Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21-22 / 17.05.2004
Martin Schulz

"Europa braucht Ihre Stimme"

Die SPD zur Europawahl

Die bevorstehenden Europawahlen im Juni werden historisch sein. Zum ersten Mal werden die Menschen eines vereinten Europas an Wahlen teilnehmen, die wahrhaft europäische Ausmaße haben. Die Mitglieder des neu gewählten Europäischen Parlaments werden sich für die Belange von 450 Millionen Bürgern aus 25 Mitgliedstaaten einsetzen und dafür sorgen, dass die Europäische Union ihren Bedürfnissen und Prioritäten gerecht wird. Denn die Menschen in Europa haben mittlerweile begriffen, dass den gemeinsamen Problemen und Herausforderungen unserer Tage, wie Umweltschutz, grenzüberschreitende Kriminalität oder Terrorismus, nur auf europäischer Ebene dauerhaft begegnet werden kann.

Dabei machen wir Sozialdemokraten den Wählern drei elementare Angebote für die kommende Legislaturperiode des Europäischen Parlaments:

1. Wir wollen eine umfassende Parlamentsreform, und wir brauchen endlich ein Abgeordnetenstatut. Wir haben noch eine Geschäftsordnung von 1979, aber die Gesetzgebungskompetenzen von 2004, das passt nicht zusammen. Wir brauchen zügigere Entscheidungsmechanismen, um uns den anderen Institutionen gegenüber besser positionieren zu können. Wir brauchen endlich eine Reform des Abgeordnetenstatuts, und es müssen für jedermann klar nachvollziehbare Regelungen geschaffen werden. Ich strebe eine enge Kooperation mit der europäischen Volkspartei EVP in Gesetzgebungsfragen an, weil das Parlament in Bezug auf die anderen Institutionen, insbesondere dem Rat, nur dann Stärke entwickeln kann, wenn es in wichtigen Fragen belastbare und beständige Mehrheiten mobilisieren kann. Deshalb könnte es ein Rahmenabkommen zwischen den beiden großen Parteienfamilien SPE und EVP geben. So kann die europäische Volksvertretung auf Dauer Kraft gewinnen. Wir kämpfen auch weiterhin für die Verfassung, denn ohne sie ist der 25er-Klub der Europäischen Union handlungsunfähig. Auf der Grundlage von Nizza wird es keine gedeihliche Entwicklung der EU geben.

2. Damit die EU bis 2010 weltweit zur dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaft mit einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum wird, müssen mehr neue hochwertige Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Aufschwung in Europa benötigt eine eingehende Strategie, die verstärkte Investitionen in Forschung und Technologie und die Förderung neuer Wachstumsbereiche vorsieht sowie mehr Gewicht auf moderne Bildungsmethoden und lebenslanges Lernen legt.

Dabei darf der Blick auf den Lissabon-Prozess nicht allein auf Wirtschaftsreformen verengt werden. Er kann nur nachhaltig sein, wenn die sozialen und beschäftigungspolitischen Ziele im Auge behalten werden. Höhere Beteiligungsraten am Wertschöpfungsprozess werden uns bei der Bewältigung der demografischen Herausforderung der kommenden Jahre helfen.

Es ist für die europäischen Sozialdemokraten unerlässlich, dass die EU und die Mitgliedstaaten den Sozialstandards, insbesondere dem Ziel neuer und höherwertiger Arbeitsplätze, Vollbeschäftigung, sozialer

Eingliederung, Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung höchste Priorität einräumt. Unser europäisches Sozialmodell mit seiner Verbindung von Wirtschaftswachstum und angemessener sozialer Absicherung ist dabei unsere Stärke im Kampf um Standortvorteile. Obwohl in Zeiten schwachen Wachstums häufig kritisiert, ist es gleichzeitig der besondere Wert unserer viel gerühmten Stabilität in Europa. Fairer Wettbewerb darf nicht durch Sozialdumping ausgehöhlt werden. Wir sehen die Europäische Union als Gemeinschaft, die auf den Grundsätzen sozialer Marktwirtschaft und gegenseitiger Unterstützung zum Wohle aller beruht. Dabei wird die historische EU-Erweiterung um zehn neue Länder den Lebensstandard der Bürger und Bürgerinnen in den neuen Mitgliedstaaten erhöhen, den Handel beleben sowie unionsweit zu einem Zuwachs an Arbeitsplätzen führen.

3. Wir wollen die "Friedensmacht Europa", die sich aktiv für eine sichere, friedliche und gerechte Welt einsetzt. Dafür braucht es eine starke Europäische Union, die mit klarer Stimme auf der Grundlage des Völkerrechts und mit den gestärkten Vereinten Nationen für eine gerechte, beständige und friedliche Welt eintritt. Die Europäische Union muss bei der Schaffung eines effektiven Multilateralismus eine Vorreiterrolle spielen, um eine bessere Zusammenarbeit der Staaten bei Konfliktlösungen zu ermöglichen und neuen Sicherheitsbedrohungen gemeinsam zu begegnen. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir bei seinen Ursachen anfangen.

Wir müssen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik weiter zu einem glaubhaften Instrument der Konfliktverhütung und des Krisenmanagements ausbauen. Mit Blick auf unsere neuen östlichen Nachbarn haben wir keine ausreichende Strategie zur Bekämpfung des Armutsgefälles, aber auch zur Nutzung der Marktchancen und der Rohstoffbeschaffungschancen. Die Entscheidung über die Sicherheit der EU fällt auch im Mittelmeerraum, im Nahen Osten und der Türkei. Wie gestaltet die EU ihre Beziehungen zur islamischen Welt? Die Türkeifrage ist dabei eine Schlüsselfrage. Wenn es gelänge, eine muslimische Gesellschaft zu organisieren auf der Grundlage des Wertekatalogs Europas, wie die Grundrechtecharta ihn vorgibt, dann wäre die These des fundamentalistischen Islamismus, dass sich Islam und westliche Werteordnung ausschließen, nachdrücklich widerlegt.

Es ist meine tiefe Überzeugung, dass nicht wir Europäer oder die Amerikaner in der Lage sind, die Islamisten zu isolieren. Dies kann nur die islamische Welt aus sich selbst heraus leisten. Und wir müssen die, die das wollen, als Partner anerkennen und unterstützen. Viele Europäer sind auf eine dramatische Weise eurozentriert. Wir nehmen zu wenig wahr, was außerhalb Europas passiert. Das mittlere und das südliche Afrika, von AIDS gezeichnet, gleichen sterbenden Landstrichen. Es gibt Regionen des Zerfalls jeder staatlichen Ordnung. Überall dort kann sich der Terrorismus ungehindert entwickeln. Den damit verbundenen außenpolitischen Herausforderungen müssen wir uns Sozialdemokraten in Europa stellen. Die Entscheidungen über europäisches Recht und den europäischen Haushalt, die von den Mitgliedern des Europäischen Parlaments in Brüssel und Straßburg getroffen werden, mögen manchem weit weg erscheinen, aber sie wirken sich direkt auf die Arbeits- und Lebensbedingungen von uns allen aus. Die Europäische Union muss dafür sorgen, dass die Bürger und Bürgerinnen nicht nur von ihren Beschlüssen profitieren, sondern auch mitentscheiden. Gleichzeitig sollte unter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips die EU dort nicht eingreifen, wo nationale oder regionale Institutionen dafür besser geeignet sind.

Die Europäische Union, wie wir sie sehen, gründet auf Demokratie, Gleichberechtigung, Achtung der Menschenrechte, Vielfalt und Rechtsstaatlichkeit. Wir sollten diese Werte auch über die Grenzen der EU-Mitgliedstaaten hinaus vertreten. Aus diesem Grunde treten wir für eine verstärkte Rolle des Europäischen Parlaments als einzig direkt gewählte Stimme aller europäischen Bürger und Bürgerinnen ein. Europa wächst. Gemeinsam können wir es stärker machen. Europa braucht Ihre Stimme. Martin Schulz

Martin Schulz ist Spitzenkandidat der SPD zur Europawahl.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.