Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Karl-Otto Sattler

Europa "sozial"

Stichwort

Zehntausende von Gewerkschaftern demonstrieren gegen die Dienstleistungsrichtlinie, in der erweiterten Union streiten Regierungschefs, Kommission und Parlamentarier so hart wie noch nie um den Etat, und die ostdeutschen Länder sorgen sich um sinkende Beihilfen aus Brüssel. Der finanzielle Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten verbindet Europa, am Geld scheiden sich die europäischen Geister aber auch immer wieder aufs Neue. Lange Jahre konzentrierte sich die Europäische Union vor allem auf ihre wirtschaftliche Entwicklung. Mit der Reform der Lissabon-Strategie im Jahr 2005 wurde versucht, in Zukunft auch die sozialen Belange der Bürger Europas stärker zu berücksichtigen.

Hinter vielen Einzelfragen steht ein Grundsatzkonflikt: Welchen Weg will die Union im Zeitalter der Globalisierung in der Zukunft im Spannungsfeld zwischen Marktchancen und sozialem Druck einschlagen? Die Antwort steht noch aus: Im Wettbewerb stehen der gewachsene Sozialstaat auf dem Kontinent, der angelsächsische Neoliberalismus und die skandinavische Variante mit ihrer Kombination aus liberaler Wirtschaftspolitik und hohen Sozialstandards. Eine akademische Lösung wird es nicht geben, die Entscheidung fällt im politischen Wettstreit - immer auch vor dem Hintergrund nationaler Sozialmodelle.

Ein zentrales Instrument Brüssels zur Wohlstandsförderung und -angleichung der Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten sind Subventionen. Doch auch unter dem Druck knapper Kassen konnten sich die EU-Strategen bislang nicht zu weitreichenden Reformen entschließen: Noch immer fließt der Löwenanteil der Gelder in Traditionsbranchen wie die Landwirtschaft und nicht in Zukunftsbereiche wie Bildung, Forschung oder neue Technologien.

Ambivalente Erfahrungen mit EU-Beihilfen hat Deutschlands ökonomisch schwacher Osten gemacht: Manche Zuschüsse entfalten eine segensreiche Wirkung, andere verpuffen eher folgenlos. Eine Reform der EU-Finanzpolitik scheitert vor allem an dem Umstand, dass die Regierungschefs mit ihren Überweisungen den Etat sichern und deshalb das letzte Wort haben. Eine Europasteuer als eigenständige Finanzquelle der Union könnte Brüssel zu mehr Autorität gegenüber den Mitgliedstaaten verhelfen, gilt aber bisher noch als Zukunftsmusik.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.