|
|
Martin Gerner
Bettler vor Konsumtempeln
Afghanistan: Eine Bilanz nach vier Jahren
Wiederaufbau
Nachdem die Ziele des Bonner
Petersberg-Abkommens vom Dezember 2001 auf dem Papier erfüllt
sind - die Einberufung der Loya Jirga und die Verabschiedung einer
Verfassung sowie das Abhalten von Präsidenten- und
Parlamentswahlen - gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich
Geberländer und Hilfsorganisationen von Afghanistan abwenden.
Dabei entscheiden gerade die kommenden Monate darüber, ob der
Wiederaufbau des Landes langfristig erfolgreich sein kann und wie
sich zusätzliche Sicherheit schaffen lässt angesichts des
bevorstehenden Teilabzugs von US-Truppen. Die Europäer fordern
von der Regierung Karsai vor allem eine effizientere
Eindämmung des Drogenhandels, die Amerikaner machen sogar
weitere Hilfsgelder davon abhängig. Die Afghanistan-Konferenz
am 31. Januar in London, an der über 50 Staaten teilnehmen,
ist auch Anlass für eine Zwischenbilanz von vier Jahren
Wiederaufbau.
Präsident Hamid Karsai wird der Londoner
Konferenz einen Fünf-Jahresplan präsentieren, mit dem er
die Geberländer finanziell über das nächste
Jahrzehnt bei der Stange halten will. Doch die Lage im Irak und die
pakistanische Erdbebenkatastrophe lenken Hilfsgelder und das
Interesse der Öffentlichkeit von Afghanistan weg. Auf den
Konferenzen von Tokio 2002 und Berlin 2004 hatten die
Geberländer Afghanistan Zusagen von insgesamt knapp 13
Milliarden Dollar für die Dauer von fünf Jahren gemacht.
Deutschland gehört nach den USA und neben Japan zu den
größten Gebern. Nach Aussage von Afghanistans
Finanzminster Amin Farhang sind bisher rund 8,4 Millarden Dollar
effektiv ausgegeben worden: 1,6 Milliarden Dollar durch die
afghanische Regierung, der Rest direkt durch die Geberländer,
von staatlichen und nichtstaatlichen
Hilfsorganisationen.
Vier Jahre nach dem Sturz der Taliban ist ein
Aufschwung in weiten Teilen des Landes unübersehbar. Hunderte
Kilometer neuer Straßen wurden geteert und hunderte Schulen
gebaut. Über fünf Millionen Kinder gehen zum Unterricht,
darunter mehr als 1,6 Millionen Mädchen. Die
Gesundheitsversorgung hat sich deutlich verbessert, langt aber bei
weitem noch nicht aus. Und die Versorgung mit Strom und Wasser ist
weiterhin ungenügend. Die Lebenserwartung in Afghanistan liegt
bei durchschnittlich 46 Jahren.
Die Versorgung mit Konsumgütern zieht
an, aber die Wirtschaft krankt unverändert. So gut wie alles
wird importiert: Reis und Öl, Zement und Strom. In
afghanischen Geschäften stapeln sich Produkte, die man auch
bei uns in den Supermärkten findet: Kiri-Käse, Kellogs
Cornflakes, Coca-Cola. Globalisierung als Einbahnstraße? "Mein
Glauben an die westliche Demokratie stärkt das nicht gerade.
Ich frage mich, was wir tun können, damit unsere Wirtschaft
eine Chance erhält", sagt der jüngste Kandidat der
Parlamentswahlen im September 2005. Staat und Geberländer
haben es bisher versäumt, mehr verarbeitende Industrie
anzusiedeln.
Verschiedene Regionen, vor allem der
paschtunische Süden, fühlen sich bei der Vergabe von
Hilfsprojekten gegenüber Kabul und dem Norden
vernachlässigt. Verlässige Statistiken hierzu gibt es
nicht. "Es kommt Hilfe nach Afghanistan, aber wir haben keine
Übersicht, wieviel genau und wo es ausgegeben wird", sagt
Wirtschaftsminister Amin Farhang. Mit einem neuen Gesetz will die
Regierung Kontrolle und Transparenz von den Hilfsorganisationen
einfordern. Ex-Minister Ramazan Bashardost, ein umtriebiger
Populist, der in Frankreich studiert hat, spricht seit
längerem von einer "Mafia" von Ausländern, die Profit aus
Afghanistan schlügen. Das neugewählte Parlament hat den
Umgang mit Hilfsgeldern ebenfalls deutlich gerügt. Viele
deutsche Organisationen, die lobenswerte Arbeit leisten,
fühlen sich dadurch verunglimpft. Dabei sind Missmanagement
und korrupte Strukturen kein Einzelfall. Eine Mentalität des
Abkassierens, die ein vieldiskutierter "Spiegel"-Artikel im
März 2005 diagnostizierte, hat unverändert Konjunktur. Je
größer die Organisation, desto geringer ist häufig
der Anteil an Hilfsgeldern, der die Menschen wirklich erreicht.
Kostspielige Autoflotten, Gehälter auf Westniveau und teure
Verwaltung verschlingen den Löwenanteil. Umso wichtiger ist,
dass der Rest ans Ziel gelangt.
Vor allem in Kabul hat sich das Leben durch
rund 3.000 Entwicklungshilfe-Organisationen nachhaltig
verändert. "Kabulistan", der Vier-Millionen-Moloch, ist
zunehmend geprägt von Arm-Reich-Gegensätzen, von neuen
Konsumtempeln und staubfressenden Bettlern am Straßenrand. Die
Preis- und Werteskala der Menschen geraten aus den Fugen.
Nachtlokale schießen aus dem Boden. Wer passabel Englisch
spricht und flexibel denkt, findet oft gut bezahlte Arbeit bei
internationalen Organisationen. Die schlecht Ausgebildeten,
Zögerlichen und Armen haben das Nachsehen. Kritikern der
schnellen Modernisierung gilt das Wort "Demokratie" bisweilen als
Schimpfwort: Sie übersetzen es mit "Alles ist
erlaubt".
Ausländische Berater in Ministerien
kassierten zuletzt Jahresgehälter von bis zu einer halben
Million Dollar. Das Durchschnittsgehalt im öffentlichen Dienst
liegt bei 40 Dollar im Monat. Rechnungsprüfer aus den USA
kritisierten unlängst die Verwendung der US-Entwicklungshilfe.
Sie sei geprägt durch "eine inkonsistente Ausgabenpolitik und
das Fehlen einer klaren Strategie". "Wir müssen unbedingt die
Entwicklungshilfe reformieren", so Jean Mazurelle, Manager der
Weltbank in Kabul. "Bisher sind wir nicht in der Lage abzuliefern,
was die Menschen hier erwarten." Karsais Stabschef Jawed Ludin
meint desillusioniert: "Die goldene Periode der ersten vier Jahre
ist auch eine Zeit massiver Verschwendung gewesen."
Das Übel umfassend zu bekämpfen,
ist kurzfristig wenig wahrscheinlich. Regierung und Ministerien
sind selbst Horte der Korruption. Stichwort Drogenhandel: 2005
wurden rund 4.500 Tonnen Schlafmohn geerntet - die Grundlage
für Opium und Heroin. Das sind rund 85 Prozent des gesamten
Weltaufkommens. Der illegale Handel mit Opium macht nach einer
UN-Schätzung pro Jahr rund 2,7 Milliarden Dollar aus,
umgerechnet 52 Prozent der afghanischen Wirtschaftsleistung. Im
vergangenen Jahr nahm die Anbaufläche zwar landesweit um 21
Prozent ab, das gewonnene Rohopium dagegen lediglich um zwei
Prozent - wegen fruchtbarer Böden. Für das kommende Jahr
warnt die UN-Behörde zur Drogenbekämpfung vor einer
erneuten Zunahme des Anbaus. Grund, so die Prognose, könnte
eine verschlechterte Sicherheitslage sein. An einigen Orten
verteilten illegale Händler den Samen zum Teil
gratis.
Eine Reihe von Strippenziehern und
Profiteuren des Drogenhandels sitzen direkt in der afghanischen
Regierung sowie an der Spitze von Provinzregierungen. Ein
unveröffentlichter Bericht des zurückgetretenen
Innenministers Jalali nennt die Namen von 100 Offiziellen, darunter
aktuelle Mitglieder aus Karsais Kabinett. Der von Hamid Karsai
ausgerufene "heilige Krieg" gegen den Schlafmohn-Anbau ist damit
von vornherein nur bedingt glaubwürdig. Zumal der
Präsident bisher - ähnlich wie die internationale
Staatengemeinschaft - die offene Konfrontation mit den Drogenbossen
nicht gesucht hat. "Seine Optionen sind begrenzt", so
Präsidentenintimus Jawed Ludin. Die Drogenbarone seien mit
Hilfe der USA aufgebaut worden. "Die gleichen Typen, die von der
internationalen Staategemeinschaft wegen Drogenhandels angeklagt
werden, sind unsere vertrauenswürdigsten Partner im Kampf
gegen Terror", so Ludin über das Dilemma. Was tun?
Europäer und Amerikaner fordern ein energischeres Vorgehen
Karsais, die Amerikaner koppeln daran neuerdings die Zusage an
Hilfsgelder.
Das Schlüsselwort zur Lösung des
Drogenanbaus heißt "Alternative Liveliehoods" (alternative
Lebensgrundlagen). "Es geht darum, den Bauern andere Wege
aufzuzeigen, damit sie nicht auf den weitaus lukrativeren Mohn
zurückgreifen", so Christoph Berg, von der Gesellschaft
für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Man versucht es zum
Beispiel mit Safran oder Baumwolle. Oder den Bauern werden bessere
Bewässerungsanlagen versprochen, wenn sie dafür vom Mohn
ablassen. 50.000 Bauern sollen im vergangenen Jahr dem Anbau
entgesagt haben. Ein Teil der Einnahmen aus dem Drogenhandel
alimentiert unverändert die Kassen der Extremisten.
Auch kämpfende Einheiten der Taliban
bleiben ein akutes Sicherheitsproblem. Die Lage habe sich
verschlechtert in den vergangenen Monaten, sagen viele. Die Gegner
von Regierung und internationaler Militärpräsenz
betreiben eine Politik der gezielten Nadelstiche, die zuletzt ein
neues Element aufwies: Eine zunehmende Zahl von
Selbstmordanschlägen, ein für afghanische
Verhältnisse in diesem Ausmaß neues Phänomen. Anders
als es stereotype Medienberichte nahelegen, droht jedoch kein
Umsturz durch die Taliban. "Es gibt kein Wiederaufleben von Taliban
oder Al-Qaida in Afghanistan", so US-General James Jones
jüngst. Und Präsident Karsai fügte ebenfalls dieser
Tage hinzu: "Drogen sind ein größeres Problem als
Terrorismus."
Aus den umkämpften Provinzen des
Südens zieht das US-Militär bis Ende des Jahres 2.500
seiner 19.000 Mann ab. An ihrer Stelle übernehmen, als
Ergebnis des von Washington forcierten "burden sharings" (geteilte
Last), andere NATO-Partner die Verantwortung. Die Hauptlast tragen
dabei die Briten. Unklarheit herrscht über das 1.100-Mann
starke niederländische Kontingent, das in Uruzgan, der
Heimatprovinz von Talibanführer Mullah Omar, stationiert
werden soll. Die holländische Regierung hat Sorge, dass ihre
Soldaten im Fall bewaffneter Auseinandersetzungen nicht schnell
genug Unterstützung erhalten. Bei einigen Bündnispartnern
regt sich erster Unmut über die Holländer.
Strittig scheint, ob und inwieweit die neuen
ISAF-Kontingente den Auftrag der Amerikaner fortsetzen. "Bisher
haben nur Briten, Australier und Kanadier ihre Bereitschaft
erklärt, ihre Verbände in Kampfeinsätze zu
schicken", so Afghanistan-Experte Ahmed Rashid. Doch die
europäischen NATO-Partner wollen soweit als möglich an
der Logik des Peace-Keeping festhalten.
Die Bundeswehr, die künftig den gesamten
Norden stabilisieren soll, beabsichtigt zurzeit nicht, die
Höchstzahl von 3.000 Soldaten, die das Bundestags-mandat
erlaubt, auszuschöpfen. Abwarten lautet die Devise. Die USA
haben 2005 in Afghanistan 100 Soldaten verloren, mehr als doppelt
so viel wie im Jahr davor. Auch die Bundeswehr hatte wiederholt
Opfer zu beklagen. Jedoch sind die Deutschen in Afghanistan extrem
populär. Das dürfte nach Angela Merkels Aussage,
Guantanamo sobald wie möglich zu schließen, eher noch
zunehmen. Anders die US-Präsenz: Folter in illegalen
Gefängnissen in Afghanistan, Abu Ghraib, Verstöße
von US-Soldaten gegen die geltende Praxis von Koran und Islam
sorgen für eine zunehmend kritische Stimmung in der
afghanischen Bevölkerung gegenüber den Vereinigten
Staaten.
Zurück zur Übersicht
|