Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21-22 / 17.05.2004
Alva Gehrmann

Das "Mondnagel- Känguruh"

Wie EU-Recht übersetzt wird

Wie jedes neue Mitglied muss auch Lettland das EU-Recht in die Landessprache übersetzen. Und stößt dabei auf so manche Hindernisse. Was ist ein "wurrung"? Das fragten sich die Übersetzer, als sie Vorschrift Nummer 2724/2000 aus dem Englischen ins Lettische übersetzen sollten. In dieser EU-Vorschrift geht es um den Schutz wildlebender Tier- und Pflanzenarten. Also blätterten sie im Englisch-Lettisch-Wörterbuch, ohne Erfolg. Kein "wurrung" zu finden. Ein Problem, auf das die Übersetzer immer mal wieder stoßen sollten.

Dass diese Rechtstexte jedem Bürger der Europäischen Union in seiner Landessprache zur Verfügung gestellt werden, gehört zum Grundsatz der Mehrsprachigkeit. Jede Sprache soll gleichgestellt sein, das wurde 1958 in der Europäischen Gemeinschaft mit Verordnung Nr. 1 festgelegt. Und sorgt in der nun erweiterten EU für einen großen Übersetzungsbedarf: Denn seit dem 1. Mai hat sich die Zahl der EU-Amtssprachen von elf auf 20 erhöht. Allein der "gemeinschaftliche Besitzstand" (acquis communautaire), das gemeinsame Fundament aus Rechten und Pflichten, das für alle Mitgliedsstaaten der EU verbindlich ist, umfasst 85.000 Seiten. Insgesamt sind über 100.000 Seiten zu übersetzen.

Wenn es ein Wort - wie zum Beispiel "wurrung" - nicht gibt, dann kreiert man eben eins. Dafür sind Terminologen zuständig, zum Beispiel Raimonds Apinis vom Translation & Terminology Centre (TTC) in Riga. Basis der Übersetzung ins Lettische ist die englische Textversion. Ist diese nicht eindeutig oder missverständlich, fragen sie Experten aus den Fachgebieten oder suchen nach der Bedeutung in anderen Sprachen: "onychogale croissant" heißt "wurrung" im Französischen und auf Deutsch "Mondnagel-Känguruh". So mixten die Terminologen aus den verschiedenen Sprachen ein neues lettisches Wort: "menesnagu kengurs".

"Jeden Monat sammeln, systematisieren und harmonisieren wir etwa 1.500 bis 2.000 Begriffe", sagt Raimonds Apinis. "Viele sind uns bereits bekannt. Nur in der Biologie fehlen etliche Wörter." Seltene Känguruh-Arten ebenso wie die Namen mediterraner Fische. Doch die Hauptaufgabe der Terminologen ist es, gebräuchliche Begriffe zu harmonisieren, die bisher nicht einheitlich verwendet wurden - etwa aus Wirtschaft und Verwaltung. "In der Wirtschaftsterminologie orientieren wir uns neben dem Englischen häufig an der deutschen Sprache", sagt der Chef-Terminologe Apinis. So heißt das Wertpapier nun "vertspapirs" und administrative Begriffe wie Dienst lauten nun "dienests". Wenn es ums Rechtswesen geht, bedienen sie sich des Französischen.

"Es ist uns wichtig, eine einheitliche Sprachregelung zu finden", sagt Marta Jaksona, Direktorin des TTC. Denn bislang wurden im Lettischen bei inoffiziellen Übersetzungen häufig verschiedene Begriffe für ein und dieselbe Sache verwendet. Experten aus Wirtschaft, Biologie oder Militär prüfen nun die neuen Wörter, später werfen die zuständigen Ministerien einen Blick darauf, ebenso die "Terminology Commission of the Latvian Academy of Sciences". Sind all diese Instanzen durchlaufen, wird der neue Begriff in das Sprachcomputer-Programm der Übersetzer integriert und in einer zentralen Datenbank gespeichert. Marta Jaksona setzt sich an ihren Laptop, öffnet das Datenbank-Programm und zeigt ein Beispiel: Ein für die Europäische Union zentrales Wort wie "Verordnung" heißt nun "regula", der Begriff orientiert sich am englischen Wort "regulation". 122.000 Begriffe enthält diese Datenbank. Das TTC, welches 1996 gegründet wurde, fungiert als Koordinierungsstelle. Es ist eine staatliche Institution, die die Aufgabe der Regierung unterstützen soll, das EU-Recht ins Lettische zu übersetzen. Sie liegt dabei gut im Zeitplan. Bis auf aktuelle Änderungen, die gerade erst am 30. April 2004 beschlossen wurden, ist alles übersetzt. Allein im Jahr 2003 übersetzten sie 43.000 Seiten.

Die Autorin gehört der Freien Redaktion Berlin an.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.