Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Karl-Otto Sattler

Europa "erweitert"

Stichwort

Trotz der erfolgreichen Neuaufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten im Jahr 2004 scheinen viele in Europa "erweiterungsmüde". Angesichts wachsender Kritik vollzieht Brüssel eine Kehrtwende. Künftig soll der Beitritt eines Kandidaten nicht mehr nur von dessen inneren Reformen, sondern auch von der Aufnahmefähigkeit der Union abhängen. Verkraftet die EU, die mit Rumänien und Bulgarien bald 27 Mitglieder zählen wird, eine weitere Ausdehnung oder überfordert dies die Gemeinschaft? Inwieweit fördert oder behindert ein schneller Beitritt die Entwicklung eines Landes?

Ob die Türkei, die Länder des Balkans oder gar die Ukraine: Für viele Staaten ist ein Beitritt zur Union ein Wunsch, von dem sich die Länder nicht nur wirtschaftlichen Wohlstand versprechen. Aber kann es eine grenzenlose EU überhaupt geben? Und wenn es Grenzen gibt: Wie werden sie definiert - rein ökonomisch, über rechtsstaatliche Standards, geografisch, kulturell oder historisch? Auf welchen Werten baut dieses Europa auf?

Erst vor diesem Hintergrund erhellt sich der Blick auf die einzelnen Beitrittskandidaten. Gerade in Deutschland sorgt das Drängen Ankaras für Kontroversen: ein islamisches Land in der EU, darf das sein? Am Bosporus selbst provoziert die Hinwendung zu Europa Streit zwischen dem westlich und dem nationalistisch gesinnten Lager.

Unter ganz anderen Vorzeichen wird auch Polen durch die EU-Zugehörigkeit durcheinandergerüttelt: Erst nach und nach setzt vor allem die Jugend gegen konservative Widerstände die Europäisierung im gesellschaftlichen Alltag durch.

Paradox mutet die Situation ganz weit im Osten an: Die Ukraine will mit Macht in die Union, Russland dagegen zeigt Brüssel zusehends die kalte Schulter - und dieser Gegensatz trägt mit zu den Spannungen zwischen Moskau und Kiew bei. Was kaum wahrgenommen wird: Russland stuft die EU beim Ringen um Einfluss in seinen Nachbarstaaten mehr und mehr als Konkurrenten ein.

Ach ja: Fast in Vergessenheit geraten ist, dass auch im Westen mit der Schweiz und Norwegen zwei Nationen lieber ihr nationales Gärtchen pflegen. Offenbar will doch nicht jeder in die Union.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.