Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Daniela Weingärtner

Die alten Spielregeln haben ausgedient

Die Diskussion um die EU-Verfassung offenbart Europas Suche nach dem eigenen Selbstverständnis
Nach dem Verfassungsdebakel sind die politisch Verantwortlichen ratlos - die Europäische Union hat sich erst einmal eine Denkpause verordnet. Statt lebhafte Debatten darüber zu führen, wie es in der Verfassungsfrage weitergehen soll, herrscht lähmendes Schweigen. Ein Ausweg aus der Krise ist nicht in Sicht. Die inzwischen auf 25 Mitglieder angewachsene Europäische Union arbeitet weiterhin nach Spielregeln, die vor knapp fünfzig Jahren für sechs Gründungsmitglieder festgelegt wurden. Doch das Schauspiel, das in Brüssel und Straßburg geboten wird, ist schwer zu durchschauen, die Prozeduren schwerfällig und den anstehenden Problemen zumeist nicht angemessen. Europa braucht dringend neue Regelungen.

Am 9. Juli 2003 tagt der Konvent für eine Verfassung Europas zum letzten Mal. Anschließend schreibt der österreichische Konventsdelegierte Caspar Einem in sein Tagebuch: "Abschlussessen der sozialistischen Fraktion. Die Stimmung ist entspannt und wir plaudern über die personellen Perspektiven der EU (wer wird Kommissionspräsident, wer Präsident des Rates, wer Außenminister)...."

Zweieinhalb Jahre später ist die Aufbruchstimmung verflogen. Bei den ehemaligen Mitgliedern des Konvents zur Verfassung Europas, bei EU-Politikern und Beobachtern hat sich Ernüchterung breit gemacht. Zwar haben inzwischen 14 Länder den Text ratifiziert, zwei davon per Volksabstimmung. Bis zum Sommer wollen auch die Parlamente von Estland und Finnland zustimmen. Doch zwei Volksabstimmungen - in Frankreich und den Niederlanden - sind gescheitert. Mehrere Länder, darunter Großbritannien und Polen, wo ebenfalls Volksabstimmungen stattfinden sollten, haben den Ratifizierungsprozess gestoppt.

Aus den seither veröffentlichten Studien, Büchern und Diskussionsbeiträgen lassen sich Plädoyers für fünf mögliche Handlungsalternativen ableiten: Eine Option besteht darin, Bürgern und Politikern eine Reformpause zu gönnen und so gut es geht mit dem geltenden Nizzavertrag weiter zu arbeiten. Eine andere Möglichkeit wird bereits - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - in die Tat umgesetzt: Kleine praktische Neuerungen unterhalb der Vertragsreform beschließt einstimmig der Ministerrat. Bereits während des Verfassungskonvents hatten Vertreter einiger neuer Mitgliedstaaten, damals noch im Kandidatenstatus, gefordert: Gebt dem derzeit gültigen Vertrag von Nizza eine Chance, seine Tauglichkeit in der erweiterten EU zu beweisen.

Der Feldversuch mit dem Nizzavertrag ist inzwischen gescheitert, das lässt sich bereits nach knapp zwei Jahren feststellen. Er ist für die 25 Mitgliedstaaten nicht praxistauglich. Im EU-Alltag lässt sich das an vielen Stellen beobachten. Teilnehmer bei Ratssitzungen berichten über ermüdende, nicht enden wollende Grundsatzdebatten. Wenn jeder Regierungsvertreter auch nur für zwei Minuten das Wort ergreift, ist eine Stunde vergangen. Der Zwang zur Einstimmigkeit lähmt die europäische Handlungsfähigkeit. Der Vermittlungsausschuss, in dem eigentlich Gesetzeskompromisse zwischen Rat und Parlament erarbeitet werden sollen, ist lahm gelegt. Der Teilnehmerkreis ist zu groß geworden. Deshalb werden immer mehr Entscheidungen im so genannten Trilog zwischen Rat, Parlament und Kommission getroffen, der in den EU-Verträgen gar nicht vorgesehen ist.

Was überhaupt noch funktioniert im Institutionengefüge, findet in einer Grauzone informeller Vereinbarungen und Zusatzprotokolle statt, außerhalb der Verträge. Was nicht funktioniert, wird mit dem Stoßseufzer "Wenn wir nur die Verfassung hätten!" auf unbestimmte Zeit verschoben. Da es im erweiterten Kreis mit 25 Teilnehmern an vielen Stellen knirscht, sind die Institutionen dazu übergegangen, pragmatisch und ohne großes öffentliches Aufheben, Teile der EU-Reform auf dem kleinen Dienstweg ins Alltagsgeschäft zu übernehmen. Der Europäische Rat im Dezember beschloss, den gesetzgebenden Teil von Fachministertagungen künftig öffentlich abzuhalten, um mehr Transparenz und Legitimität in den europäischen Gesetzgebungsprozess zu bringen. Der Europäische Gerichtshof bezieht sich in seinen Urteilen zunehmend auf die Grundrechte-Charta und nimmt damit die Verfassung vorweg. Auch in der neuen Dienstleistungsrichtlinie wird die Grundrechte-Charta erwähnt, obwohl sie nur als Teil der Verfassung Rechtskraft besitzen würde.

Es gibt aber auch begeisterte Europäer, die den pragmatischen Weg der kleinen Schritte ablehnen. Damit sei zwar das Alltagsgeschäft leichter zu bewältigen, doch am negativen Bild der EU bei den Bürgern ändere das gar nichts. Deshalb wirbt Belgiens Ministerpräsident Guy Verhofstadt in seinem kürzlich erschienenen Manifest ganz kühn für "die Vereinigten Staaten von Europa". Er schlägt vor, dass alle Länder, die den Euro eingeführt haben, sich zu einem engen Staatenbund zusammenschließen sollen. Die übrigen werden EU-Mitglieder zweiter Klasse. Ein Vorschlag, der viele Fragen aufwirft, aber Antworten vermissen läßt.

Variante vier vertreten einige Mitglieder des Verfassungskonvents, darunter der grüne Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber und sein liberaler Kollege Andrew Duff. Sie wollen den Konvent erneut einberufen und den Verfassungstext überarbeiten. Die Bürger, vor allem die Verfassungsgegner in Frankreich, sollen für das Projekt dadurch gewonnen werden, dass die soziale Komponente im Text gestärkt wird. Möglich wäre auch, den technischen dritten Teil, der die umstrittenen Binnenmarktregeln enthält, als EU-Vertrag abzutrennen und nur den ersten Teil und die Grundrechte-Charta erneut in einem Referendum abstimmen zu lassen. Dieser Vorschlag ist auf viel Widerstand gestoßen - im EU-Parlament selbst und bei vielen Regierungen.

Niemand könne ernsthaft glauben, ein erneuter Verfassungsprozess mit abschließendem neuerlichen Kuhhandel im Rahmen der Regierungskonferenz brächte einen stärker an sozialen Rechten orientierten Text hervor, warnt der ehemalige EU-Parlamentspräsident Klaus Hänsch von den Sozialdemokraten. Genauso sieht es sein konservativer Kollege Elmar Brok, der wie Hänsch Mitglied im Konvent zur Verfassungsreform war. Deshalb bevorzugen die Pragmatiker im Europaparlament, genau wie die neue deutsche Bundesregierung und die EU-Kommission, Variante fünf. Elmar Brok glaubt, dass die Chancen, die Verfassung in unveränderter Form durchzubringen, in den vergangenen Monaten gestiegen ist. Nicht der Text des Vertrages, so Brok, solle geändert werden, sondern der "Kontext" lautet die Schlüsselidee dieser Variante. Die Grundstimmung also soll besser werden. Nach einer Denkpause, nach den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden im Mai 2007, sollen die Franzosen und die Holländer noch einmal zum gleichen Text befragt werden.

Ein As, das in Vergessenheit geraten war, holt Elmar Brok dieser Tage wieder aus dem Ärmel: Die Staats- und Regierungschefs hatten sich darauf geeinigt, das Thema Verfassung erneut auf die Tagesordnung zu setzen, wenn zwanzig EU-Länder positiv entschieden haben. Sollten die Parlamentsabstimmungen in Finnland und Estland positiv ausgehen, womit zu rechnen ist, würden nur noch vier Länder gebraucht, um dieses Quorum zu erreichen. Beim Gipfeltreffen der konservativen Regierungschefs im Dezember sprach sich eine Mehrheit dafür aus, den Ratifizierungsprozess fortzusetzen. Das Europaparlament macht ganz klar, dass von einer Lösung im Verfassungskonflikt die Zukunft der Union abhängt. Ohne Reform werde die Erweiterung gestoppt.

 

Daniela Weingärnter ist Korrespondentin der Wochenzeitung "Das Parlament" in Brüssel.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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