Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 25.07.2005
Guido Rijhoek

Eine neue Tür zur Mathematik geöffnet

In Gießen versucht ein Mitmachmuseum die Rechenkunst anschaulich zu machen

Für Mathelehrer und engagierte Eltern ist es ein Gefühl wie Weihnachten: Die eigenen Schüler oder Sprösslinge, sonst eher mäßig an Geometrie oder Zahlen interessiert, basteln Fußbälle aus Fünf- und Sechsecken, staunen über Kantenmodelle oder experimentieren begeistert mit Würfeln oder Tetraedern. Mathematik sinnlich erfahrbar zu machen, ist das Ziel des im Herbst 2002 eröffneten Mathematikmuseums in Gießen. "Das ist eine neue Tür zur Mathematik", betont Museumschef Albrecht Beutelspacher.

Experimente geben Impulse

"Pythagoras zum Wiegen" heißt eines der Experimente. Hier kann der Besucher den Lehrsatz des großen Mathematikers mit einer simplen Postwaage nachvollziehen. Handliche Quadrate liegen um ein Dreieck herum und siehe da: bei einem rechtwinkligen Dreieck sind die Quadrate über den beiden Katheten gemeinsam gleich schwer - und also auch gleich groß - wie das Quadrat über der Hypotenuse. "Jedes Experiment ist ein Impuls, das den Besucher in Bewegung versetzt", erklärt Beutelspacher: "Der Kopf wird eingeschaltet und denkt automatisch mit."

Immer wieder hat sich der Professor mit den Spezialgebieten Geometrie und Kryptographie über die mangelhafte Anschaulichkeit der Rechenkunst im deutschen Schulalltag geärgert: "Kaum jemand hat positive Erinnerungen an den Matheunterricht." Während Physiker seit Jahrhunderten interessante Experimente sammelten, herrsche in der Mathematik allerdings völlige Fehlanzeige.

Vor zehn Jahren begann Beutelspacher erstmals mit Studenten, mathematische Experimente zu bauen und die Ergebnisse auszustellen - mit verblüffendem Erfolg. Die gesammelten Experimente wurden zunächst auf mehreren Wanderausstellungen gezeigt und fanden im Herbst 2002 ihre endgültige Heimstatt im ehemaligen Gießener Hauptzollamt. Mit 60.000 Besuchern pro Jahr habe er ursprünglich kalkuliert, erklärt der Matheprofessor. Tatsächlich kamen im ersten Jahr 130.000, im zweiten schon 160.000 Besucher. Der Bedarf an einer anschaulichen Mathematik ist erkennbar groß. Die enorme Resonanz hat dazu geführt, dass das Museum die laufenden Kosten von rund einer Million Euro jährlich komplett über eigene Einnahmen finanziert. Die Kosten für den Umbau des früheren Zollamts von rund 3,5 Millionen Euro übernahmen das Land Hessen, die EU sowie private Spender.

Würde in jeder Mathematikklasse mindestens einmal im Jahr mit anschaulichen Beispielen gearbeitet, würde sich das Image der Rechenkunst grundlegend wandeln, glaubt Beutelspacher. Damit es nicht beim einmaligen Staunen vor schönen Experimenten bleibt, bietet das Mathematikum mehr und mehr Veranstaltungen an. Kindervorlesungen, bei denen mathematische Phänomene vertieft behandelt werden, stehen genauso auf dem Programm wie Fortbildungsseminare für Lehrer. Sie können sich beraten lassen, welches Experiment für welche Jahrgangsstufe geeignet ist.

Mathematik macht glücklich

Macht Mathematik glücklich? Auch wer in der Schule einen zähen Rechenunterricht genossen hat, kann sich nach dem Besuch des Gießener Mathematikums zu einem vorsichtigen Ja durchringen. Für Museumschef Beutelspacher kann es keinen Zweifel geben: "Das Mitdenken und Mitmachen führt zu einer sehr emotionalen Befriedigung", betont der Professor: "Die Besucher verlassen das Museum glücklicher als sie herein gekommen sind."


Der Autor ist freier Journalist, Wiesbaden.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.