Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 03 / 16.01.2006
Dieter Dürand

Deutsche Forscher brauchen mehr Mut und mehr Freiheit

Ein vernachlässigtes Potenzial
Deutsche Forscher machen Schlagzeilen. Drei Erfolgsmeldungen aus jüngster Zeit: Jörg Wiltfang, Direktor der Kieler Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, verhilft einem Mann aus Kiel zu einem neuen Unterkiefer. Ein großer Teil davon war von Krebs befallen und musste entfernt werden. Wiltfang ersetzte das fehlende Knochenstück durch ein weltweit einmaliges Implantat, das er aus Zellen des Patienten gezüchtet hat. Sie wuchsen innerhalb von sieben Wochen in einem Gittergerüst aus Titan, gefüllt mit einer porösen Keramikmatrix und eingepflanzt in den Rückenmuskel des Patienten zu dem körpereigenen Ersatzteil heran. Eine medizinische Sensation. Bald soll die so genannte Gewebezucht oder regenerative Biologie auch Haut, Knorpel, Nerven, Muskeln und ganze Organe hervorbringen und Menschen das Leben retten. Deutsche Wissenschaftler und Unternehmen sind dabei technisch führend.

In Karlsruhe stellen die Professoren Tanja Schulz und Alex Waibel, die zusätzlich auch an der US-amerikanischen Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh lehren, den ersten elektronischen Dolmetscher vor, der Vorträge und Parlamentsreden (an beliebige Orte) simultan übersetzt. Zuhörer lesen die Übersetzung in einer Datenbrille oder hören sie über Richtlautsprecher, deren Ultraschallwellen nur sie erreichen, ohne den Nachbar zu stören. Ein erster Einsatzort für die Konferenztechnik von morgen könnte das Europäische Parlament werden. In Stockholm nimmt Theodor Hänsch, Leiter des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik in Garching bei München, den diesjährigen Nobelpreis für Physik entgegen.

Hohe Leistungsfähigkeit

Die personifizierten Beispiele stehen für die nach wie vor hohe Leistungsfähigkeit deutscher Wissenschaft. Das Land von Albert Einstein, Gottlieb Daimler und Otto Hahn produziert gute Ideen quasi am Fließband und erfreut sich dafür internationaler Wertschätzung. Sie ist in allen zehn Technologien mit dem größten Zukunftspotenzial hoch bis überragend, ob Medizintechnik, Datenverarbeitung, Elektrotechnik, Materialforschung oder Ernährung. Das geht aus einer Studie des Karlsruher Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung hervor, das dazu weltweit anerkannte Wissenschaftspublikationen auswertete. 200 deutsche Spitzenforscher setzten das Land in einer Umfrage für die "Wirtschaftswoche" auf Platz zwei der führenden Wissenschaftsnationen, zwar klar hinter den USA, aber deutlich vor Japan und Großbritannien. "Es ist genügend Substanz vorhanden, um auch morgen noch in der Champions League zu spielen", urteilt Joachim Milberg, Präsident des Konvents der Technikwissenschaften in Deutschland (Acatech) und Ex-BMW-Chef.

Die Güte der Forschung steht allerdings in einem auffälligen Gegensatz zur schwindenden Innovationskraft Deutschlands. In einer gerade veröffentlichten Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin erreicht das Land gerade noch den sechsten Platz - abgehängt von den USA und Japan, aber auch überrundet von kleinen Nationen wie Dänemark, Schweden und Finnland. Der Anteil, den forschungsintensive Produkte zum deutschen Außenhandelssaldo beitragen, fällt seit 1994 kontinuierlich. Beim Handel mit Hochtechnologie liegt die Bundesrepublik im Vergleich führender Industriestaaten nur noch auf Rang vier. "Wir sind stark in hochwertiger Technologie, hinken in der Spitzentechnik aber hinterher", warnt Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. Ohne die Automobilindustrie könne man Deutschland "kaum noch als High-Tech-Land bezeichnen".

Ganz offenbar gelingt es allzu selten, das immense Forschungspotenzial in marktreife Produkte und wirtschaftlichen Erfolg umzumünzen. So wundert es nicht, dass Deutschland beim Wachstum unter den Industrieländern hinten liegt. Auf nur ein Prozent schätzt das Münchner Ifo-Institut das jährliche mittelfristige Wachstumspotenzial - zu wenig, um in einem Land ohne natürliche Ressourcen, aber mit hohen Arbeitskosten und sozialen Ansprüchen, den Wohlstand zu sichern.

Auch das Bildungssystem schwächelt. Deutschland verfügt zwar über eine weltweit einzigartige Forschungsdichte, so ein weiteres Ergebnis der Umfrage von TNS Emnid für die "Wirtschaftswoche". Jedoch nur über wenige Zentren von absoluter Weltklasse, vergleichbar mit den US-Universitäten Stanford und Harvard. "Es gibt zu häufig das Gleiche vom Selben und zu wenig Leistungszentren der internationalen Spitzenliga", moniert Wolfgang Herrmann, Präsident der Technischen Universität (TU) München. In der aktuellen viel beachteten Rangliste der Jiao Tong Universität Shanghai landet die Ludwig-Maximilian-Universität München als beste deutsche Hochschule auf Platz 51, einen Rang vor der Münchner TU. Nicht viel besser liegen die Deutschen im Ranking der Londoner "Times", in dem die Universität Heidelberg auf Rang 45 am besten abschneidet.

Wie sollen die Hochschulen, chronisch unterfinanziert wie sie sind, im Konzert der Großen auch mithalten? Einer Übersicht der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) zufolge geben die Industrienationen im Durchschnitt 1,4 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für ihre akademischen Paradeeinrichtungen aus - in Deutschland sind es nur 1,1 Prozent. Der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, Topuni der Schweiz, stehen je Student(in) 57.000 Euro zur Verfügung; der Chef der TU München, Herrmann, muss mit einem Drittel der Summe auskommen. Noch weniger kann er mit der kalifornischen Elite-Uni Stanford konkurrieren. Deren Jahresbudget beträgt über 2 Milliarden Euro, die Münchner können nur rund ein Fünftel davon ausgeben, nämlich gut 400 Millionen Euro. "Da ist es schwer, auf Augenhöhe zu kommen", sagt Herrmann.

Die Abwanderung von Spitzenforschern vor allem in die USA verstärkt den Rutschbahneffekt noch - wenn nicht entschieden gegengesteuert wird. Die von Emnid befragten Wissenschaftler befürchten, dass künftig noch mehr kluge Köpfe das Land verlassen. Schon heute zieht es jeden siebten deutschen Wissenschaftler mit Doktortitel in die USA, rund 20.000 lehren und forschen dort inzwischen. "Der Aderlass schwächt unsere Innovationskraft", warnt TU-Präsident Herrmann.

Wie lässt sich der Abstieg stoppen und wie mehr Kapital aus den nach wie vor vorhandenen Stärken schlagen? Die beiden wichtigsten Ansatzpunkte lauten: Mehr Freiheit und mehr Wettbewerb. Welche Dynamik sie auszulösen vermögen, demonstriert gegenwärtig eindrucksvoll die Exzellenzinitiative der Bundesregierung, die Spitzenuniversitäten kürt und sie mit zusätzlichen 1,9 Milliarden Euro belohnt. "Noch niemals haben wir so intensiv überlegt, wo wir als Universität Göttingen strategisch hinwollen", berichtet Vizepräsidentin Doris Lemmermöhle. Die Initiative habe an ihrer Hochschule einen "ungeheuren Schub" ausgelöst. Um als Sieger hervorzugehen, bilden Universitäten Verbünde mit den Max-Planck- und Fraunhofer-Instituten, so wie es Experten schon lange fordern. "Innovationen und Spitzenleistungen entstehen heute im Zusammenspiel der Fachgebiete und der Besten", sagt Karl Max Einhäupl, Vorsitzender des Wissenschaftsrats. "Die bisherige Zersplitterung können wir uns nicht länger leisten."

Mehr Freiheit bedeutet auch, den Wissenschaftlern das Gründen von Unternehmen zu erleichtern. Der Karlsruher Informatikprofessor Waibel hat in den USA schon mehrere Unternehmen auf den Weg gebracht, in Deutschland nur eins. "Das geht in den Staaten viel unkomplizierter", so seine Begründung.

Allerdings sind auch die Forscher selber aufgefordert, mehr Unternehmergeist zu entwickeln. Nach dem Vorbild des Saarbrücker Informatikprofessors August-Wilhelm Scheer. Dessen Ziel war schon früh, aus dem von ihm aufgebauten Institut für Wirtschaftsinformatik heraus ein börsennotiertes Unternehmen von Weltruf hervorgehen zu lassen. "Ich fand es absurd, meine ganze Spannung darauf zu richten, ob ein Artikel von mir in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift erscheint", sagt er. Heute setzt seine IDS Scheer AG mit Software zur Analyse und Optimierung von Geschäftsprozessen mehr als 280 Millionen Euro im Jahr um und beschäftigt weltweit mehr als 2.200 Menschen.

Nicht zuletzt müssen die Deutschen lernen, nicht in allem Neuen eher eine Bedrohung denn eine Chance zu wittern. "Dieses Nach-vorne-Schauen, dieses Vertrauen in die eigene Leistungsstärke ist bei uns leider völlig unterentwickelt", bedauert Jürgen Mlynek, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. Auch ein solches neu gewecktes Selbstbewusstsein würde die Welt aufhorchen lassen und Schlagzeilen produzieren.


Der Autor ist Redakteur bei der "Wirtschaftswoche".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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