Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21-22 / 17.05.2004
Wilhelm Hadler

Die EU-Verfassung soll den europäischen Kompetenz-Streit entschärfen

Warum wird so viel in Europa entschieden?

Die europäische Integration ist schon weiter vorangekommen, als vielen Bürgern bewusst ist. Bei der Diskussion über die Europäische Verfassung geht es denn auch um mehr als um eine Absicherung der Spielregeln für den Gemeinsamen Markt. Demokratie, Bürgernähe und Effizienz sind die Prinzipien, nach denen die Europäische Union künftig arbeiten soll.

Konkret entwickelt werden sollen neue Ansätze für eine gemeinsame Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie einheitliche Regeln für Bereiche der Innen- und Justizpolitik. Noch fehlt es jedoch an einer genauen Abgrenzung der Kompetenzen der europäischen, nationalen und regionalen Institutionen. Die Sorge geht um, dass es zu einer Zentralisierung der Zuständigkeiten und einem Verlust der Eigenverantwortlichkeit der Bürger, Regionen und Staaten kommen könnte. Andererseits ist die europäische Einigung ein Prozess, der sich in Stufen vollzieht. Optimale politische Strukturen lassen sich daher nicht von einem Tag auf den anderen erreichen.

Schon heute ist die EU für rund 80 Prozent der Wirtschafts-Gesetzgebung zuständig. Allein auf dem Gebiet des Umweltschutzes gibt es nach einer Untersuchung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) derzeit 500 Richtlinien und Verordnungen. Insgesamt sind im Laufe der Zeit über 2.200 EU-Richtlinien verabschiedet worden. Die Frage ist, ob es sich dabei immer um notwendige Vorschriften handelte oder teilweise um bürokratische Regelungen, die die Unternehmen mit zusätzlichen Kosten belasten und ihre Handlungsfreiheit beschränken.

Die "Architekten" des Binnenmarktes weisen den Vorwurf zurück, dass die Angleichung der Rechts-Vorschriften das Ergebnis eines übertriebenen Regulierungseifers der "Brüsseler Technokraten" sei. Wenn die Nationalstaaten ihre Gesetze nur auf heimische Produkte angewandt hätten - so argumentieren sie - wäre kein Handelshemmnis entstanden und die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Rechtsangleichung entfallen. Bis in die 80er-Jahre habe zum Beispiel französisches Mineralwasser in Deutschland nicht verkauft werden dürfen. Nur in Apotheken sei bis zur Verabschiedung einer entsprechenden EU-Regelung ein Vertrieb möglich gewesen.

Inzwischen ist es anerkanntes europäisches Recht, dass der Import oder der Verkauf von Waren aus anderen EU-Ländern nur dann untersagt werden kann, wenn sachliche Begründungen dafür geliefert werden. In den meisten Fällen kann sogar auf Rechtsangleichungen verzichtet werden. Nur wenn eine gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen nationalen Vorschriften verweigert wird, muss eine Harmonisierung auf europäischer Ebene erreicht werden. Sie hat immerhin zur Folge, dass nur eine einzige Regelung an die Stelle zahlreicher nationaler Bestimmungen tritt.

Nicht nur der Abbau von Handelsbeschränkungen bringt den EU-Bürgern jedoch Vorteile. Die Brüsseler Kommission muss auch sicherzustellen, dass der Wettbewerb zwischen Herstellern und Händlern frei und fair ist. So belegte die Behörde 2001 zum Beispiel die Volkswagen AG mit einer Geldstrafe, da sie ihre Vertriebshändler in anderen EU-Staaten angewiesen hatte, ihren neuen Passat nicht billiger zu verkaufen als in Deutschland.

Vorteile für die Verbraucher brachte auch der Abbau staatlicher Monopole, besonders im Versorgungs- und Telekommunikations-Sektor. Die einst den nationalen Fluglinien reservierten Strecken wurden für andere Anbieter geöffnet. Die meisten Bürger können nicht nur die Grenze frei überschreiten und mit dem gleichen Geld bezahlen, sie verfügen in der EU auch über Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Auf eine Angleichung der Sicherheits- Umwelt- und Verpackungsanforderungen konnte allerdings nicht verzichtet werden und auch die Vereinheitlichung des Lebensmittelrechts und der Ausbau des Gesundheits- und Verbraucherschutzes machten ständig neue EU-Vorschriften notwendig. Allzu oft wirken diese wie neue Handelshemmnisse.

Über eine bessere Kompetenz-Abgrenzung zwischen den konkurrierenden Entscheidungsinstanzen wird seit langem diskutiert. Kritik kommt vor allem von der regionalen Ebene, in Deutschland von den Bundesländern. Je mehr die Musik in Brüssel spielt, umso mehr fürchten sie um ihren Einfluss. Eine klare Aufgabenverteilung ist umso wichtiger, je mehr die europäische Integration auf neue Politikbereiche ausgedehnt wird.

Der vor der Unterzeichnung stehende Entwurf einer EU-Verfassung umschreibt zumindest die Grundsätze für eine vernünftige Verteilung der Zuständigkeiten und betont den Vorrang der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bei Entscheidungen. In der EU gilt danach das "Prinzip der begrenzten Ermächtigung". Artikel 5 schreibt vor, dass die Gemeinschaft nur "innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele" tätig werden kann. Entschieden wird zwischen "ausschließlichen Zuständigkeiten", "geteilten Zuständigkeiten" und "ergänzenden Maßnahmen" Eine genaue Abgrenzung dieser Kompetenzen gibt es jedoch nicht.

Wenn es um Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt geht oder um Fragen, die die Zollunion und die gemeinsame Handelspolitik betreffen, dürfen die Mitgliedstaaten jedenfalls in Zukunft nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der EU rechtssetzend tätig werden. Auch die Währungspolitik fällt, soweit der Euro-Raum betroffen ist, in die ausschließliche Kompetenz der europäischen Institutionen. Gleiches gilt für und die Erhaltung der biologischen Meeresschätze (im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik).

Dagegen gilt für die Bereiche der geteilten Zuständigkeit grundsätzlich das Prinzip der Subsidiarität. Die EU besitzt also nur dann Entscheidungskompetenzen, wenn die zu lösenden Aufgaben nicht auch von den nationalen und regionalen Instanzen übernommen oder von ihnen sogar besser erfüllt werden können. Gemeint sind spezifische Probleme des Binnenmarktes, die geplante Schaffung eines "Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes" sowie die Ausgestaltung der Umwelt- und Verbraucherpolitik. Für die Forschungs- und Entwicklungspolitik soll gesondert der Grundsatz gelten, dass ein Tätigwerden der EU die Mitgliedstaaten nicht an der Ausübung ihrer bestehen bleibenden Zuständigkeit hindert.

Für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik werden die Kompetenzen nach dem Verfassungsentwurf ebenfalls nur sehr allgemein beschrieben. Artikel 14 bestimmt lediglich, dass die Union "Maßnahmen zur Koordinierung dieser Politiken, insbesondere durch die Ausarbeitung von Grundzügen für die Wirtschaftspolitik und Leitlinien für die Beschäftigungspolitik" beschließt. Zum Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik heißt es, dass die Mitgliedstaaten die in diesem Bereich beschlossenen Rechtsakte der Union beachten "und keine den Interessen der Union zuwiderlaufenden Handlungen treffen". Beschlüsse müssen jedoch im wesentlichen weiterhin einstimmig gefasst werden

"Ergänzende Maßnahmen" können nach dem Verfassungsentwurf auch für solche Politikbereiche getroffen werden, für die EU keine Zuständigkeit besitzt. Gemeint ist zum Beispiel die Unterstützung und Koordinierung von Vorhaben zur Förderung der Mobilität von Studenten mit dem Erasmus-Programm. Über die Frage, ob eine Gesetzesinitiative in die Kompetenz der EU fallt, wird dennoch auch künftig der Europäische Gerichtshof zu entscheiden haben. Die nationalen Parlamente und Regionen werden jedenfalls an der Diskussion über Zuständigkeiten der EU stärker teilnehmen können als bisher. Gedacht ist an eine Art "Frühwarnsystem", das eine rechtzeitige Bewertung der geplanten Maßnahmen ermöglicht. So soll die Kommission verpflichtet werden, vor Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens breit angelegte Anhörungen vorzunehmen. Zur Begründung jedes Richtlinien- oder Verordnungsvorschlages muss sie einen "Subsidiaritätsbogen" mit detaillierten Angaben über die rechtliche Basis vorlegen.

Jedes nationale Parlament erhält die Vorschläge für neue Rechtsakte in Zukunft zum gleichen Zeitpunkt wie der Ministerrat und das Europaparlament. Innerhalb von sechs Wochen kann es sich dazu äußern, ob das Subsidiaritäts-Prinzip beachtet wurde. Fallen mehr als ein Drittel der abgegebener Stimmen kritisch aus, muss die Kommission ihren Vorschlag überprüfen.

Der Verfasser ist freier Journalist in Brüssel.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.