und sogar ein Stück "alter" Westen gegen
"neuen" Osten.
Görlitz, die östlichste Stadt des Landes, liegt direkt
am Ufer der Neiße, mitten im Dreiländereck zwischen
Polen, Tschechien und Deutschland. Nachdem die Stadt den Krieg
relativ unbeschadet überstanden hatte, wurde sie 1945 in Folge
des Potsdamer Abkommens geteilt: Der östliche Teil der Stadt,
das heutige Zgorzelec, gehörte fortan zu Polen, der andere
fristete in den folgenden Jahrzehnten am äußersten Rand
der DDR ein Nischendasein. Erst nach der Wende wurde die
historische Altstadt mit großem Aufwand saniert. Seither reiht
sich im Stadtkern ein denkmalgeschütztes Bauwerk an das
andere, gleich ob Jugendstil, Renaissance oder Spätgotik -
schlicht "ein Bilderbuch europäischer Städtbaukunst", wie
Kai Grebasch, der Pressesprecher des Bewerbungsbüros in
Görlitz, gerne betont.
Ganz anders Essen: Inmitten des Ruhrgebietes gelegen, tief im
Westen Nordrhein-Westfalens, kann es kein derartiges feudales Erbe
vorweisen - stattdessen Arbeiterviertel, ausgediente Werkshallen,
stillgelegte Zechen und Hochöfen sowie Verwaltungsbauten aus
dem letzten Jahrhundert. Allesamt stille Zeugen des vergangenen
Industriezeitalters, dessen Zentrum das Ruhrgebiet einmal war.
Montan- und Schwerindustrie sind zwar heute dem stetig wachsenden
Dienstleistungssektor gewichen. Doch noch immer ist das Ruhrgebiet
einer der größten Ballungsräume in Europa - und
damit sicher kein Ort, dem es "in die Wiege gelegt ist,
Kulturhauptstadt Europas zu sein", wie Jürgen Fischer vom
Essener Bewerbungsbüro offen einräumt. Dennoch: Gerade
weil Essen ein ganz "anderes Modell von Kulturhauptstadt" biete,
sei es, so Fischer, als Bewerber interessant: "Auch auf
europäischer Ebene geht ja die Debatte eher in die Richtung,
dass es nicht mehr ausreicht, den Titel Kulturhauptstadt als
Sahnehäubchen auf die Kultur einer Stadt zu setzen, um
lediglich den Tourismus zu befördern. Die Frage ist also eher:
Was kann dieser Titel bewegen?"
Die Antwort darauf lautet im Revier sicher: Viel!
Schließlich ist der Umbruchprozess allgegenwärtig, die
Arbeitslosigkeit hoch, zudem leben hier Menschen aus über 140
Nationen zusammen. "Im Ruhrgebiet sind damit die großen
europäischen Zukunftsfragen zu Hause", meint Fischer. "Das
Thema kulturelle Vielfalt etwa, also Migration und Integration,
aber auch Stadtentwicklung, Ökologie und die Zukunft der
Arbeit. Aus diesem Grund bewirbt sich Essen stellvertretend
für das gesamte Ruhrgebiet, für 53 Städte, die
unmittelbar nebeneinander liegen, und gerade auf dem Weg sind, sich
nach Ende des Montanzeitalters neu zu erfinden." Und das mit
teilweise ungewöhnlichen Konzepten: Denn dort, wo früher
Kohle gefördert und Stahl gegossen wurde, finden heute nicht
selten Konzerte, Ausstellungen und sogar Festivals statt, etwa in
der Zeche Zollverein in Essen, die mittlerweile zum Weltkulturerbe
zählt, oder auch im Landschaftspark Duisburg, einem
ehemaligen, komplett erhaltenen Stahlwerk. Hier dienen selbst
ehemaligen Gießmühle oder Gebläsehallen als
Spielort. "Man sieht daran", so Jürgen Fischer, "dass die
baulichen Zeugnisse des Industriezeitalters heute kulturelle Orte,
Orte der Zukunft sind. Deshalb auch das Motto unserer Bewerbung
'Wandel durch Kultur. Kultur durch Wandel." Und deshalb auch TWINS
2010, eines der Leitprojekte der Kulturhauptstadt im Ruhrgebiet:
Zusammen mit Partnern aus über 150 Städten wollen die
Essener für das Jahr 2010 gemeinsame Kulturprojekte und
Initiativen ins Leben rufen, Ideen austauschen, kulturelle
Netzwerke bilden, und so "Gastgeber für die Kulturen Europas
sein", wie es in der offiziellen Ankündigung heißt.
Ehrgeizige Pläne - doch auch der Konkurrent im Osten
verlässt sich nicht allein auf die Wirkung seiner schmucken
Fassaden. Schließlich ist die 60.000-Einwohner-Stadt
Görlitz zusammen mit ihrer Partnerstadt Zgorzelec nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs plötzlich in eine ganz besondere
Position gerückt: aus einer Randlange ganz im Osten der
Oberlausitz in das Zentrum Europas und, mit der Aufnahme Polens in
die Europäische Union, sogar an die Schnittstelle zwischen
"altem" Europa und neuem EU-Mitgliedstaat. Pressechef Grebasch
bezeichnet die Stadt daher als "Laboratorium für den
europäischen Einigungsprozess", denn: "Was hier im Kleinen
funktionieren soll, soll ja eigentlich, wenn man dem
europäischen Gedanken folgt, auch im Großen
funktionieren, nämlich dass Menschen, die mehr als 40 Jahre
voneinander getrennt waren, die nicht viel miteinander zu tun
hatten, wieder eins werden". Schon 1989 haben sich daher beide
Städte zu einem kommunalen Verbund zusammengeschlossen und die
gemeinsame "Europastadt Görlitz/Zgorzelec" gegründet.
Seither treffen sie sich zu gemeinsamen Stadtratsitzungen,
unterhalten grenzüberschreitende Stadtbuslinien und
führen im Görlitzer Stadttheater Stücke in deutscher
und polnischer Sprache auf. Kai Grebasch: "Beide Städte haben
schon damals erkannt, dass man sich wieder annähern muss -
auch wenn wir wissen, dass das nicht von heute auf morgen zu
schaffen ist. Dafür sind die Kulturen, die hier aufeinander
stoßen, auch viel zu unterschiedlich. Trotzdem möchten
wir gerne, dass aus der Europastadt Görlitz/Zgorzelec einmal
eine echte Stadt zweier Nationen wird." Und die soll nicht nur die
Infrastruktur miteinander teilen, sondern "sowohl auf der rein
menschlichen, als auch später hochoffiziell auf der
politischen Ebene immer enger zusammenarbeiten". Bald schon soll an
beiden Ufern der "Brücken-Park Neiße" entstehen, eine Art
"geistiges und kulturelles Zentrum für die Stadt", wie
Grebasch ausführt, mit Hotels, einem Jugendzentrum, dem Forum
für zeitgenössische Kunst und Medien, dem Campus der
Hochschule und vielen Kulturveranstaltungen.
Alles in allem ambitionierte Projekte - in
Görlitz/Zgorzelec wie auch in Essen. Die Jury der
Kulturstiftung der Länder, die beide Kandidaten aus zehn
Bewerbern für das europäische Finale ausgewählt
hatte, attestierte beiden Konzepten jedenfalls besondere
europäische Relevanz: Der Bewerbung Görlitz/Zgorzelec'
etwa, weil es "visionäre Kraft" habe, und die Chance biete,
die Ost-West-Spaltung zu überwinden, Essen, weil es den
industriellen Umbruchprozess thematisiere und damit zeige, "welch
entscheidende Bedeutung der Kultur in diesem Prozess" zukomme.
"Kulturhauptstadt Europas 2010" wird, zusammen mit der
ungarischen Stadt Pesc, eine von ihnen werden, so viel steht fest.
Welche Idee urbaner Kultur sich aber in Europa im Jahr 2010
durchsetzt, entscheidet jetzt die EU.
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