Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Cornelia Bolesch

Frischer Wind treibt Brüsseler Regierungsmühlen an

Die Öffentlichkeit beobachtet Entscheidungsprozesse aufmerksamer und nimmt auch Regierungschefs und Minister in die Pflicht
Die EU, so meinen viele Bürger, sei ein zentralistischer, bürgerferner, technokratischer und undurchsichtiger Moloch: Dort heckten hinter den Kulissen Funktionäre, Politiker und Interessenvertreter unbeliebte Beschlüsse aus, mit denen sie die Bevölkerung traktierten. Angesichts der in der Tat recht intransparenten Brüsseler Gemengelage, bei der auch Lobbyisten kräftig mitmischen, kommt dieser Eindruck nicht von ungefähr. Doch in Brüssel weht ein neuer Wind. Zusehends schaltet sich eine wache Öffentlichkeit in die Entscheidungsprozesse ein und setzt die "Eurokraten" unter Druck. Und die nationalen Politiker sind gefordert, Verantwortung für die von ihnen auf EU-Ebene beschlossenen Gesetze zu zeigen und sich nicht mehr im Niemandsland zwischen nationalen Hauptstädten und Brüssel zu verstecken.

Margot Frohlinger ist eine Eurokratin. Sie gehört zu den 22.000 Beamten in der EU-Kommission. Die Deutsche ist Teil eines Apparats, der nach landläufiger Meinung die Bürger in Europa tagaus, tagein mit immer neuen unsinnigen Vorschriften belästigt. Dabei ist Margot Frohlinger ein Beispiel dafür, dass die schönsten Pläne eines europäischen Beamten sich in Luft auflösen können, wenn die Öffentlichkeit nur rechtzeitig davon Wind bekommt.

Die deutsche Fachfrau Margot Frohlinger hat in der Generaldirektion Binnenmarkt massgeblich mitgeholfen, einen Gesetzentwurf aus der Taufe zu heben, der unter dem Titel "Dienstleistungsrichtlinie" lief. Unter der politischen Ägide des holländischen Kommissars Frits Bolkestein wollte die Kommission auf einen Schlag sämtliche innereuropäischen Barrieren beseitigen, die etwa einen Handwerker aus Aachen dazu zwingen, sein Auto in Belgien registrieren zu lassen, auch wenn er dort nur kurzfristig ein Haus anstreichen will. Künftig sollten überall in der EU nur noch diejenigen Vorschriften gelten, die ein Handwerker oder ein selbstständiges Unternehmen in seinem jeweiligen Herkunftsland zu beachten hat. Doch aus dieser Idee wurde nichts.

Kaum hatte der Entwurf im Jahr 2004 den Tisch der Beamtin Frohlinger verlassen und war von allen Kommissaren unauffällig abgenickt worden, entwickelte sich diese Vorlage dank einiger Unklarheiten im Text zum größten Schreckgespenst, das je versucht hat, durch den Brüsseler Flaschenhals zu kommen. Die Gewerkschaften machten mobil gegen angebliches Sozialdumping und drohende Billig-Konkurrenz und zogen zu Tausenden gegen die "soziale Kälte und Herzlosigkeit" der Eurokraten auf die Straße. Das Europaparlament stellte sich auf die Seite der Demonstranten und verabschiedete im Februar in erster Lesung eine stark abgeschwächte Version des Gesetzentwurfs.

Auch die Kommission will inzwischen nur noch Dienstleistung light. Nach dem Sturm der Entrüstung auf Europas Straßen ist in der Brüsseler Zentrale der Katzenjammer ausgebrochen. Nicht mal vom wirtschaftlichen Nutzen dieser Richtlinie ist man noch überzeugt. "Wegen diesem Quatsch haben wir Europa

in die Krise gestürzt?", fragt man sich auf höchster Ebene. Jetzt will man "das Ding möglichst schnell vom Tisch" haben. Künftig soll auch die Arbeit der Beamten in der Kommission neu organisiert werden: Anstatt unermüdlich an neuen Gesetzen zu werkeln, werden sie jetzt verstärkt mit der Prüfung befasst, ob die Mitgliedstaaten denn überhaupt schon alle vorhandenen EU-Gesetze übernommen haben.

Was lehrt diese Geschichte? Je aufmerksamer die europäische Basis verfolgt, was die europäische Spitze so treibt, umso seltener werden die Bürger von den Einfällen der Eurokraten überrumpelt werden. Das ist grundsätzlich eine gute Sache, selbst wenn die Kritik an EU-Gesetzentwürfen - wie im Fall der Dienstleis-tungs-Richtlinie - auch polemisch und ungerecht sein kann.

Im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu stehen ist eine neue Erfahrung für Brüssels Beamte und ihre politischen Vorgesetzten, die Herren und Damen Kommissare. Jahrzehntelang haben sie zusammen Gesetze ausgeheckt, die durchaus kontrovers von den Abgeordneten im EU-Parlament und den Ministern im Rat diskutiert und verabschiedet wurden, ohne dass aber im weiteren Umkreis der betroffenen Mitgliedsländer irgendjemand groß Notiz davon genommen hätte. Nicht die angeblich so komplizierte Brüsseler Politik ist schuld am Europa-Frust, sondern die Unkenntnis und die Gleichgültigkeit in den meisten EU-Staaten gegenüber den gar nicht so komplizierten Abläufen in der ungeliebten Zentrale. Manche nationale Regierung macht sich dieses Desinteresse auch zunutze und treibt in Brüssel Vorhaben voran, für die sie im eigenen Land großen Widerstand ernten würde. Da hat sich selbst Staatspräsident Jacques Chirac nicht geniert, die Kommission um europäische Maßnahmen gegen die Vogeljagd zu bitten - eine Gesetzesinitiative in Frankreich kam für ihn nicht in Frage, da hatte Chirac viel zu große Angst vor der eigenen Jäger-Lobby.

Nationale Regierungen verstecken sich gerne hinter dem System in Brüssel. Läuft die Sache gut, kann man sich vor dem heimischen Publikum als Gewinner präsentieren. Kriegt man zu Hause Prügel, kann man immer noch behaupten, "Brüssel" sei schuld. Diese Taktik konnte in der Vergangenheit recht gut funktionieren, weil Politik in Brüssel tatsächlich eine Besonderheit hat: Es gibt keine eindeutige politische Mehrheit und keine eindeutige Opposition. Dieses Patchwork aus wechselnden politischen Koalitionen kann vor allem Lobbyisten um den Verstand bringen. Sie müssen in Brüssel einen viel größeren Aufwand treiben als in den nationalen Hauptstädten, in denen die Kräfteverhältnisse viel überschaubarer sind. Als die chemische Industrie sich daran machte, die geplante Chemikalienreform "Reach" zu demontieren, plante sie den Angriff geradezu generalstabsmäßig. Gegenüber dem Ministerrat war eine besonders langfristige Strategie notwendig. Der zuständige Chemie-Referent in Brüssel hatte dafür auf seinem Schreibtisch mehrere Klarsichthüllen gestapelt und mit roter, grüner und blauer Farbe jene drei Regierungen markiert, die als EU-Ratspräsidenten in den kommenden eineinhalb Jahren das komplizierte Dossier übernehmen und die Diskussionen im Rat maßgeblich steuern sollten. Die Chemieindustrie war zutiefst erleichtert, dass keine Regierung aus Skandinavien darunter war - gelten die EU-Nordlichter doch als besonders industriekritisch, was den Plänen eher hinderlich gewesen wäre.

Die angebliche Unübersichtlichkeit in Brüssel ist in Wahrheit also die politische Lebendigkeit dieses Sys- tems. Die originellste Einrichtung ist die Kommission. So etwas wie sie gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Halb Regierung, halb Verwaltung, sowohl strenger Regulator im Wettbewerb als auch bescheidener Dienstleister für die nationalen Regierungen. Wer als Mitgliedstaat frühzeitig sein Feld auf der europäischen Ebene bestellen will, der muss sich um gute Kontakte zu dieser Zwitterinstitution bemühen. Sie hat das Ini- tiativrecht. Ihre Gesetzesentwürfe setzen erst einmal - siehe Dienstleistungsrichtlinie - die Fakten für die Diskussion.

Berlin hat das lange nicht begriffen und das politische Innenleben der Kommission ignoriert. "Die deutsche Regierung wartet so lange, bis der Teig in Brüssel ganz hart geworden ist. Dann erst geht sie ran, braucht dann aber gleich den Presslufthammer", so lautete lange Jahre das sarkastische Urteil von Diplomaten. Die neue Kanzlerin macht es offenbar anders: Sie versucht möglichst früh, die Ereignisse auf EU-Ebene zu beeinflussen. Angela Merkel bearbeitet den Teig, solange er noch weich ist. Unter der Kanzlerin, so hört man, erfährt der deutsche Kommissar Günter Verheugen jetzt sogar frühzeitig, wenn irgendein deutscher Minister Probleme mit "seinem" Fachkommissar in Brüssel hat. So können Missverständnisse aufgelöst werden, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblicken.

Der politische Wille: Je länger man in Brüssel arbeitet, umso mehr wird dieser Begriff zum Schlüssel für Europas Zukunft. Sicher, die EU benötigt auch dringend eine Reform ihrer Institutionen. Je größer die Gemeinschaft wird, umso mühseliger sind die Abläufe in Kommission, Rat und Parlament - einfach schon deshalb, weil alles immer länger dauert. Doch offenbar gibt es in diesem Apparat immer noch verblüffend viel Luft für Reformen. Innenminister Wolfgang Schäuble jedenfalls staunte, als er nach 15 Jahren wieder an einer Sitzung der EU-Innenminister teilnahm. "Wenn ich daran denke, welche Fensterreden früher zu fünfzehnt gehalten wurden, läuft das jetzt zu 25 schon sehr diszipliniert ab", meinte der CDU-Politiker. Inzwischen darf kein Minister länger als zweieinhalb Minuten sprechen. Im Notfall schrillt eine Alarmglocke. Alle Minister werden ermahnt, sich möglichst vor der Sitzung mit Gleichgesinnten zusammenzutun und auf dreifache oder fünffache Wortmeldungen gleichen Inhalts während der Sitzung zu verzichten.

Entscheidend aber ist, dass die Politiker das Heft in der Hand behalten und nicht noch weiter der Versuchung nachgeben, es ihren Beamten zu überlassen, Europa zu steuern. Diese Gefahr ist im EU-Apparat noch ein Stück größer als in den nationalen Verwaltungen. In Brüssel sitzen Hunderte von Beamten in diversen Ausschüssen und betreiben Krisenmanagement wie im Fall der Vogelgrippe. Hier bereiten die EU-Botschafter alle wichtigen Ministersitzungen vor. "Wir müssen uns hier nur verschwören, und ein bestimmtes Problem wird von den Ministern gar nicht mehr diskutiert", bekannte einmal einer aus dieser einflussreichen Runde. Pierre de Boissieu, der höchste Beamte im Rat, regt sich schon lange über die Politiker in Brüssel auf: Sie würden wichtige Sitzungen frühzeitig verlassen und ihre Beamten ohne Instruktionen zurücklassen: "Sie weigern sich, politische Verantwortung zu übernehmen."

Umso lautstarker melden sich die Politiker dann in ihren Hauptstädten zu Wort und verteidigen - wie im Fall des jüngsten Übernahmepokers auf dem Energiemarkt - die eigenen "nationalen Interessen". Dieser fehlende Mut der Regierungschefs, sich zu Europa zu bekennen, ist das eigentliche Sandkorn im Getriebe der EU-Politik. Wächst das Sandkorn weiter, kann es irgendwann den ganzen Apparat blockieren.

 

Cornelia Bolesch ist Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung" in Brüssel.


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