Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 50-51 / 06.12.2004
Susanne Kailitz

Von Verdruss und Partizipation

Wahlforscher: Parteien genießen das Vertrauen der Bürger nicht mehr

Ein Volk, das sich an einem Ufer eines reißenden Flusses befindet und sich auf den Weg machen muss, den vertrauten Ort zu verlassen und den Fluss zu überqueren, ohne zu wissen, was es am anderen, fremden Ufer erwartet - und sich dabei einem Fährmann anvertrauten muss, zu dem es kein rechtes Vertrauen hat: So beschrieb Heinrich Oberreuter, Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing, die derzeitige Situation der Deutschen. Ein plastisches Bild, das eine Einstimmung auf den Vortrag des Wahlforschers Dieter Roth zum Thema "Vertrauen und Vertrauensverlust: Zur aktuellen Demokratiediskussion" vor der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen geben sollte. Doch fühlen sich die Deutschen wirklich so ausgeliefert?

Wenn Politiker und Medienvertreter über politische Partizipation nachdenken und sprechen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der vielzitierte Begriff der Politikverdrossenheit fällt. Die Untersuchungen der Forschungsgruppe Wahlen, die Dieter Roth präsentierte, scheinen dies zunächst zu bestätigen: 43 Prozent der Befragten im Westen und 65 Prozent im Osten sind mit der Demokratie in Deutschland eher unzufrieden. "Ein Negativrekord", bestätigt Roth, "aber gleichzeitig bekundet zurzeit gut die Hälfte der Bundesbürger starkes Interesse für Politik. Das sind deutlich mehr als in den 90er-Jahren." Und auch die Einschätzung des politischen Systems insgesamt erfreut den Wissenschaftler, halten doch 77 Prozent der Deutschen die Demokratie für die beste Staatsform. Nur 14 Prozent glauben, es gäbe bessere Alternativen.

Doch bei aller Systemzufriedenheit: Die Frustration über den output der Demokratie ist groß. Auf einer Skala von +5 bis -5 liegen Politiker und Parteien deutlich im Minus. Das Vertrauen der Bürger in ihre Kompetenz ist gering, ebenso wie die in die Fähigkeiten der Gewerkschaften. "Sämtliche Spitzenpolitiker haben klar negative Imagewerte", bestätigt Roth, "die Bürger sind gegenüber den politischen Akteuren generell missgestimmt." Auffallend sei, dass davon Regierung wie Opposition gleichermaßen betroffen seien. "Die Werte liegen für beide recht nah beieinander. Das heißt, dass die Bürger bei aller Unzufriedenheit mit Rot-Grün die Union nicht für eine viel bessere Alternative halten." 68 Prozent der Befragten beklagen, dass die Politiker sich nicht viel darum kümmerten, "was Leute wie ich denken", über die Hälfte kritisiert, dass Politik manchmal so kompliziert sei, "das jemand wie ich gar nicht versteht, was vor sich geht".

Doch wer daraus vorschnell ableitet, die Bürger zögen sich zunehmend aus der politischen Diskussion zurück, der irrt. "Auf Bundesebene hatten wir in den 90er-Jahren einen Anstieg der Wahlbeteiligung, nur von 1998 auf 2004 gab es einen kleinen Rückgang zu verzeichnen", so Roth. 85 Prozent der Befragten bezeichneten die Entscheidungen des Deutschen Bundestags als persönlich relevant. Die geringere Beteiligung an Landtags- und Europawahlen sei ebenfalls kein Ausdruck von Politikverdrossenheit, sondern liege darin begründet, dass nur wenige Bürger Entscheidungen, die etwa in Brüssel oder Straßburg fielen, persönlich für wichtig hielten. Interessant sei, das das "flexible Wählen" oder die gezielte Option der Wahlenthaltung mehr und mehr an Bedeutung gewinne. "Fast die Hälfte der Deutschen hält es zukünftig für möglich, etwa aus Protest gezielt eine Partei zu wählen, die für sie normalerweise nicht in Frage käme, 36 Prozent ziehen generell auch eine protestmotivierte Wahlenthaltung in Betracht."

Unzufrieden mit den Eliten

Ergebnisse, die Politikern und Parteien Unbehagen bereiten - denen sie sich aber künftig in weit größerem Maße stellen müssen als bisher. Bislang bemühen sie gern die These, die Unzufriedenheit mit den politischen Eliten könne abgebaut werden, wenn die Politik nur wieder besser vermittelt werden könne. Ein Irrtum, so Roth. "Das ist eine beliebte Argumentation der Parteien, die jedoch vergisst, dass sie es mit einem ganz anderen Politikverständnis der Wähler zu tun haben. Die Bürger nutzen einen klassischen Politikbegriff, der die gesamte Gemeinschaft betrifft, während die Parteien ihn auf Regierungs- oder Oppositionspolitik einengen. Sie beharren auf diesem Verständnis, auch wenn die Mitgliederverluste beweisen, dass das nicht ausreicht." Die Parteien hätten in den vergangenen Jahren einen gravierenden Wandel vollzogen: Von Vertretungsorganen großer Gruppen der Gesellschaft über Mitgliederparteien hin zu kurzfristig orientierten Serviceorganisationen für Wähler. Daraus leite sich aber keine grundlegende Neuorientierung ab, bilanziert Roth. "Nur wenn der Versuch, Wähler zu gewinnen, scheitert, ist das Bekümmernis groß. Sonst allerdings scheint die Tagesarbeit das nötige Nachdenken über sich selbst in den Hintergrund zu rücken."

Die Bürger hingegen orientieren sich zunehmend anderweitig. Ihr Eindruck, individuell auf den politischen Prozess einwirken zu können, ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen: 36 Prozent der Deutschen glauben heute, über starke und sehr starke Möglichkeiten zu verfügen, politischen Einfluss zu nehmen. Unkonventionelle Formen der politischen Beteiligung haben dabei Konjunktur. Mehr als 60 Prozent sehen die Mitarbeit in Bürgerinitiativen oder die Beteiligung an Demonstrationen als Möglichkeit der Partizipation, mehr als ein Drittel der Deutschen übernehmen ehrenamtliche Aufgaben in Verbänden und Vereinen.

Die Ergebnisse, die Dieter Roth präsentierte, beweisen schnell, wie falsch der Begriff der Politikverdrossenheit ist. Die Bürger wollen mitreden und mitgestalten - aber nicht nach den Regeln der etablierten Parteien, denen sie nicht vertrauen. So muss auch das Bild Heinrich Oberreuters korrigiert werden: Die Deutschen sind kein Volk, das sich ergeben auf die andere Seite des Flusses navigieren lassen wird. Wenn der Fährmann und seine Besatzung nicht umdenken, dann kann es auch passieren, dass die Passagiere sich selbst ein Floß bauen und die Reise auf eigene Faust antreten.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.