Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 07 / 13.02.2006
Gottfried-Karl Kindermann

Totalitärer Herrscher im Reich der Mitte

Jung Chang und Jon Halliday räumen mit den Mythen über Mao Tse-tung auf
Das vorliegende Werk ist das Ergebnis zwölfjähriger akribischer Forschung seiner beiden Autoren auf drei Kontinenten. Es nimmt in der internationalen Literatur 30 Jahre nach dem Ende der Mao-Ära in China einen einmaligen Platz ein. Weltweit unübertroffen in seiner dokumentarisch untermauerten Genauigkeit und Detailliertheit erarbeitet das Buch ein Lebensbild jenes chinesischen Diktators, der weitaus umfassender als selbst die totalitärsten Machthaber des 20. Jahrhunderts die Unterwerfung eines ganzen Volkes beherrschte.

Die wachsende Rolle des kommunistischen Chinas in der gegenwärtigen Weltpolitik erfordert ein realistisches Bild seiner Entstehung und der unmittelbaren Vorgeschichte seiner Gegenwart. Ein Großteil der heutigen Bevölkerung und Führung im mittleren Lebensalter und davor sind Zeitzeugen und Mitgeprägte der Herrschaftsära Mao Tse-tungs (1949 - 1976).

Zu Beginn des Bandes schildern die Autoren die Jugendjahre Mao Tse-tungs, der 1893 als Sohn eines ihm zutiefst verhassten wohlhabenden Landwirts in der Provinz Hunan zur Welt kommt. Im Alter von 24 Jahren beginnt er, Grundlinien seines eigenen Weltbildes niederzuschreiben. Ethische Gebote hätten keinen objektiven Selbstwert, ist hier zu lesen, sie entsprängen bloßem subjektivem Eigennutz. Wörtlich heißt es: "Die Zeiten des Friedens und des Wohlstandes langweilen uns ... Die menschliche Natur liebt Veränderungen ... Wir lieben es, auf einem Meer des Aufruhrs zu segeln."

China wie es sei, müsse zerstört und dann neu aufgebaut werden. Es sind dies Einstellungen, die Mao lebenslang zu Eigen bleiben sollten. Bereits beim Ersten Kongress der KP Chinas im Juli 1921 gehörte Mao zu deren Delegierten. Mit innerer Begeisterung erlebt er einen ungemein brutalen Bauernaufstand gegen Grundbesitzer in der Provinz Hunan, den er als Orkan der Gewalt beschrieb. Hier entsteht Maos Grundidee, in China sei eine Revolution nur mit der Führung eines entfesselten Bauernproletariats zu machen.

Doch Moskaus Versuch, dem Kommunismus in China bereits in den 20er-Jahren zur Macht zu verhelfen, scheitert. Chiang Kai-shek, der Führer der Kuomintang (Nationale Volkspartei), zerschlägt 1927 die kommunistischen Machtpositionen und eint China unter seiner Partei. Die Kommunisten ziehen sich in die unwegsame Provinz Kiangsi zurück, wo Mao zum Führer eines kommunistischen Regionalregimes aufsteigt. Materiell leben sie vom Raub an wohlhabenderen Bauern, Händlern und Kleinbürgern und lassen die ärmeren Bauern für sich arbeiten. Sie herrschen durch Terror wobei Mao damals wie auch später, so die Autoren, "eine Schwäche für einen langsamen, qualvollen Tod der Opfer" zeigte.

Oft war es eine sexuell pervertierte Folter. So wurden Männer zur Hinrichtung mit Drähten gezerrt, die durch ihre Hoden gezogen wurden. Frauen wurden glühend heiße Pistolenläufe in die Vagina gesteckt. Mao machte die Anwesenheit bei solchen Hinrichtungen zur "Pflichtveranstaltung". Während der Mao-Ära wurden Zehntausende vermeintlicher Gegner bei lebendigem Leib begraben. Selbst Moskau warnte vor kontraproduktiven Folgen des "Mord-und Brandstifterismus" seiner Gefolgschaft.

1934 gelang es den Truppen Chiang Kai-sheks, die Kommunisten in Kiangsi zu schlagen, sie zur Flucht zu zwingen und dabei zu verfolgen. Damit beginnt der zur Mao-Legende stilisierte "Lange Marsch". Das Buch zerstört die Legende, indem es nachweist, dass Chiang Kai-shek die Kommunisten absichtlich immer wieder entkommen ließ und in solche Provinzen abdrängte, die zuvor der Zentralregierung gegenüber unbotmäßig gewesen waren, nun aber dankbar deren Hilfe gegen die marodierenden Kommunisten annehmen mussten. Weit entfernt von Kameradschaft mit den eigenen Truppen ließen sich Mao und andere Anführer von ächzenden Trägern in Sänften über Tausende von Kilometern schleppen. Viele Träger starben.

Als im Dezember 1936 Chiang Kai-shek von Meuterern entführt wurde, hoffte Mao, ihn im neuen Hauptquartier der Kommunisten in Yenan demonstrativ hinrichten zu können. Doch aus Sorge vor Japan befahl Stalin, gegen Japan mit Chiang Kai-shek zusammenzuarbeiten. Den "Langen Marsch" hatten laut Mao nur 30.000 Kommunisten überlebt. Das physische Ende ihrer Partei schien voraussehbar. Das rettende "Marne-Wunder" ergab sich aus Japans 1937 beginnenden achtjährigem Krieg gegen China.

Zu Recht schreiben die Verfasser: "Mao sah den Krieg ... als eine Gelegenheit zur Vernichtung Chiangs, die die Japaner für ihn übernehmen sollten. Bei Kriegsbeginn lag das Kräfteverhältnis zwischen den Armeen von Chiang und Mao bei 60:1, bei Kriegsende hingegen bei 3:1." Chiang, so die Autoren, war der unbestrittene Anführer in Chinas Krieg gegen Japan. Selbst im chinesischen Fernsehen wird derzeit die Rolle Chiang Kai-sheks im Zweiten Weltkrieg berichtigt.

Japans Krieg bewirkte jene entscheidende Schwächung der Kuomintang, die den Kommunisten zuvor nie gelungen war. Wie die Autoren zeigen, verdankte Mao seinen Sieg in dem 1945 erneut beginnenden vierjährigen Bürgerkrieg nicht nur gravierenden Fehlentscheidungen der nationalchinesischen Regierung. Denn einerseits erleichterte eine sowjetische Besatzung in der Mandschurei die dortige Positionierung und moderne Bewaffnung der maoistischen Streitkräfte. Andererseits halfen die Amerikaner mit ihrem wohlgemeinten, aber absurden Versuch, durch Druck auf Chiang Kai-shek eine "demokratische" Koalitionsregierung zwischen Nationalisten und Kommunisten zu erzwingen.

Mao profitierte auch von der erfolgreichen Strategie seiner Heerführer Lin Biao, Zhu De und Peng De-huai. Doch in keiner Stadt oder Region hinter der Front gab es irgendeine revolutionäre Erhebung zugunsten der Kommunisten.

Dort, wo die Kommunisten Fuß gefasst hatten, entfachten sie den Klassenkampf armer Bauern gegen die Grundbesitzer. Nur wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht wurden diese und die Intellektuellen zu objektiven Gegnern erklärt, vor inszenierte "Volksgerichte" mit befohlener Massenbeteiligung gezerrt, mit Anklagen überhäuft und erschlagen. Ihr Besitz wurde zunächst unter anklagende ärmere Bauern verteilt. Mao, der "Tötungen in großem Rahmen" forderte, behauptete: "Nur wenn das richtig erledigt wird, ist unsere Macht sicher."

Auch auf Grund sowjetischer Dokumente behandeln die Autoren das ambivalente Verhältnis zwischen Stalin und Mao. Ersterer fürchtete, Mao könne zu einem "zweiten Tito" werden. Mao hingegen erstrebte Ebenbürtigkeit mit Stalin. Weitaus mehr als Stalin war Mao dazu bereit, den Plan des nordkoreanischen Diktators Kim Il Sung zur Eroberung Süd-Koreas zu unterstützen. Der Krieg galt Mao als Mittel, von der Sowjetunion Rüstungsgüter und Industrieanlagen anzufordern. Ab 1951 übernahm China die Führung der kommunistischen Streitkräfte in Korea. Sie konnten die Amerikaner nicht besiegen, sie jedoch zu einem Patt am Ende des Krieges zwingen.

Nach diesem Krieg initiierte Mao eine Politik, die ohne Rücksicht auf die Lebensqualität der Bevölkerung das Ziel hatte, China zur militärischen, industriellen und insbesondere auch nuklearen Großmacht zu entwickeln. Zwar war die sowjetische Führung nach Stalin zur Hilfe bereit, jedoch musste alles bezahlt werden. So mussten aus der Landwirtschaft des bitter armen Chinas Exportgüter - primär Lebensmittel - herausgepresst und der ohnehin knappe Konsum der Bevölkerung drastisch gesenkt werden. Trotz Bedenken führender Parteifunktionäre setzte Mao die ländliche Bevölkerung, der aller Landbesitz genommen worden war, als militärisch disziplinierte Arbeitsarmee in pausenlosen Einsätzen zur Erzeugung von Stahl in Kleinhochöfen und für andere Projekte ein.

Dieses Experiment, der "Große Sprung nach vorn", wie auch die Lebensmittelexporte bewirkten eine Katastrophe. Millionen Tonnen dilettantisch hergestellten Stahls waren unbrauchbar; ab 1958 begann eine vierjährige Hungersnot. Sie bedeutete den qualvollen Hungertod von 38 Millionen Menschen. Maos Leitlinie hatte gelautet: "Erst kommt die Produktion, das Leben steht an zweiter Stelle."

Atommacht mit sowjetischer Hilfe

Mit Hilfe sowjetischer Techniker konnte China jedoch Atommacht werden. International war Mao bestrebt, China anstelle der UdSSR zur Führungsmacht im Weltkommunismus und in der Dritten Welt zu machen. Hierfür vergab er gratis Hilfe selbst an Länder, die wohlhabender als China waren.

Kulturpolitisch richtete sich Maos Vernichtungswille gegen Chinas traditionelle Kultur. Intellektuelle wurden unzähligen Demütigungen ausgesetzt. Nichts wurde mehr publiziert, das nicht der Mao-Linie entsprach. Zum System der Kontrolle gehörten - auch für Parteigenossen - die Zwänge zur öffentlichen Selbstkritik und gezielt auch zur Denunziation von Verwandten, Freunden und Berufskollegen. Mao erwies sich als Meister der Taktik, gegen ihn gerichtete Zusammenschlüsse zu verhindern. Der Einzelne wurde so im Verhältnis zur Staatsmacht isoliert.

Selbst verdienstvollste Parteiführer wie Chou En-lai, Liu Shao-chi und Peng De-huai wurden diesen demütigenden Ritualen unterworfen. Manche wurden eigens in Gegenwart ihrer Kinder bespuckt und geprügelt. Chou, nach außen hin Chinas großer Diplomat, spielte intern Mao gegenüber eine erbärmliche Rolle. Liu, der Kritik gewagt hatte, musste dafür qualvoll sterben. Marschall Peng De-huai wurde 260 Verhören unterzogen und gefoltert. Deng Xiao-ping und seine Familie wurden derart bedrängt, dass ein Sohn sich aus dem Fenster stürzte und eine Querschnittlähmung erlitt. Als seine größte Leistung seit 1949 bezeichnete Mao die von ihm ab 1965 initiierte "Große Proletarische Kulturrevolution". Er ließ Schulen und Universitäten schließen und rief Millionen Jugendlicher dazu auf, bisherige Autoritäten und Elemente der alten Kultur anzugreifen. Unzählige Lehrer wurden gedemütigt, gefoltert und erschlagen oder in den Selbstmord getrieben. Bücher, die nicht zum Maoismus passten, wurden öffentlich verbrannt.

Außenpolitisch profitierte der von Moskau ernsthaft bedrohte Mao von der Bedrängnis der USA durch den Vietnamkrieg. Präsident Nixon und Kissinger reisten 1971 beziehungsweise 1972 zu Mao. Er behandelte Nixon herablassend, nachdem die Amerikaner, ohne Gegenleistungen zu fordern, wesentliche Vorteile angeboten hatten, darunter den Rückzug aus Taiwan und Indochina, die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen und die Aufnahme in die UNO. Damit endete der Kalte Krieg zwischen China und den USA; beide Mächte sahen sich hierdurch in ihrem Verhältnis zur Sowjetunion gestärkt.

Der Band beansprucht nicht, eine allgemeine Geschichte Chinas in der Mao-Ära zu sein, sondern konzentriert sich auf die allerdings dominierende Persönlichkeit Mao Tse-tungs. Es entsteht ein Bild, das naive Bewunderer, darunter viele Intellektuelle und manche Staatsmänner, erschrecken und beschämen muss. Zu wenig betont wird aber die für sinn-und orientierungsbedürftige Chinesen bedeutende und charismatisch qualifizierende Rolle von Maos Gedanken und Schriften - insbesondere derer vor 1949 - wobei allerdings das Verbot jeglicher anders orientierter politischer Literatur mit zu bedenken ist. Andererseits müsste auch auf eine auf gewisse Genialität Maos bei der vieldimensionalen Gestaltung seiner Strategie des Volkskrieges in einem Entwicklungsland hingewiesen werden.

Trotz der Fülle dokumentierter Fakten ist der Band ungemein lebendig geschrieben. Hat man einmal zu lesen begonnen, legt man das Buch schwer wieder aus der Hand. Wer, wie Pekings Propaganda, in Mao den "Großen Steuermann" sehen will, wird zugeben müssen, dass sein "Schiff" eine Galeere war, auf der die Peitsche regierte und nur das Kommando des "Steuermannes" vernehmbar war.


Jung Chang / Jon Halliday

MAO. Das Leben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer, Heike Schlatterer und Werner Roller.

Karl Blessing Verlag, München 2005; 975 S., 35,- Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.