"Man muss sich vor Schablonen hüten"
Interview mit Bundestagspräsident Norbert
Lammert zum Gedenktag an die Opfer des
Nationalsozialismus
Wie unser Land der Opfer des Nationalsozialismus
gedenkt, hat immer wieder zu heftigen und auch sehr nachdenklichen
Debatten in Deutschland geführt. Am 27. Januar, dem Jahrestag
der Befreiung von Auschwitz, fand eine Gedenkstunde im Deutschen
Bundestag statt, zu der auch Jugendliche aus ganz Europa eingeladen
waren. Im Interview erinnert sich Bundestagspräsident Norbert
Lammert, wie er als Jugendlicher "völlig fassungslos" die
damals relativ neuen Fernsehdokumentationen zu dem Thema verfolgt
hat. Später hat er mit seinen vier Kindern über das
Grauen des Nationalsozialismus dann gesprochen, wenn es einen
Anlass gab, beispielsweise angeregt durch den Schulunterricht. Die
private Atmosphäre des Gesprächs ist für Lammert
dabei wichtig. "Denn da erfolgt der Umgang mit dem Thema
unmittelbarer, ungefilterter, im besten Sinn rücksichtsloser."
Über die nachhaltige, ja prägende Wirkung der Shoa
für das Land sagt er: "Für mich persönlich ist der
Holocaust eines der ungeschriebenen Gründungsdokumente der
Bundesrepublik Deutschland."
Das Parlament: Herr
Bundestagspräsident, Auschwitz ist heute das Synonym für
die Konzentrationslager des Dritten Reiches und den Holocaust. Wie
und wann haben sie persönlich davon das erste Mal
erfahren?
Norbert Lammert: Während meiner
Schülerzeit, als ich das Gymnasium besucht habe. Ich erinnere
mich an die für damalige Zeit relativ neuen
Fernsehdokumentationen, die ich völlig fassungslos verfolgt
habe. Bis dahin war mir das Thema völlig fremd und man konnte
sich gar nicht vorstellen, dass diese Filme Realität
abbildeten und nicht Fiktion waren.
Das Parlament: Wenn Sie heute den
Namen Auschwitz hören, was empfinden Sie dann?
Norbert Lammert: Auschwitz ist
längst eine Chiffre geworden, eine Bezeichnung für ein
Thema. Es ist in der Wahrnehmung kaum noch eine Ortsbezeichnung.
Ich selbst habe vor 30 Jahren Auschwitz besucht. Da wird einem auch
durch die örtlichen Bedingungen die Dimension des Verbrechens
bewusst. Jeder, der sich mit solchen Themen beschäftigt,
weiß ja, dass ein zentrales Problem in der Anschaulichkeit des
Vorgangs besteht, weil der Vorgang so beispiellos ist und nicht dem
Vorstellungsvermögen von Adressaten überlassen bleiben
kann.
Das Parlament: Sie haben vier Kinder.
Wie haben Sie ihnen dieses Thema nahe gebracht?
Norbert Lammert: Immer im Zusammenhang
mit Anlässen. Ich vermute, dass es in den wenigsten Familien
ein Curriculum zur Erziehung mit diesem Thema gibt. Aber es gibt
durch Gedenktage, durch Schulstoff immer wieder Anlässe,
wodurch sich die Kinder mit dem Thema befassen und auch Fragen
stellen. Das ist vielleicht der Vorzug einer Beschäftigung mit
Themen in einer ganz vertrauten, privaten Atmosphäre. Denn da
erfolgt der Umgang mit dem Thema unmittelbarer, ungefilterter, im
besten Sinn rücksichtsloser.
Das Parlament: Was heißt
rücksichtsloser?
Norbert Lammert: Allein in der
Unbefangenheit von Nachfragen. Wenn Sie öffentlich, und das
heißt auch schulöffentlich, nachfragen, kann allein schon
die Nachfrage als Bestreitung von Sachverhalten missverstanden
werden.
Das Parlament: Es gab in Deutschland
in den vergangenen Jahren immer wieder eine Debatte zur
Erinnerungskultur. Worin unterscheidet sich die junge Generation
von der vorherigen? Worin liegt nun ihre Chance?
Norbert Lammert: Der größere
zeitliche Abstand ermöglicht eine größere
Unbefangenheit. Dies ist ein Vorzug und ein Nachteil zugleich. Im
Kern geht es um die Aufgabe, unabhängig von der jeweils
persönlichen Biografie sicher zu stellen, dass diese
Ereignisse Bestandteil der gemeinsamen Erinnerung bleiben und ein
Fanal für die Gestaltung der Zukunft sind. Dass Gedenken
unterschiedlich erfolgen muss, ergibt sich durch die
unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Menschen.
Das Parlament: Dennoch ist der Umgang
damit auch immer ein Generationenthema. In den 60er-Jahren sind die
damals jungen Leute damit anders umgegangen als heute...
Norbert Lammert: Ja, natürlich.
Aber dennoch ist mir die Einteilung zu klischeehaft. Die
Nachkriegsgeneration war immer mit der ausdrück-lichen und
heimlichen Sorge belastet: Wie haben sich meine Eltern damals
verhalten? Haben sie irgendetwas mit dem Nationalsozialismus zu
tun? Dennoch spricht manches dafür, dass der Umgang mit dem
Thema innerhalb der gleichen Generation unterschiedlicher
ausgeprägt ist als zwischen den Generationen. Und auch das ist
ganz normal. Jedenfalls muss man sich vor Schablonen hüten.
Das Leben ist komplizierter. Und es wird auch immer Menschen geben,
die sich gar nicht damit beschäftigen.
Das Parlament: Hat man als Deutscher
eine innere Verpflichtung dazu?
Norbert Lammert: Das Land hat sie auf
jeden Fall. Und wir bekräftigen sie auch immer wieder. Aber
zwischen der Selbstverpflichtung eines Landes und seinen
politischen Repräsentanten und der Lebenswirklichkeit muss
immer wieder eine Verbindung hergestellt werden. Für mich
persönlich ist der Holocaust eines der ungeschriebenen
Gründungsdokumente der Bundesrepublik Deutschland.
Das Parlament: In diesen Tagen ist der
Kinofilm "Ein ganz gewöhnlicher Jude" von Oliver Hirschbiegel
angelaufen. Kann man in Deutschland ein ganz gewöhnlicher Jude
sein?
Norbert Lammert: Ich habe den Film
nicht gesehen. Aber ich vermute, dass der Titel genau das
Nachdenken provozieren soll, das Sie zum Gegenstand Ihrer Frage
machen. Und das ist legitim.
Das Parlament: Und, kann man ein ganz
gewöhnlicher Jude sein?
Norbert Lammert: Das weiß ich
nicht.
Das Parlament: Hinter dem Reichstag
liegt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das
Mahnmal ist ein Besuchermagnet. Allerdings toben dort auch die
Kinder herum, Erwachsene klettern auf die Stelen und fotografieren
sich gegenseitig. Empfinden Sie diese Form des Gedenkens als
angemessen?
Norbert Lammert: Als wir uns für
diese Lösung entschieden haben, war klar, dass es bei einem
solchermaßen angelegten, gestalterisch offenen Konzept nicht
nur das ruhige Durchschreiten der Anlage geben würde, sondern
sich auch manche über die Bedeutung und Funktion keine
Gedanken machen und einen spielerischen Umgang nutzen werden.
Natürlich finde ich es persönlich unangemessen, wenn die
Kinder in der Gedenkstätte Fangen spielen. Aber ich habe nicht
das Gefühl, dass dieser Umgang ernsthaft die Würde des
Ortes stört.
Das Parlament: Einer Ihrer
Vorgänger, Philipp Jenninger, ist nach einer Rede zur
Gedenkstunde zum 50. Jahrestag der so genannten Reichskristallnacht
in die Kritik geraten und zurück getreten. Ist es für Sie
eine Belastung, mit dem Thema umzugehen?
Norbert Lammert: Es ist für jeden
Deutschen eine Belastung mit dem Thema umzugehen und es ist
zugleich eine Verpflichtung und diese müssen
Repräsentanten in ganz anderer Weise für sich gelten
lassen. Insofern befreit die Verpflichtung nicht von der
Belas-tung. Und beidem will ich nicht ausweichen.
Das Interview führte Annette Rollmann
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