Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03 / 16.01.2006
Thomas Emons

Wandel zu wissenschaftlichen Massenbetrieben

Ein Blick in die Geschichte der Universitäten

Um 1700 gab es in Deutschland rund 8.000 Studenten und 40 Hochschulen. 300 Jahre später studierten 1,6 Millionen Menschen an rund 350 Hochschulen. Dieser Zahlenvergleich macht deutlich, wie sehr sich die Universitäten zu wissenschaftlichen Massenbetrieben gewandelt haben.

Im Zeitalter der Globalisierung streben Bildungspolitiker eine europäische Hochschullandschaft an, in der Hochschulstrukturen und Hochschuldiplome angeglichen und damit auch grenzübergreifend anerkannt werden sollen. IIn der italienischen Stadt, die den aktuellen Zielen der im Jahr 2000 unterzeichneten Bologna-Erklärung und dem damit in Gang gesetzten Bologna-Prozess ihren Namen gibt, wurde Ende des 11. Jahrhunderts die erste Universität Europas errichtet. Der eher bürgerlichen Universität von Bologna, an der vor allem Rechtswissenschaften und Medizin gelehrt wurden, folgte im 12. Jahrhundert die kirchlich und theologisch geprägte Hochschule von Paris. Die beiden Prototypen von Bologna und Paris dienten allen späteren Universitätsgründungen in Europa als Vorbild. Die erste Universität auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik wurde 1386 in Heidelberg eröffnet.

Die europäischen Universitäten des Mittelalters waren international. Mit dem Lateinischen gab es eine grenzübergreifende Gelehrtensprache. Auch die Hochschulabschlüsse des Bacalaurius und des Magister, die nicht von ungefähr an die neuen gestaffelten Studiendiplome des Bachelors und des Masters erinnern, wurden überall in Europa anerkannt. Die Studenten pilgerten aus aller Herren Länder zum Hochschullehrer ihrer Wahl und bezahlten diesem ein Hörgeld. Die Universitäten, die im Mittelalter unter dem besonderen Schutz von Papst und Kaiser standen, erlebten im Zeitalter der Reformation und des Absolutismus eine Konfessionalisierung und Regionalisierung.

Die deutschen Fürsten errichteten in ihren Ländern Universitäten, die vor allem treue Staats- und Kirchendiener ausbilden sollten. Die Professoren wurden zu Staatsbeamten, die dem Interesse ihres Landes- und Dienstherren verpflichtet waren. Neue Ideen waren an diesen feudalen Landesuniversitäten nicht gefragt. Geistige Enge und die Käuflichkeit akademischer Grade brachten die Universitäten zunehmend in Verruf.

Mit Hochschulneugründungen, wie denen in Halle (1694), Göttingen (1737) oder Erlangen (1743) versuchte man dem Verfall der Universitäten entgegenzuwirken. An diesen bald immer beliebteren Reformuniversitäten wurde in deutscher Sprache gelehrt und auch neue Fächer wie Naturwissenschaften, Naturrecht, Geografie und Geschichte in den Lehrplan aufgenommen. Im 19. Jahrhundert nahm der Reformdruck auf die Universitäten weiter zu. Mit dem Beginn der Industrialisierung wuchs auch die Nachfrage nach akademisch ausgebildeten Fachleuten. Daneben entstanden zunehmend auch Technische Universitäten und Fachhochschulen. Zur geistigen Grundlage der modernen Universität wurden die Ideen Wilhelm von Humboldts, die bereits 1810 in einer Denkschrift formuliert und mit der Gründung der Berliner Humboldt-Universität realisiert worden waren. Nach Humboldt sollten Forschung und Lehre eine Einheit bilden und trotz staatlicher Finanzierung und Rechtsaufsicht die Freiheit der Wissenschaft gelten. Deutsch als Arbeitssprache wurde an Universitäten ebenso selbstverständlich wie das Abitur als Voraussetzung für den Hochschulbesuch und die Habilitation als Voraussetzung zur Ausübung des Professorenamtes.

Waren die deutschen Universitäten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Horte liberaler und nationaler Reformideen, so erlebten sie nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848/49 eine konservative Wende, die langfristig zu einer unpolitischen oder obrigkeitsstaatlichen Orientierung führte. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass sich die deutschen Universitäten erst am Anfang des 20. Jahrhunderts für das Frauenstudium öffneten und Kaiser Wilhelm II. 1914 für seine Kriegspolitik unter den Hochschullehrern eine breite Unterstützung fand. Auch nach der Machtergreifung Hitlers gab es an den deutschen Hochschulen nur wenig Widerstand gegen die Entlassung jüdischer und regimekritischer Hochschullehrer. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen setzten die Nazis auch an den Universitäten das Führerprinzip durch und etablierten ideologisch geprägte Fächer wie etwa die Rassenkunde.

Schwieriger Neuanfang nach 1945

Von dem wissenschaftlichen Aderlass, den die deutschen Universitäten während der Nazi-Zeit erlitten, konnten sie sich nach 1945 kaum erholen. Wiederaufbau und Entnazifizierung der Professorenschaft lauteten nach 1945 die zentralen Aufgaben der Hochschulpolitik. Während die westdeutschen Länder ihre traditionelle Hochschulkompetenz dauerhaft zurück- gewannen, ging diese in der DDR ab 1952 von den aufgelösten Ländern auf ein zentrales Staatssekretariat über. Während sich in der Bundesrepublik Arbeitgeberverbände, Wirtschaft und Gewerkschaften unter anderem mit Hilfe von Stiftungen und Bildungsabteilungen in der Hochschulpolitik engagierten, erfuhren die Universitäten der DDR unter anderem mit der Einführung des Faches Marxismus-Leninismus eine nachhaltige Ideologisierung.

Sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands waren die 60er-Jahre das Jahrzehnt der Hochschulexpansion. Um bisher ungenutzte Bildungsreserven zu mobilisieren, wurden neue Universitäten gegründet und die staatlichen Investitionen in den Hochschulsektor massiv gesteigert. Ein explosionsartiger Anstieg der Studenten- und Hochschullehrerzahlen waren die Folge. 1962 wurde mit dem Bundesbildungsministerium ein eigenes Hochschulressort eingerichtet und die Große Koalition schrieb die Hochschulpolitik als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern im Grundgesetz fest.

In der Folge wurden 1971 das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) und 1976 das Hochschulrahmengesetz in Kraft gesetzt. Während man in der Bundesrepublik unter anderem mit dem Numerus clausus versuchte, der Studentenschwemme Herr zu werden, wurde die Zahl der Studienanfänger in der DDR ab 1971 quotiert und auf jährlich 30.000 begrenzt. Die staatlich gelenkte und auf Spezialisierung setzende Hochschulpolitik der SED hatte zur Folge, dass die Studienquote in der DDR deutlich unter die der Bundesrepublik sank. Andererseits war das neue westdeutsche Problem der Akademikerarbeitslosigkeit bis 1989 in der DDR weitgehend unbekannt.

Das änderte sich umso radikaler, als das westdeutsche Hochschulsystem nach der Wiedervereinigung auf die ostdeutschen Länder übertragen wurde. Schließungen, Stellenstreichungen, Umwandlungen und Neugründungen prägten nach 1990 die zum Umbruch gezwungene Hochschullandschaft Ostdeutschlands. Der Leistungsüberprüfung, der sich die ostdeutschen Hochschuleinrichtungen nach 1990 unterziehen mussten, konnten sich in den nachfolgenden Jahren auch die westdeutschen Hochschulen nicht entziehen.

Das 1998 novellierte Hochschulrahmengesetz hat die Weichen der Hochschulpolitik neu gestellt. Wettbewerb, Profilbildung, Sponsoring, Management und leistungsorientierte Bezahlung sind heute auch im Hochschulwesen gängige Vokabeln.


Der Autor ist Historiker und freier Journalist in Mülheim an der Ruhr.


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