Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Johanna Metz

Auf der Suche nach dem Abendland

Mythos Europa

Es mag kein gutes Omen sein, aber die Geschichte Europas beginnt mit einem Verbrechen. Es ereignete sich an einem Morgen vor rund 3.000 Jahren, als Europa, die schöne Tochter des Königs Agenor, am Strand Phöniziens Blumen pflückte. Dort, wo heute Syrien an das Mittelmeer grenzt, näherte sich ihr plötzlich der mächtigste aller Götter, Zeus, in Gestalt eines weißen Stiers. Die asiatische Prinzessin, schöner und liebenswürdiger als alle anderen Mädchen im Lande, fürchtete sich jedoch nicht. Sie setzte sich vergnügt auf seinen Rücken und schmückte ihn mit Blumen. Da sprang der Stier auf, warf sich mit ihr in die Wellen und entführte Europa über das Meer nach Kreta. Dort offenbarte sich ihr Zeus und gestand ihr seine Liebe. Glaubt man den alten Griechen, fand der Raub der Königstochter damit ein gutes Ende: Beide wurden glücklich miteinander und zeugten drei Söhne. Und weil alles so wunderbar war, sollte der Kontinent, auf den Zeus Europa entführt hatte, fortan ihren Namen tragen. So jedenfalls erzählen es die mythischen Dichtungen Hesiods und Ovids im 7. Jahrhundert vor Christus.

Doch was ist das für ein Auftakt? Sollte Europa, dieses kleine, zerklüftete Stück Erde, dieser Zipfel am Hosenbein Asiens, tatsächlich durch den Akt eines liebestollen Göttervaters begründet worden sein? Nicht mehr als ein Mythos, wie wir heute wissen. Nur: Wo liegen die Wurzeln Europas dann?

Dem Wortursprung nach zu urteilen ist es wahrscheinlich, dass die im Osten Nordafrikas lebenden Phönizier den Begriff "Europa" geprägt haben. Mit dem Wort "erob" (dunkel, Abenddämmerung) beschrieben sie offenbar das Gebiet im Norden, weil sie dort, im "Abendland", die Sonne untergehen sahen. Irgendwann könnte das Wort dann über das Mittelmeer nach Griechenland gelangt sein.

Dort jedenfalls taucht der Begriff erstmals im 7. Jahrhundert vor Christus auf einer Landkarte auf. Im Jahre 510 teilte der griechische Geograf und Geschichtsschreiber Hekataios von Milet dann die Welt in zwei Kontinente ein, in Asien und Europa. Afrika kam erst später hinzu. In seiner Vorstellung waren diese Erdteile gleich groß und bildeten zusammen eine kreisförmige Masse rund um das Mittelmeer - ein sichtbares Zeichen dafür, dass sich die Menschen in der Antike weder Form noch Größe dieser Erdteile wirklich vorstellen konnten. Vieles spricht außerdem dafür, dass das antike Europa mit dem Europa von heute nur sehr wenig zu tun hatte, wie auch Martin Zimmermann, Historiker an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität betont: "Bei Hekataios und im 5. Jahrhundert auch bei Herodot ist nur ganz vage nachzuvollziehen, was mit Europa eigentlich bezeichnet wird. Das ist ja nicht das heutige Europa, sondern vielleicht ein Teil Griechenlands und Thrakiens, der europäische Teil der heutigen Türkei."

Erstaunlich ist dabei, dass die Teilung geografisch überhaupt keinen Sinn macht. Asien und Europa bilden einen gemeinsamen Kontinent. Es gibt keine natürliche Grenze, ein Meer etwa oder ein großes Gebirge, die die Einteilung rechtfertigen könnte. Daher muss es etwas anderes gewesen sein, was die Menschen bewogen hat, zwischen Asien und Europa zu unterscheiden. Für Zimmermann liegt die Ursache in einem konkreten historischen Ereignis: "Die strikte Trennung ist in erster Linie ein Ergebnis der Perserkriege zu Beginn des 5. Jahrhunderts. Damals kam es zu einer ideologischen Differenzierung zwischen der griechischen und der östlichen Welt, die dazu führte, dass man tatsächlich eine Grenze an der Ägäis und den Dardanellen setzte. Künftig gab es ein Innen und ein Außen." Innen, darunter verstand man die Hellenen, die in Athen als freie selbstbestimmte Bürger lebten und gleichermaßen an Politik und am öffentlichen Leben partizipierten. Sie hatten sich mit der antiken Polis ein bis dahin einzigartiges Staats- und Gesellschaftssystem geschaffen und waren stolz auf ihre demokratische Entwicklung und ihr Leben in Freiheit. "Außen aber, dort lebten die Barbaren. Sklavenseelen, die unter der Herrschaft eines verweichlichten persischen Königs standen und Griechenland mit Unterjochung und Tyrannei bedrohten." Die vermeintliche Bedrohung aus dem "Osten" begründete damit erstmals ein gemeinsames europäisches Selbstverständnis, wenn auch nur auf einem sehr begrenzten Territorium. "Europa" war daraufhin mehr als eine bloße geografische Zuordnung - es wurde zum Kulturbegriff, eng verknüpft mit den damaligen Vorstellungen von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Allerdings verlor die europäische Idee während der über tausendjährigen Herrschaft der Römer zunächst an Kraft: Denn das Römische Reich vertrat zuallererst einen universalistischen Anspruch. Es definierte sich nicht über die Kategorie "Europa", sondern über seine Zugehörigkeit zum "Imperium Romanum". Und dazu zählten auch Kleinasien und Teile Nordafrikas. Trotzdem ist Europa ohne die Römer heute kaum denkbar: Sie erschlossen den europäischen Raum nicht nur geografisch, sondern etablierten mit der lateinischen Sprache, der römischen Architektur und dem römischen Recht grundlegende Bestandteile der späteren europäischen Kultur. Zudem setzte sich zu Beginn des 4. Jahrhunderts unter der Herrschaft Konstantins des Großen endgültig das Christentum als Staatsreligion durch.

Doch das riesige Reich zerfiel, und erst unter Karl dem Großen, der im 8. Jahrhundert versuchte, die Gebiete zwischen Nordsee und Mittelitalien, Ungarn und Spanien zu vereinen, gewann Europa wieder Konturen. Seine Expansionspolitik jedoch scheiterte, und als er 814 starb, war Europa so gespalten wie ehedem: Mit Italien, Frankreich und Deutschland bildeten sich die ersten Nationalstaaten heraus; sie sollten sich in den folgenden Jahrhunderten blutige Auseinandersetzungen liefern.

Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam es infolge der "Türkenkriege" zur entscheidenden Zäsur: 1453 eroberten die Osmanen Byzanz und verdrängten das Christentum aus Südosteuropa. Der Islam breitete sich aus, Mitteleuropa sah sich vom Expansionsdrang der Türken bedroht. Papst Pius II. rief daraufhin die Völker Europas in seinen "Türkenreden" zum Widerstand gegen die Osmanen auf. Zugleich setzte er, damals sehr ungewöhnlich, Europa und Christenheit gleich und erklärte den europäischen Kontinent zur Heimat der christlichen Religion. "Ab diesem Zeitpunkt", sagt Martin Zimmermann, "kann man wirklich von der Herausbildung einer europäischen Identität sprechen. Europa musste erneut darüber nachdenken, wie man Asien, in diesem Fall die Türken, von der europäischen Kultur fernhalten konnte. Man begann, die kulturelle Identität Europas stärker denn je mit dem Christentum zu verbinden." So entstand die "Christianitas" (Christenheit) als gemeinsamer Bezugspunkt der europäischen Völker. In ihren Grenzen erkennt man schon damals deutlich das politische Europa der Gegenwart.

Von Frieden oder gar Einheit konnte allerdings noch keine Rede sein. Die modernen Nationalstaaten bildeten sich gerade erst heraus, überdies zerfiel während der Reformation die Einheit der damaligen Kirche. Die konfessionellen Gegensätze entluden sich im Dreißigjährigen Krieg. Im Rückblick erstaunt es durchaus, dass es doch etwas Verbindendes gab: Es war die Rückbesinnung auf antike Werte im Zeitalter der Renaissance, auf Kunst, Philosophie und Architektur der alten Griechen und nicht zuletzt auf Geistesbewegungen wie den Humanismus. Sie begründete schließlich eine gemeinsame europäische Kulturtradition und führte nicht zuletzt dazu, dass Europa seine Grenzen näher definierte: Seit dem 18. Jahrhundert gilt als ausgemacht, dass Europa am Ural endet.

Für die Historiker war damit jedoch wenig gewonnen: Sie zweifeln noch heute, ob sich Europa über seine Geschichte hinweg wirklich als einheitlicher Kulturraum definieren lässt und ob es tatsächlich so etwas wie ein "Europäisches Geschichtsbuch" gibt. Der Philosoph Oswald Spengler verneinte das um 1920. Er forderte gar die Streichung "Europas" aus den Geschichtsbüchern, weil es schlicht nicht tauge zu einem historisch-politischen Ordnungsbegriff. Aber ist es dann wirklich nur ein bloßes Konstrukt, wie viele Historiker meinen? "Eine Selbstzuschreibung", wie auch Zimmermann betont, bei der sich jede Generation ihr eigenes Europa schafft? Zumindest für den künftigen Erweiterungsprozess könnte das von Bedeutung sein: Denn auch wenn das moderne Europa ohne den historischen Gegensatz zu Asien kaum denkbar scheint - in der Geschichte des Kontinents hat es auch lange Perioden gegeben, in denen das "Konzept Europa" weiter gefasst war, in denen die Türkei beispielsweise dem gemeinsamen, christlich geprägten Kulturkreis angehörte. Daher scheint am Ende aller Überlegungen nur eines wirklich sicher: Was Europa genau ist, wo es beginnt und wo es endet, ist einmal mehr eine Frage der Perspektive.

 

Johanna Metz ist Volontärin der Wochenzeitung "Das Parlament".


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