Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Ulrich Beck

Ausweg aus dem EU-Labyrinth

Befreiungsschlag in der Krise: ein gemeinsames Verfassungsvotum
Dienstleistungsrichtlinie, Energiepolitik und Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union hatten auf dem diesjährigen Frühjahrsgipfel eine lange Liste abzuarbeiten. Je näher die Gemeinschaft zusammenrückt und umso größer sie wird, desto mehr wird Europa von pragmatischen Kompromissen geprägt - hangelt sich von einem drängenden Problem zum nächsten. Die Frage nach dem Sinn und nach der Seele der Europäischen Gemeinschaft kommt dabei häufig zu kurz. Kann oder sollte die Kultur hier neue Impulse geben? Mischen sich die europäischen Intellektuellen zu wenig in Europa ein?

Das Verhältnis vieler Bürger zur EU wird man ohne zu zögern als kafkaesk bezeichnen können. Die Menschen sehen sich mit einer wachsenden Macht konfrontiert, die ihrem Charakter nach ein unabsehbares Labyrinth ist: Sie werden nie an das Ende der unendlichen Gänge gelangen, und sie werden nie herausfinden, wer das verhängnisvolle Urteil formuliert hat. Zahlreiche Bürger sind in der gleichen Situation wie Josef K. gegenüber dem Gericht oder wie Landvermesser K. gegenüber dem Schloss: Allesamt sind sie mit einer Welt konfrontiert, die weiter nichts ist als eine einzige labyrinthische Institution, der sie sich nicht entziehen und die sie nicht begreifen können. Aus Kafkas Sicht ist die Situation noch radikaler: Die europäischen Bürger sind lediglich Schatten ihrer EU-Karteikarten. Ja, noch viel weniger als das: Sie sind Schatten eines Irrtums in einer Akte, Schatten, die nicht einmal das Recht auf ihre schattenhafte Existenz haben. Und die paradoxe Wirklichkeit des politischen Lebens will es, dass viele Europäer im heutigen historischen Moment mit dem Hilferuf eines Nein antworten: gerade jetzt, wo sie als aktive Bürger aufgerufen sind, einer europäischen Verfassung zuzustimmen, die ihre Schattenexistenz in Freiheitsrechte zu verwandeln sucht. Dieser Ablehnung steht das millionenfache Ja der Menschen in den Ländern an den Rändern der EU gegenüber: Sie würden jubeln, gelänge es ihnen, das Leben eines Schattens eines Irrtums in einer europäischen Akte führen zu können. Gibt es einen Ausweg aus dem EU-Labyrinth? Kafka müsste - wie die Wähler Frankreichs und Hollands - mit Nein antworten. Für ihn wäre die Europäische Union das Urbild einer Institution, die ihren eigenen, von irgendwem irgendwann programmierten Gesetzen gehorcht, die mit menschlichen Interessen nichts zu tun haben und daher unverständlich sind. Diese Situation hat auch mit dem Versagen der Intellektuellen zu tun, die zu einer Großen Erzählung der Europäisierung bislang nicht fähig waren. Doch die Lage ist keineswegs ausweglos. Die Schlüsselfrage ist die nach der Alternative: Wie lässt sich der Streit um die EU-Verfassung als Chance begreifen und nutzen, ein anderes, ein konflikt- und politikfähiges, ein kosmopolitisches Europa zu schaffen?

"The time is out of joint: O cursed spite that ever I was born to set it right" (Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram, dass ich zur Welt kam, sie einzurichten!): Das könnte das Motto der Generation Hamlet sein, die sich verpflichtet sieht, die Zukunft Europas neu zu definieren und zu gestalten. Erinnern wir uns: Der Geist des Vaters verpflichtet Hamlet, die gerechte Ordnung in dem verrotteten Dänemark wiederherzustellen - lange vor dem Karikaturenstreit. Weltweite religiöse Militanz als Reaktion auf die Veröffentlichung von Karikaturen in Dänemark: So etwas sprengte bisher die Vorstellungskraft.

Die Welt ist auf eine neue, unwiderrufliche, konfliktträchtige Weise kosmopolitisch geworden. Es gibt - trotz perfektionierter Überwachung der Grenzen - kein abschließbares Dänemark, kein abschließbares Deutschland, kein abschließbares Europa mehr. Der nationale und religiöse Andere oder Fremde ist unausgrenzbar geworden. Wer dennoch glaubt, sich im eigenen Schneckenhaus verbarrikadieren zu können, sitzt nationalen Blicken und Reflexen auf. Eine solche Sichtweise gaukelt etwas vor, was nicht mehr existiert, aber in der globalisierten Welt zu einer verbreiteten Illusion geworden ist: die rückwärtsgewandte Fiktion des Nationalen.

Plötzlich sehen sich die Nationaleuropäer in die Konfliktdynamik einer "postsäkularen Konstellation" (Jürgen Habermas) versetzt, in welcher der kontinentale Säkularismus im gleichzeitig-ungleichzeitigen Gegen-, Neben- und Miteinander der Weltreligionen seine Stimme und Rolle als die eines Glaubenssystems unter anderen erst noch finden muss. Es zerbricht die Einheit von Modernität (im Sinne eines Werts) und Modernisierung (die sich in der Wirtschaft vollzieht) - beispielsweise von unverzichtbarer Pressefreiheit und technisch-ökonomischer Welt(markt)macht. Und die Frage, was Modernität sein soll, wird selbst zum Thema globaler Konflikte.

Das säkulare Modernitätsbewusstsein Europas wird im Weltmaßstab nur von einer Minderheit geteilt. Diese Überzeugung muss sich schärfen und behaupten im Widerstreit etwa mit dem religiös-politischem Denken der USA oder mit Entwürfen muslimischer Modernität - ja, auch in Abgrenzung gegen Formen des religiösen Fundamentalismus als Ausdruck moderner Bewegungen gegen die Moderne. Indes sind viele Europäer in einem Kulturessentialismus befangen, der Nation, Religion und Identität in ihrer europäischen Definition als etwas Unerschütterliches und Unveränderliches begreift. In dieser Situation signalisiert die Frage, wohin Europas Reise gehen soll, keineswegs eine Krise. Im Gegenteil: Der Kontinent ist angekommen in der Realität inner- und zwischengesellschaftlicher Kulturkonflikte (nicht zu verwechseln mit Huntingtons Kulturkampf-Essentialismus!).

Es gibt wohl kaum etwas Lächerlicheres, Absurderes und Gefährlicheres als in dieser verhexten und brenzligen Lage das "Ende des Dialogs" und das "Ende des Multikulturalismus" zu verkünden. Ebenso gut könnte man sagen: Wir schieben die Wirklichkeit über die Grenze ab. Natürlich kann man aufhören, das zu tun, was man sowieso nie richtig getan hat: mit den inneren Anderen Europas - nicht zuletzt mit den zwölf Millionen europäischen Muslimen - zu sprechen. Aber das ändert nichts daran, dass wir alle dazu verdammt sind, in der Enge der globalisierten Welt miteinander zu leben und zu überleben - oder eben nicht.

Wer Europa national denkt - das ist die Paradoxie, die es zu begreifen gilt - weckt die nationalen Ur-

ängste der Europäer durch eine falsche Alternative: entweder Europa oder die europäischen Nationen - ein Drittes ist ausgeschlossen. In dieser Sichtweise werden die EU und ihre Mitgliedsländer zu Erzrivalen, die sich wechselseitig in ihrer Existenz bedrohen.

Die andere Seite dieser Paradoxie: Man muss Europa neu und zwar kosmopolitisch denken, um den Bürgern die Angst zu nehmen, sie begingen mit ihrer Zustimmung zur EU-Verfassung kulturellen Selbstmord. Europa ist Vielfalt. Auf dieser Basis könnte ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit entstehen, das die Verschiedenheit der Sprachen, Kulturen und religiösen Traditionen als Reichtum begreift - und nicht als Integrationshindernis.

Kann ein solch kosmopolitisches Europa die Bürger bewegen, gar begeistern? Momentan scheint Skepsis angebracht. Dazu müsste in der großen Erzählung

der Europäisierung klarer gemacht werden, was die EU ihren Bürgern bietet und bedeutet. Wohin man jedoch schaut: Allerorten werden Reformen einzelstaatlich konzipiert und laufen sich dann innerhalb eines schrumpfenden nationalstaatlichen Handlungsrahmens fest. Es würde einen wichtigen Schritt aus dem kafkaesken EU-Labyrinth darstellen, definierte man die vielen heutigen Probleme als eine europäische Herausforderung - den Bevölkerungsrückgang, die überalterte Gesellschaft, die Reformen sozialer Sicherungssysteme, die Zuwanderung, den Export von Arbeitsplätzen, die Durchsetzung von Mindestlöhnen, die Besteuerung von Unternehmensgewinnen, Zinsen und Konsum, die Finanzspekulationen, die Liste ließe sich fortsetzen. Das heißt: Der Ausbau zwischenstaatlicher Kooperation, die in ihrer gebündelten Souveränität ja auch die Nationen mächtiger macht, könnte die Bürger für Europa begeistern. So würde die EU zum Modell des Regierens im Zeitalter der Globalisierung. Motto: Europäische Lösungen bringen den Bürgern mehr als nationale Alleingänge.

Wie kann man die unerträgliche Leichtigkeit des Neins vieler Europäer in die Chance zu einem Neubeginn verwandeln, der es der EU erlaubt, zugleich kosmopolitisch und konfliktfähig zu werden? Mein Vorschlag ist ebenso einfach wie radikal: Man sollte den drastisch zusammengestrichenen Verfassungstext noch einmal und nun nicht in nationalen Alleingängen, sondern in allen Mitgliedsstaaten am gleichen Tag zur Abstimmung stellen. Die Vorgabe für dieses Votum: Stimmt ein Land gegen die Verfassung, entscheidet es sich für eine herabgestufte EU-Mitgliedschaft. Das Nein eines Staates verhinderte dann nicht das Inkrafttreten der Verfassung. Vielmehr schlösse sich dieses Land selbst (wenigstens teilweise) von den Rechten und Gewinnen aus, die mit der Verfassung für die europäischen Staaten und Bürger einhergehen. Es wäre nicht länger möglich, unverbindlich und folgenlos Nein zu sagen und so die EU zu blockieren. Keine Zustimmung, keine Zuschüsse: Diese Richtschnur würde schlagartig die unerträgliche Leichtigkeit des Nein beenden. Zugleich könnte ein gesamteuropäischer Wahlkampf den Bürgern vor Augen führen, was sie konkret gewinnen, wenn sie sich in die europäische Souveränität einbinden. Die Verfassung würde europäisch-demokratisch legitimiert. Jene Länder und Bürger, die mit ihrem Ja die Verfassung in Kraft setzen, könnten das europäische Modernitätsprojekt in einem rechtsstaatlichen Rahmen für die Konflikte der postsäkularen Gesellschaft weiterentwickeln sowie die erweiterte Union politisch entscheidungs- und konfliktfähig machen.

Ulrich Beck ist Professor für Soziologie in München und Mitautor des Buches "Das kosmopolitische Europa".


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