Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006

"Der Rausch löst das Ego auf"

Interview mit dem ungarischen Schriftsteller Péter Esterházy über Fußball, Liebe und Tod
Was das Wesenhafte des Fußballs ist, wird in Fußball-Tabellen nicht erklärt. Die nackten Zahlen sprechen eine einfache Sprache, über die man sich freut oder ärgert. Je nachdem. Doch die Seele des Fußballs, die Péter Esterházy das Dionysische nennt, ist viel magischer und deshalb auch für einen Schriftsteller reizvoll. In vielen Werken hat sich der 55-Jährige mit Fußball beschäftigt, hat selbst gekickt, jubelte und bangte, wenn in den 80er-Jahren sein kleiner Bruder, der ungarische Nationalspieler Márton Esterházy, im Stadion antrat.

Das Parlament        Herr Esterházy, warum schauen alle Männer auf der Welt Fußball? Basketball und Baseball sind doch auch ganz spannend.

Péter Esterházy         Weil Fußball so einfach ist. Man kann es bei jeder Gelegenheit spielen. Außer dem Ball braucht man kein Gerät. Aber ist Fußball überhaupt so weltumspannend? In Nordamerika lebt eine andere Spezies. Dort spielen die Kinder Basketball. Aber Basketball ist durchschaubar, ja planbar. Letztlich ist es kein Zufall, dass man beim Basketball sagen kann, jetzt spielen wir Spielzug Nummer fünf.

Das Parlament        Wieso erreicht Fußball die amerikanische Kultur nicht?

Péter Esterházy         Tja, das ist eine gute Frage. Ich habe darauf keine Antwort.

Das Parlament        Freut es Sie, dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland stattfindet?

Péter Esterházy        Sie wird professionell organisiert werden, und das ist gut für das Spiel.

Das Parlament        Können Sie als Ungar verstehen, wenn linksintellektuelle Deutsche nicht für Deutschland sind, sondern für andere Länder fiebern?

Péter Esterházy         Ich finde es ganz seltsam, dass die meisten deutschen Reporter immer von "den Deutschen" sprechen und nicht "wir" sagen. Diese Distanz finde ich komisch. Für mich wäre so etwas unvorstellbar. Ich leiste mir, ein Fan aus dem Bauch heraus zu sein und darüber nicht so viel zu sinnieren. Natürlich hat diese deutsche Distanz gute Gründe, nämlich diese komplizierte und einigermaßen verstörte Beziehung zum Land, zur Nation. Allerdings täte es manchmal auch den Ungarn gut, eine gewisse Distanz zu ihrer Nation zu haben.

Das Parlament        Schriftsteller schreiben über den Krieg, den Verrat, die Liebe, also das Leben. In Ihrem literarischen Werk ist Fußball ganz zentral. Was inspiriert Sie so an dem Thema?

Péter Esterházy         Fußball gehört zu meinem Leben. Es ist eine meiner wichtigsten Erfahrungen. Ich habe selbst lange gespielt. Mein Bruder war ungarischer Nationalspieler. Ich kenne das Milieu, ich kenne das Spiel. Ich habe daraus viel gelernt.

Das Parlament        Was haben Sie beim Fußballspielen gelernt?

Péter Esterházy         Ich habe viel über Menschen gelernt, wie sie reagieren, über ihr Alleinsein in der Gruppe. Fußball bringt die komplizierte Beziehung eines Einzelnen zu einer Gruppe und zwei Gruppen zueinander exemplarisch auf die Spielfeldbühne. Das Wichtigste ist aber das Wesen des Spiels. Was bedeutet Spiel?

Das Parlament        Verraten Sie es? Was ist das Wesen des Spiels?

Péter Esterházy Die Erkenntnis, dass Spiel nicht mit Ernst und Unernst zu tun hat. Nicht mit Kindsein oder Erwachsensein. Wir lassen das Spiel im Laufe des Lebens nicht hinter uns. Das Gute am Fußballspiel ist die abgetrennte Sphäre von Raum und Zeit, im dem spezielle Regeln gelten. Diese Regeln definieren die Welt. Und nur das zählt und wir sind dann so wunderbar vermessen und naiv zu glauben: Das ist die Welt. Außerhalb des Felds gibt es nichts. Es zählt nicht, ob du verliebt bist, nicht ob du einsam bist, nicht ob du reich bist. Nicht einmal ob du ein Verbrecher bist.

Das Parlament        Ist Fußball deshalb so entlastend, weil man sich von einem Moment auf den anderen in eine andere Welt hineinbegeben kann?

Péter Esterházy         Ja, man kann untertauchen, abtauchen. Das macht man ja auch wenn man Literatur liest oder einen guten Film sieht. Wenn das Spiel richtig läuft, ist man in einem Rausch. Es ist eine andere Art von Sein. Deshalb spielen auch Kinder so gerne. Ihnen eröffnet sich eine Welt, die sie ohne das Spiel gar nicht wahr nehmen könnten.

Das Parlament        Haben Sie es als Ungar den Deutschen jemals verziehen, dass die Deutschen 1954 die Weltmeisterschaft gewonnen haben?

Péter Esterházy         Natürlich. Aber für einige Ungarn ist das bis heute eine offene Wunde. Wir waren die Besseren und haben verloren. Die himmlische Dramaturgie war gut: Wir lagen vorne. Ohne viel Arbeit. So wie es sich gehört. Und dann drehte sich alles. Gesellschaftlich war die Niederlage damals eine komplizierte Situation. Diese so genannte "goldene Mannschaft" spielte während der tiefen, schwarzen, tödlichen Diktatur unseres Landes. Und natürlich versuchte die Regierung den Fußball für sich auszunutzen. Doch gleichzeitig waren die Spieler Vertreter des Volkes und hatten den Glauben: Komme wer will; wir werden alle schlagen. Denn seit 1951 hatte die Mannschaft kein Spiel verloren und nachher auch nicht mehr, bis 1956. Das Spiel von 1954 war nicht ein einfaches Fußballspiel. Die ungarische Mannschaft vertrat auch etwas Metaphorisches und ungewollt Politisches, genauso wie die deutsche Mannschaft. Und durch den Sieg der deutschen Mannschaft hat sich ja auch im deutschen Selbstbewusstsein viel verändert: Wir sind wieder wer. Hätte Ungarn gewonnen, wäre dieser Satz durch die ungarische Staatsmacht dem Volk gestohlen worden.

Das Parlament        Ihr sechs Jahre jüngerer Bruder Márton war in den 80er-Jahren ungarischer Nationalspieler. Wie haben Sie das erlebt? Schließlich war er der bessere Fußballspieler.

Péter Esterházy         Fußball ist eine sehr hierarchisierte Gesellschaft. Man kennt seinen Wert. Als Zehnjähriger spielte ich besser als er als Zehnjähriger. Erst mit 16 änderte sich das. Er veränderte sich. Er wurde besser und dann sehr gut. Es war toll zu sehen, dass mein kleiner Bruder auf einmal in einem riesigen Stadion zum Beispiel gegen Real Madrid spielt und sein Nachname, der auch meiner ist, auf der Stadiontafel steht: Das war das Wunder selbst.

Das Parlament        Sie kommen aus der aristokratischen ungarischen Familie schlechthin. Wie kommt es, dass Ihre Familie so fußballbegeistert ist? Schließlich ist Fußball eher ein proletarischer, eher ein "gewöhnlicher" Sport.

Péter Esterházy Da war die kommunistische Diktatur sehr behilflich. Nach 1945 gab es keine Aristokratie mehr.

Das Parlament        Aber es gibt doch eine Tradition innerhalb Ihrer Familie.

Péter Esterházy Ja, aber wenn man in Armut und Elend lebt, bleibt davon nicht mehr viel übrig. Aristokratie ist vor allem eine Lebensart. Allerdings, ich muss zugeben, meine Mutter hat dann tatsächlich gesagt, wir sollten lieber Tennis spielen. Das Weiß sehe so schön aus. Aber ich habe immer nur Fußball gespielt. Also wir waren prollig (er schmunzelt). Die bürgerlich-aristokratischen Traditionen waren schnell weg.

Das Parlament        Wie hat sich mittlerweile das Verhältnis der Politik zum Fußball entwickelt und verändert? Oft wird in der Politik die Sprache der Fußballwelt benutzt.

Péter Esterházy         Das Verhältnis lässt sich ganz banal beschreiben. Die Politik nutzt den Fußball aus. Wenn ein beliebter Fußballer auf dem Feld spielt, ist es für einen als Politiker gut, sich mit ihm sehen zu lassen. Das ist eine ganz banale PR-Aktion. Zudem hat Fußball etwas Anziehendes. Wenn man über Fußball redet, weiß jeder sofort, wovon man spricht. Deswegen hat auch der Familienroman so eine Renaissance. In einem Familienroman kennt sich jeder aus. Fußball ist eine lingua franca.

Das Parlament        Gerade ist Ihr Buch "Deutschlandreise im Strafraum" veröffentlicht worden, in dem Sie auf Forschungsreise durch Deutschland gehen, um die deutsche Fußballseele zu erkunden. Wie sieht die deutsche Fußballseele aus?

Péter Esterházy         Ich bin kein großer Seelenforscher. Außerdem ist die Fußballseele eine globalisierte. Auch in ganz kleinen Orten, die ich besuchte - und solche kenne ich auch aus Ungarn - sieht oder fühlt man die selben Dinge. Dann wiederum gibt es nationale Traditionen mit anderen Helden, Schlachten und Gefühlen. Und andere Aktualitäten: Der ungarische Fußball existiert zur Zeit nicht. Deutschland hingegen ist eine Fußballgroßmacht mit Minderwertigkeitsgefühlen.

Das Parlament        Fußball ist ein Männerdomäne. Wollen Sie, dass die Frauen mehr daran teil haben?

Péter Esterházy         Komischerweise habe ich Fußball nie als eine Männersache verstanden, obwohl es definitiv eine ist. Klar, dieses Zusammensitzen und Bier trinken, das sind alles Männerrunden. Aber auch der Frauenfußball selbst ist bei weitem nicht so gut wie Männerfußball. Da habe ich keine Lust, mitzufiebern. Kraft gehört sehr zum Fußball und Frauen sind physisch nun mal nicht so stark. Aber ich kenne auch Frauen, die wirklich gut spielen.

Das Parlament        Hat Fußball für sie etwas Erotisches?

Péter Esterházy Schon. Dieser Rausch. Es hat etwas Dionysisches. Der Rausch löst das Ego auf.

Das Parlament        Männer umarmen sich, sie heben sich hoch, sie küssen sich und sie weinen sogar miteinander.

Péter Esterházy         Ja genau. Und das tun sogar Männer, die sonst eher reserviert sind. Auch ich erinnere mich an definitive Glücksmomente, wo ich wusste, genau so ist alles in Ordnung. Solche Momente sind sehr selten. Die gibt es nur am Schreibtisch, auf dem Fußballfeld und im Bett. (Er hält inne, lächelt.) Na ja, das war ein ein wenig zu schneller Satz. Das

Interview führte Annette Rollmann.


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