Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Jochen Buchsteiner

Auf Papiergröße geschrumpft: Ein alter Kontinent namens Europa

In Indien büßt die Union zunehmend an Bedeutung ein

Als Premierminister Manmohan Singh Anfang Februar auf einer langen, seltenen Pressekonferenz das vergangene Jahr bilanzierte, fiel das Wort "Europa" kein einziges Mal - weder in den Ausführungen des Regierungschefs noch in den Fragen der Journalisten. Die Regionen, für die Indien sich interessiert, liegen außerhalb der alten Welt, hauptsächlich in Amerika und China. In den politischen Kreisen Delhis neigt man der Meinung zu, dies sei kein Versäumnis Indiens, sondern eines Europas. Als Papiergröße spielt Europa durchaus eine Rolle. In den Statistiken der indischen Regierung taucht "die EU" als größter Handelspartner des Subkontinents auf. Ein Viertel aller indischen Exporte ging im Jahr 2004 ins vereinigte Europa - Güter und Dienstleistungen im Wert von fast 20 Milliarden Dollar - etwa gleichviel lieferten die EU-Länder an den Subkontinent.) Auch als Investoren stehen die 25 EU-Länder - nimmt man sie als Einheit - an der Spitze. Auf beiden Sektoren holen allerdings die asiatischen Länder mit Riesenschritten auf.

Indien und die EU haben zudem gemeinsam einen "politischen Dialog" entwickelt, der inzwischen jährlich auf höchster Ebene abgehalten wird. Aber spätestens hier - beim Stichwort "höchste Ebene" - beginnen die indischen Verständnisschwierigkeiten. "Wer ist Euer wahrer Boss? Und für wen spricht er eigentlich?", lauten die Fragen indischer Journalisten, die über die "EU-Indien-Gipfel" berichten.

Zuletzt war der britische Premierminister Tony Blair als Ratspräsident nach Delhi gereist. Begleitet wurde er von Manuel Barroso, dem Kommissionspräsidenten. Welcher der beiden ist Manmohan Singhs Counterpart? Die Nöte der indischen Regierung setzen sich auf Außenministerebene fort. Repräsentiert nun Javier Solana die Außenpolitik der EU oder die zuständige Kommissarin Benita Ferrero-Waldner? Auch sie waren beide nach Indien angereist. Die protokollarische Verwirrung reflektiert die tiefer liegende Irritation, die die EU als politischer Akteur produziert. Zur Zeit bietet sie ein seltenes Bild der Geschlossenheit, weil England, Frankreich und Deutschland als "E3" eine gemeinsame Linie im Irankonflikt verfolgen. Aber in den vergangenen Jahren wurde Europa überwiegend als uneins wahrgenommen: zerrissen während des Irakkrieges, geteilt in der Position gegenüber China, zerstritten selbst in der Frage, ob ein EU-Mitglied Deutschland ein ständiger Sitz im Weltsicherheitsrat zusteht. Die "Strategische Partnerschaft", die Indien und die EU im Jahr 2004 ausgerufen haben, findet im politischen Alltag keinen Niederschlag.

Indisch-europäische Einigkeit wird vor allem dort zelebriert, wo sie nicht weh tut: bei der gegenseitigen Würdigung demokratischer Werte und dem gemeinsamen Eintreten für die Universalität der Menschenrechte. Aber selbst auf diesem Feld streben die Interessen auseinander, sobald es konkret wird. Das von der EU geförderte Statut eines Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag wurde von Delhi nicht unterzeichnet, und der multilaterale Klimaschutzprozess ("Kioto") wird von Indien mit einer amerikanisch-pazifischen Regional-Initiative konterkariert, die sich unlängst in Sydney konstituierte. Wenn Delhi, das seine Außenbeziehungen nach streng nationalen Interessen ausrichtet, den alten Kontinent in den Blick nimmt, dann konzentriert es sich lieber auf die handlungsfähigen, souveränen Nationalstaaten. Dabei gilt das Hauptaugenmerk der Regierung den drei Großen, die jeweils bilaterale "Strategische Partnerschaften" mit Indien vereinbart haben.

Mit Großbritannien verbindet den Subkontinent noch immer das engste Verhältnis. Das Kolonialerbe ist im indischen Alltag lebendig geblieben. Inder sind mit dem britischen Recht vertraut, sie frönen dem Cricket-Sport und verfolgen Literatur, Königstratsch und Politik im Land der ehemaligen Unterdrücker. In keinem europäischen Staat studieren so viele Inder an Universitäten, nirgendwo sonst in Europa haben sich mehr Inder dauerhaft niedergelassen. Großbritannien ist auch der wichtigste Wirtschaftspartner innerhalb der EU. Frankreich fasziniert vor allem die gebildeten Stände; Paris gilt noch immer als Hort der Zivilisation, von der Mode über den Wein bis zur Küche. Wahrgenommen wird Frankreich, das Indien ebenfalls kleine Kolonialstempel aufgedrückt hat, als stolze Nation, die geopolitisch und strategisch denkt und handelt. Während das politische und militärische Establishment in Delhi Frankreich vor allem als Exporteur von Kriegsgerät und Zivilflugzeugen schätzt (Airbus wird in Indien als französischer Konzern begriffen), achtet es die indische Linke überwiegend als politischen Gegenspieler der Vereinigten Staaten.

Deutschland mit seinem gebrochenen Nationalgefühl ist von vielen Indern unverstanden. In Wirtschafts- und Kulturkreisen genießt es nach wie vor einen guten Ruf (letzteres ist vor allem dem Indologen Max Müller zu verdanken, der im 19. Jahrhundert die klassische indische Literatur ins Englische und Deutsche übersetzte.) Aber viele junge Inder fremdeln mit der historisch geläuterten und postmodernen Bundesrepublik. Weder beeindruckt Deutschland mit militärischer, gar nuklearer Stärke, noch strengt es sich (wie Frankreich) an, die Zusammenarbeit auf jenem Gebiet auszubauen, das im wirtschaftlich boomenden Indien derzeit Priorität genießt: der Energiegewinnung, insbesondere durch Atomkraft.

Das politische Delhi ist überzeugt, daß das begonnene Jahrhundert als ein asiatisches enden wird - mit China und Indien im Zentrum. Europa wird zunehmend als Krisenkontinent beschrieben, dem die Kräfte und die Menschen ausgehen. Die oft hasserfüllte Bewunderung, die dem ehemaligen Weltzentrum lange entgegengebracht wurde, weicht langsam anderen Impulsen: Sorge, Mitleid, Desinteresse - und zuweilen einer gewissen Schadenfreude.

Karrieren wie die des indischstämmigen Stahlmagnaten Lakshmir Mittal, der sich zur Zeit anschickt, die Branche im Weltformat zu beherrschen, werden als Vorboten einer neuen Zeit betrachtet. Als der indische Börsenindex Sensex erstmals die psychologische 10.000er-Grenze übersprang, diktierte der Großunternehmer Anand Mahindra einem Korrespondenten in Davos in den Block: "Was sich geändert hat in Indien, ist die Einstellung der Inder. Wir sind jetzt bereit, in der Welt mitzuspielen." Ein indischer Geschäftsmann, der zu Gast beim deutschen Botschafter in Delhi war, unkte unlängst: "Jahrhundertelang haben uns die Europäer kolonialisiert, jetzt beginnt die Zeit der Gegenkolonialisierung."

Einflußreiche Publiszisten wie C. Raja Mohan werfen Europa vor, die Zeichen der Zeit zu verkennnen. Befangen in der Nachkriegsordnung und im Glauben an einen westlich dominierten Multilateralismus verpasse Europa, sich auf die "asiatische Revolution" einzustellen. Der Auftritt zweier neuer Großmächte mit nationalistischen, wirtschaftlichen und politischen Ambitionen werde nicht annähernd reflektiert. Dass die Vereinigten Staaten in Indien so viel ernster genommen werden als die Europäer, hat nicht nur mit ihrer militärischen Macht zu tun, sondern auch mit der Aufmerksamkeit, die sie den Indern zuteil werden läßt. Regelmäßig tauchen amerikanische Minister in Delhi auf wie kürzlich US-Präsident George Bush. Der Staatssekretär im State Department, Nicholas Burns, klärte die Europäer im vergangenen Jahr darüber auf, daß die "größte Veränderung" in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten "ein neuer amerikanischer Fokus auf Südasien" sein wird. Von derartigen Einschätzungen, geschweige denn Ankündigungen, ist die europäische Außenpolitik noch weit entfernt.

 

Jochen Buchsteiner ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Indien.


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