|
|
Dirk Klose
Tiefpunkt deutscher Geschichte
Der Bundestag gedenkt der Opfer des
Nationalsozialismus
Das Regime des Nationalsozialismus war die
größte, selbstverschuldete und zugleich die
unbegreiflichste Tragödie in der deutschen Geschichte. Das
erklärte der Publizist Ernst Cramer am 27. Januar vor dem
Deutschen Bundestag. Cramer war der Hauptredner des Gedenktages
für die Opfer des Nationalsozialismus, der im Deutschen
Bundestag seit 1996 alljährlich am 27. Januar begangen wird.
An diesem Tag war das Konzentrations- und Vernichtungslager
Auschwitz von der Roten Armee befreit worden. Cramer sagte weiter:
"So tief war Deutschland vorher nie gesunken. Es war der Tiefpunkt
in der deutschen Geschichte."
Bundestagspräsident Norbert Lammert
eröffnete die Feierstunde im Plenum des Deutschen Bundestages
mit der Bemerkung, dass mit dem Gedenktag an alle Opfer des
Nationalsozialismus erinnert werden solle. Unter Hinweis auf den am
selben Tag anstehenden 250. Geburtstag des Komponisten Wolfgang
Amadeus Mozart sagte Lammert, beide Daten hätten zwar nichts
gemeinsam, verdeutlichten aber "die alle Vorstellungskraft
sprengende Spannbreite dessen, wozu Menschen in der Lage sind".
Lammert bekräftige die fraktionsübergreifende
Erklärung des Bundestags vom 16. Dezember des vergangenen
Jahres zum Existenzrecht Israels, die damals angesichts iranischer
Drohungen gegen Israel verabschiedet worden war. Das Parlament
werde auch künftig Antisemitismus anprangern und
bekämpfen, was keine Ablenkung von eigener Schuld bedeute, so
Lammert.
Der Bundestagspräsident würdigte
zugleich den Entschluss der Vereinten Nationen, in diesem Jahr
erstmals einen "Internationalen Tag des Gedenkens an die Oper des
Holocaust" abzuhalten. Dabei habe der UNO die Gedenkpraxis des
Bundestages zum Vorbild gedient. Lammert: "Es ist gut, dass es
nicht umgekehrt gewesen ist." Die Hauptrede hielt in diesem Jahr
der Publizist Ernst Cramer. Er bezeichnete in seiner Rede den
"Zivilisationsbruch" des Holocaust als die "unbegreiflichste
Tragödie in der deutschen Geschichte".
Dass Deutschland heute frei und demokratisch
sei, sei vielen zu danken: den Soldaten der Alliierten, "den
Staatsmännern von 1945, die die Fehler von Versailles nicht
wiederholten", den Politikern, die das Land wieder aufbauten und
überhaupt allen, die den Glauben an Deutschland nicht
aufgaben, sagte der 93-Jährige. Auch Cramer stellte die
"deutschen Untaten" und das Mozart-Jubiläum als unbegreifliche
Gegensätze gegenüber. Als Deutscher und als Jude trage er
doppeltes Leid; "zweifach spüre ich das Leid und die
Tragik".
Als zurückkehrender US-Soldat habe er am
11. April 1945 in Buchenwald die Berge von Skeletten, Sterbenden
und Toten gesehen; "das war kaum zu ertragen". Cramer sagte weiter:
"Buchenwald war ein sadistisch geführtes Straflager, Auschwitz
eine Stätte des Todes." Viele Deutsche hätten nach 1933
weggeschaut und die Verbrechen nicht sehen wollen, "das war eine
Gesinnungslumperei". Die wachsende Zahl jüdischer
Gemeinschaften im heutigen Deutschland bezeichnete Cramer "als
Zeichen des Vertrauens". Der heute wieder aufflammende
Antisemitismus in vielen Teilen Europas tarne sich oft hinter einer
Kritik an Israel; auch der Antiamerikanismus sei dem Antisemitismus
sehr nahe. Dennoch: "Es gibt keinen Grund zur Sorge, wenn wir alle
wachsam bleiben und bereit sind zu aktivem Tun."
Der vor 93 Jahren in Augsburg geborene Ernst
Cramer war nach den Pogromen im November 1938 verhaftet und
für mehrere Monate im KZ Buchenwald inhaftiert worden. 1939
konnte er in die USA emigrieren; fast alle seine Angehörigen
sind von den Nazis ermordet worden. 1945 kehrte Cramer als
US-Büger und Soldat nach Deutschland zurück. 1958 wurde
er Journalist bei Zeitungen des Springer-Verlages, zuletzt in
leitenden Positionen des Hauses und bei der Axel-Springer
Stiftung.
Das Berliner Vogler-Quartett umrahmte die
Gedenkstunde mit Kompositionen von Mozart, Blacher und des von den
Nazis als "entartet" verfehmten Komponisten Karl Amadeus Hartmann.
Anschließend trafen Cramer und Lammert mit etwa 80
Jugendlichen aus Frankreich, Polen und Deutschland zu einer
Diskussion über Fragen der Erinnerungsarbeit zusammen. Der
damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte den 27. Januar im
Jahr 1996 zum offiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer
des Nationalsozialismus erklärt. Herzog hatte die Hoffnung
geäußert, dieser Tag werde als "nachdenkliche Stunde
inmitten der Alltagsarbeit" begangen und ein "wirklicher Tag des
Gedenkens, ja des Nachdenkens" werden.
Auf den Gedenkveranstaltungen im Plenum des
Deutschen Bundestag haben bereits zahlreiche Politiker,
Wissenschaftler und Künstler gesprochen, die selbst Opfer von
NS-Verfolgungen gewesen waren, unter anderem der jüdische
Historiker Yehuda Bauer (1998), der in den USA lebende
Holocaustforscher Elie Wiesel (2000), der frühere polnische
Außenminister Bronislaw Geremek (2002). Zu den Gedenkrednern
gehörten ebenfalls der Schriftsteller Jorge Semprun (2003),
die französische Politikerin Simon Veil (2004), der Historiker
Arno Lustiger sowie die Altbundespräsidenten Roman Herzog
(1996) und der vor wenigen Tagen verstorbene Johannes Rau
(1999).
Zurück zur Übersicht
|