Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 13 / 27.03.2006
Annette Sach

Editorial

Tafelspitz und Kaiserschmarren gaben den europäischen Staats- und Regierungschef beim traditionellen Abendessen auf dem Brüssler Frühjahrsgipfel 2006 verbrauchte Energie zurück. Um Energie ganz anderer Art ging es beim Vortrag von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Netzsicherheit, Erschließung von Versorgungsquellen und erneuerbare Energien standen dabei zur Diskussion. Die Europäische Union braucht aber nicht nur Gas, Öl und Biomasse, damit zwischen Finnland und Griechenland die europäischen Sterne wieder in neuem Glanz erstrahlen. Sie braucht neue Energie und vor allem neue Ideen, um nach der großen Erweiterungsrunde und dem Nein Frankreichs und der Niederlande zum Verfassungsvertrag neue Kraft zu tanken. Denn viele ungelöste Fragen, vor allem auch nach dem eigenen Selbstverständnis, schiebt die Europäische Union wie einen großen Berg vor sich her - einige nennen dies "Denkpause", andere bezeichnen es als "Pause vom Denken".

Offiziell soll die Zeit des Nachdenkens noch eine Weile dauern. Dennoch wollen die Staats- und Regierungschefs noch auf einem Sondergipfel im April über die Zukunft der Union beraten. Vorab möchte "Das Parlament" mit dieser Ausgabe zur "Zukunft der Europäischen Union" schon einige "Denkanstöße" geben. Viele Themen wurden bereits diskutiert - zum Beispiel Anfang des Jahres im Europäischen Parlament bei einer Debatte über die "Zukunft eines Vertrages über eine Verfassung".

Mit Berichten, Reportagen und Interviews möchte "Das Parlament" Aspekte der Debatte um die Zukunft Europas aufgreifen und vertiefen. Die Bundestagsabgeordnete Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) und der Europaparlamentarier Elmar Brok (EVP) beschreiben aus ihren Erfahrungen, welche konkreten Fragen den rund 454 Millionen Bürgern in dieser bald auf 27 Mitgliedstaaten angewachsenen Gemeinschaft auf den Nägeln brennen. Dazu zählen drängende Probleme wie die Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik ebenso wie die Rolle der Europäischen Union auf der weltpolitischen Bühne oder die zukünftige Zusammenarbeit mit den Entwick-lungsländern, aber auch ob Erweiterung und Vertiefung wirkliche Gegensätze sind.

Gerade die Kontroverse um die Erweiterung der Europäischen Union wirft in der Gemeinschaft die Frage nach dem eigenen Selbstverständnis, nach ihren eigenen Werten und Zielen auf. Sie wiederum sind eng verknüpft mit der weiteren Entwicklung eines europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells. Kann und soll es in Europa einheitliche Regeln geben und wie sind diese mit den unterschiedlichen sozialen Traditionen miteinander zu vereinbaren?

Auch hier fordern die Bürger Europas neue Antworten, denn die Angst zu den vermeintlich sozialen Verlierern der Gemeinschaft zu gehören, ist weit stärker ausgeprägt als das Bewusstsein, welchen Gewinn und welche Vorteile ein vereinigtes Europa im täglichen Leben bedeutet. Ursache dieses "diffusen Gefühls" gegenüber Europa sind zunehmend zu beobachtende nationale Egoismen: Nur allzu oft wird Brüssel als Sündenbock mißbraucht und für vieles verantwortlich gemacht, was dort gar nicht entschieden wurde.

Der Europäische Verfassungsvertrag ist ein Beispiel dafür, dass in Sachen Europa Befindlichkeiten oftmals mit Fakten verwechselt werden. Um genau urteilen zu können, müssen jedoch alle Meinungen auf den Tisch. So werden in dieser Ausgabe die Argumente einer Befürworterin der Verfassung ebenso wie die eines Gegners des Vertragswerkes dargestellt, um dem Leser eines zu ermöglichen: ein eigenes Urteil. Um sich dieses aber auch bilden zu können, bedarf es - trotz vieler Bemühungen - fundierter Information. Der schwere Weg der Kommissarin Margot Wallström, Europa den Menschen nahe zu bringen, ist sicherlich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Er bleibt jedoch Makulatur, wenn diejenigen, die den Menschen Europa vermitteln sollen, dies nicht wirklich mit Seele und Herzblut tun.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.