Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005
Barbara Minderjahn

Ganz Belgien tanzt

175 Jahre staatliche Unabhängigkeit und 25 Jahre Förderalismus
Auf dem Werthplatz, einem zentralen Platz in der belgischen Kleinstadt Eupen, herrscht ausgelassenes Gedrängel. Hunderte von Menschen üben zu abendlicher Stunde tangoartige Figuren, Pirouetten und andere seltsame choreografische Bewegungen. Um 22.10 Uhr ist es dann endlich soweit: die Stadt Eupen tanzt - und mit ihr ganz Belgien. In zwölf Städten gleichzeitig haben sich die Einwohner versammelt, als Zeichen ihrer patriotischen Gesinnung oder einfach nur um Spaß zu haben. Denn Belgien feiert dieses Jahr sein 175-jähriges Jubiläum und seinen seit 25 Jahren existierenden Föderalismus.

Ich denke, die Einigkeit, die wir heute erlebt haben, hat Belgien gut getan", bewertet eine Eupenerin das Ereignis. "So wächst das Land vielleicht besser zusammen."

Belgien ist seit 175 Jahren ein Staat - als kulturelle Einheit empfinden die Einwohner ihr Land nicht.

Das heute rund zehn Millionen Einwohner zählende Königreich proklamierte 1830 seine Unabhängigkeit. Schon damals war das Land in kultureller und sprachlicher Hinsicht gespalten, und das hatte auch historische Gründe. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gehörte ein Teil des späteren Belgiens noch zu den Niederlanden und damit zum Herrschaftsgebiet des spanischen Königs Karl V. In diesem Gebiet, das in den folgenden Jahrhunderten immer wieder mal zu Österreich, mal zu Spanien oder Frankreich gehörte, sprach die Bevölkerung überwiegend flämisch. Das Fürstbistum Lüttich, das sich seit jeher ein Statut der Unabhängigkeit bewahrt hatte, und weitere Teile des heutigen Südbelgiens waren französischsprachig. Doch Französisch war auch die Sprache des gehobenen Bürgertums und damit die gültige Amtssprache - bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Dann kam die Zeit des so genannten nationalen Erwachens in Europa. Viele bis dahin unterdrückte Volksgruppen wurden sich ihrer regionalen Besonderheiten bewusst und forderten mehr Rechte - auch in sprachlicher Hinsicht. Die flämischen Belgier machten da keine Ausnahme. Sie forderten mehr Beachtung, und ganz allmählich nahm damit eine Entwicklung ihren Lauf, die rund ein Jahrhundert später im belgischen Föderalismus enden sollte. "Die ersten Sprachgesetze entstanden 1873", heißt es in einer vom belgischen Staat herausgegebenen Broschüre. "Sie erlaubten den Gebrauch des Flämischen im Justiz bereich, dann im Verwaltungswesen (1878) und schließlich im Unterrichtswesen (1883). Ab 1914 wird in Flandern der Ruf nach einer anderen belgischen Staatsform laut, damit Flandern anerkannt ist und nicht länger durch einen Staat unterdrückt wird, der mehr frankophon als belgisch ist. Damit der flämische Landesteil an Macht und Bedeutung gewinnen kann, wird verschiedentlich die Schaffung eines eigenen flämischen Staates gefordert. Andere wiederum denken eher an mehrere Teilstaaten, die aber miteinander verbunden bleiben sollen."

Die Flamen im Norden und die Wallonen im Süden entfremden sich zunächst weiter voneinander. Aus Angst vor der Übermacht des Flämischen wollen auch einige Wallonen die Trennung der beiden Regionen und das Ende eines gemeinsamen Staates. Doch es kommt anders. Mitte des 20. Jahrhunderts verändern sich in Belgien die wirtschaftlichen Verhältnisse. Wallonien - bis dahin Zentrum der Industrie - verliert gegenüber den flämischen Provinzen an Bedeutung. Welche Sprache und Kultur die vorherrschende sein soll, wird im Streit zwischen den beiden Regionen unbedeutender. Die französischsprachigen Wallonen fordern jetzt vor allem die Autonomie in der Wirtschaftspolitik. Es geht darum, eine neue Form von Eigenständigkeit zu schaffen: Jede Region soll über die Dinge, die sie betreffen, selbst entscheiden dürfen.

Die erste Staatsreform legt 1970 die Grundlagen für einen Föderalstaat. Die Aufteilung Belgiens in vier Sprachgebiete und drei Kulturgemeinschaften wird in der Verfassung verankert: das französischsprachige Gebiet, das niederländischsprachige Gebiet, die Hauptstadt Brüssel, wo man Niederländisch und Französisch spricht, und das deutschsprachige Gebiet.

Bei der Region, in der Deutsch gesprochen wird, handelt es sich um Gemeinden, die an der Grenze zu Deutschland liegen. Bis 1920 gehörten sie zum Königreich Preußen. Im Kampf um die Eigenständigkeit gehören sie nicht zu den Akteuren, doch sie profitieren von dem Ergebnis. 1980 werden die drei Kulturgemeinschaften schließlich zu Gemeinschaften mit Selbstverwaltungsrechten: die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft haben jeweils ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Darüber hinaus werden die vier Sprachgebiete in drei (Wirtschafts-) Regionen zusammengefasst: Die Flämische Region, die Wallonische Region und die Region Brüssel. Die Deutschsprachige Gemeinschaft gehört auf dieser Ebene zur Wallonischen Region. Die Regionen haben ebenfalls eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament. Der belgische Föderalismus ist geboren.

Drei Regionen, drei Gemeinschaften, drei Sprachen, vier Sprachgebiete - ein Staat. Das System ist kompliziert. Aber bis heute sind die Belgier stolz auf ihren Föderalismus, denn sie sind sich sicher, dass er die Spaltung ihres Landes verhindert hat. Jeder darf darüber, was ihn betrifft, selbst entscheiden - was alle betrifft, regeln alle gemeinsam. Nach diesem Grundgedanken gibt jedes Individuum und jede Kulturgemeinschaft nur so viel Souveränität ab, wie nötig. Das Prinzip funktioniert so: Der Föderalstaat kümmert sich um das Land in seiner Gesamtheit. Egal in welcher Region man lebt und welche Sprache man spricht - die Entscheidungen, die auf dieser Ebene getroffen werden, betreffen alle Einwohner. Konkret bedeutet das: Die Staatsregierung kümmert sich um die nationale Wirtschaft und Währung, um die Justiz, die Sicherheit im inneren und äußeren (Polizei, Armee), um die soziale Sicherheit (zum Beispiel Rente, Arbeitslosengeld) um nationale Forschung und Kultur und um das öffentliche Gesundheitswesen.

Die Regionalregierung entscheidet über verschiedene Teilbereiche des Zusammenlebens, vor allem in der Region, also zum Beispiel über den Umweltschutz, die Raumordnung, den Wohnungsbau, die Versorgungswirtschaft, die regionale Wirtschafts- oder die Energiepolitik.

Die Gemeinschaften werden vor allem als kulturelle Einheiten gesehen. Sie haben das Recht, über alles zu entscheiden, was mit der freien Entfaltung der Person zu tun hat: also zum Beispiel über das Unterrichtswesen, die Medienpolitik, die Gesundheitspolitik, den Sport, den Tourismus, die Sozialhilfe, die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaften und die internationale Zusammenarbeit. Die Regierungen der Gemeinschaften können daher sogar eigenständig internationale Verträge abschließen - ein Recht, das solche kulturellen Einheiten in anderen Ländern nicht haben.

Trotz der großen Freiheit gibt es allerdings auch kritische Stimmen. Viele Belgier sind beispielweise auch heute noch der Meinung, dass dem Land der Sinn für das Gemeinsame und für eine gemeinsame nationale Identität fehlt. Tatsächlich unterscheiden sich im alltäglichen Leben nicht nur Sprachen und Gesetze, sondern auch die Lebensgewohnheiten.

Die deutschsprachige Gemeinschaft beispielsweise ist in ganz Belgien bekannt dafür, präzise und zuverlässig zu sein wie die Deutschen, erzählt ein Ostbelgier. Die Flamen seien fleißig, aber manchmal eben auch geizig wie die Holländer. Die französischsprachigen Wallonen gelten dagegen in jeder Hinsicht als eher locker. Andererseits halten sich die Menschen im Hinblick auf ihre Besonderheiten und Vorlieben nicht immer streng an die kulturellen und sprachlichen Grenzen. In Eupen beispielsweise sprechen die meisten Menschen deutsch. Gegessen wird hier aber eher französisch. Was ist also belgisch?

"Typisch belgisch ist, dass die Hochzeitsfeier unseres Prinzen fast drei Mal so lange dauert wie in jedem anderen Land, weil hier die Zeremonie in allen drei Sprachen abgehalten wird", spottet ein Belgier. "Oder wenn in Brüssel zuerst die Wallonen eine Straße aufreißen, um ihre Stromkabel zu verlegen, und eine Woche später die Flamen die gleiche Straße noch mal aufreißen."

Auch heutzutage gibt es in Belgien wieder Stimmen, die sagen, eine staatliche Trennung wäre für alle das beste. Doch die meisten empfinden den belgischen Föderalismus mit all seinen Kuriositäten und Schwächen als etwas wahrhaft Besonderes: "In gewisser Weise ist Belgien wie ein kleines Europa - wir sind alle unterschiedlich und bilden doch eine Gemeinschaft", betont ein Eupener, nachdem ganz Belgien gemeinsam getanzt hat. Und weil die Stimmung gerade so schön patriotisch ist, fügt er hinzu: "Unser Föderalismus könnte für Europa ein gutes Vorbild sein."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.