Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006
Arnd Brummer

Zum Glauben gehört Leiden

Die religiöse Dimension des Fußballs: Das erlösende Tor

An manchen Samstagnachmittagen, kurz vor halb sechs, weiß der Manager Lutz H., dass die nächste Woche bereits gelaufen ist, bevor sie angefangen hat. Alles wird schief gehen. Deshalb: Keine Verträge abschließen! Lutz H. wird mit gebändigtem Ehrgeiz seine Aufgaben erfüllen. Und er nimmt sich vor, seine Familie an diesem Wochenende möglichst wenig mit schlechter Laune zu terrorisieren. Er geht Schwimmen - allein. Oder Golf spielen - allein. Oder er zieht sich in sein Zimmer zurück und liest, vorzugsweise Sachen, die ihn nicht an Fußball erinnern.

An Samstagen wie diesen hat Lutz H.'s Lieblingsverein, der Hamburger SV, in der Fußballbundesliga ein Spiel verloren. Eine Niederlage - vor allem eine völlig unerwartete - ist für Menschen wie Lutz H., die zur Gemeinde der echten Fans gehören, eine Art Schick-salsschlag, eine Bestrafung durch den Fußballgott. Wieder blieb die Erlösung aus. Ihre Stoßgebete gegen Spielende wurden nicht erhört: Aber schieß nur ein Tor, so wird meine Seele gesund! Für Fußballfreunde wie den smarten Enddreißiger H. ist der Fußball Religion und sein Lieblingsverein fungiert als Kirche.

In eine Glaubensgemeinschaft, so war es zumindest früher, wird man hineingeboren. Oder man hat ein Bekehrungserlebnis. Fußball-Gläubigen geht es genau so. Die Offenbarung findet oft bei einem zunächst zufälligen Besuch eines Spiels des künftigen Lieblingsclubs statt. Mal ist es ein Tor, mal sind es die Schlachtgesänge aus der Fankurve, die den entscheidenden Kick erzeugen. Es sind aber auch schon Bekehrungen vor dem Radio oder dem Fernseher vorgekommen. Ein magischer Akt, an den sich die Betroffenen oft noch Jahrzehnte später in allen Einzelheiten erinnern. Erinnern, wohl gemerkt - erklären, was geschah, können nur die wenigsten.

Das Wunder, nicht nur das von Bern, ist für Fußball-Anhänger eine ganz selbstverständliche Kategorie. Wenn die Gläubigen von Spielen wie von Erweckungserlebnissen berichten, benutzen sie Sprache und Begriffe, die in der christlichen Mystik entwickelt wurden. Es läuft ihnen ein Schauer über den Rücken, wenn die Vereinshymne erklingt. "FC Bayern, Stern des Südens, ja so heißt er, mein Verein ... Meerstern ich dich grüße, oh Maria hilf!" Die Texte des Club- und des Marienliedes ließen sich leicht austauschen.

Zum Glauben gehört Leiden. Wer echter Fan ist, wurde erwählt - nicht er hat sich den Verein ausgesucht. Deshalb kann man sich nicht einfach nach einer schwarzen Serie davonmachen und zu einer neuen Kirche konvertieren. Man muss da durch, notfalls inklusive Abstieg.

Wie würde man auch vor Freunden und Familie dastehen? Die Prozessionen und Wallfahrten, besonders bei Auswärtsbegegnungen mit traditionellen Feindklubs, würden wegfallen. Man wäre ein Ausgestoßener, quasi exkommuniziert.

Religion bedarf der Bestätigung im Ritual. Ein Fußballspiel in der Bundesliga, so hat der Theologe Joachim von Soosten erkannt, entspricht in seiner Liturgie ziemlich genau einem Gottesdienst. Evokation: "Mit der Nummer 13 Michael ...", ruft der Stadionsprecher, "... Ballack!" antwortet die Gemeinde. Die Tore der eigenen Mannschaft laben wie das Abendmahl, die gegnerischen sind Bußübungen. Bei Rück-stand werden die Fürbitten immer verzweifelter: "Erlöse uns von einer Niederlage gerade gegen Schalke!" Die Gemeinde hat sich festlich gekleidet. Als Kirchenfahnen fungieren Banner und Transparente - "BVB - die Eisernen aus Lüdenscheid" - und als Choräle singt man "Steh auf, wenn du ein du ein Kölner bist" oder "Wir holen den DFB-Pokal und wir werden Deutscher Meister".

Wenn Lutz H. am Montag morgen ins Büro geht, hat sich seine miese Laune meist schon ein wenig verbessert. Beim ersten Meeting trifft er auf Jens B. ( seit Kindesbeinen ein Borusse und zwar ein Gladbacher!) , dessen Truppe hat auch verloren. Das sorgt für Ökumene in der Depression. Das Gespräch unter Geplagten hilft, vor allem wenn es mit ehrlicher Anerkennung der eigenen Götter verbunden ist: "Gegen den VfB hättet ihr nie und nimmer verlieren dürfen, ihr wart doch über 90 Minuten die klar bessere Mannschaft! Aber uns hat dieser Schiedsrichter auch schon verpfiffen!"

Selbst Kollege Andreas K. aus Süddeutschland kann Lutz H., an diesem Montag aushalten, obwohl der Bayern-Fan ist und die Münchner - natürlich - am Wochenende wieder auswärts gewonnen haben. Aber K. ist kein aggressiver Bayern-Freund. Der Kollege hat schon mehrfach eingeräumt, dass bei Bayern auch nicht alles Gold sei, was in der Schatzkammer glänzt. Nur wenn die Bayern als Glücksritter dargestellt werden - als Dusel-Bayern - deren Erfolge unverdient seien, kann er in Zorn geraten. Geradezu jesuitisch verteidigt er seinen Club dann als Vereinigung der Gerechten, die schon hart gearbeitet und klug voraus geplant hätten, als andere ihr Erbe in Saus und Braus verjubelten. Nein, die Kollegen, sind keine Plage für den HSV-Fan Lutz H. Sie sind Eingeweihte, ja Verbündete, die wissen, wie man leidet, wenn man die Mannschaft, der man verbunden ist, durchs Tal der Tränen geleiten muss.

Zudem wissen sie alle, dass in wenigen Wochen die WM im eigenen Land ansteht. Da wird jedes interkonfessionelle Gezänk verstummen. Während des großen, weltumfassenden Fußball-Konzils werden sich die Angehörigen der unterschiedlichen Vereinssekten und Kleinkirchen zu großen Bewegungen vereinen. Bayern- und Borussen-Fans werden gemeinsam den Deutschen die Daumen drücken bis zum Hämatom im Nagelbett. In Spanien solidarisieren sich die Anhänger von Barca und Real. In Italien verbünden sich "Rossoneri" (AC Mailand) "Nerazzuri" (Inter Mailand) und "Bianconeri" (Juventus Turin), in England die Fans der "Gunners" (Arsenal London) mit denen von ManU (Manchester United) und Chelsea. Der Löwe wird beim Lamm liegen. Und alle werden sich daran wärmen, dass der Fußball den Globus umspannt, sie werden - bis auf wenige Ausnahmen - freundlich die Wallfahrer aus fernen Ländern in ihren seltsamen Kutten und Ornaten begrüßen. Es gibt nur einen Fußball und einen Gott.

Wie in der Religion sind reife und erfahrene Anhänger nicht mehr so leicht zu verzücken wie die jugendlichen Gläubigen. Sie haben schon zu viel erlebt, um nicht zu wissen, dass dem wunderbaren Erlebnis immer das unfassbare Grauen auf dem Fuße folgt. Doch alle vier Jahre - zur Weltmeisterschaft - ergreift auch die abgeklärten, in die Jahre gekommenen Fußballfans die Faszination des Spiels, erfüllt sie mit heiligem Ernst.

Aber gerade in diesen WM-Zeiten begegnen die tief gläubigen Fußballverehrer jenen anderen Spielarten der Sportbegeisterten, die in ihnen die Arroganz der Treuen weckt, wie sie schon im Lukas-Evangelium beim Gleichnis vom verlorenen Sohn beschrieben ist. Da gibt es die WM-Enthusiasten, die sich nur alle vier Jahre und womöglich erst zu Halbfinal- und Finalspielen mit dem Kampf ums runde Leder beschäftigen. Die wollen nur Party machen, nicht das Geheimnis ergründen. Mit dem Fußball verbindet sie jedenfalls kein Gefühl, das in eine religiöse Dimension reicht.

Und dann sind da noch die so genannten Fußball-Liebhaber, denen nicht so wichtig ist, wer gewinnt, "die einfach ein schönes und spannenden Spiel sehen wollen". Wenn solche Kick-Ästheten von Ronaldinos Technik schwärmen, von der taktischen Intelligenz der Squadra Azzurra oder vom Tempo des englischen Mannschaftsspiels, sind die Fußball-Religiösen bedient. Diese Freunde des gepflegten Spiels verhalten sich zu den Gläubigen wie Gourmets zu Teilnehmern am Abendmahl oder wie Opernfreunde zu regelmäßigen Gottesdienstbesuchern.

Mit solchen Agnostikern hat der Fußball-Anbeter seine Last. Er empfindet sie als oberflächliche Rosinenpicker. Sie suchen in den Augen der Fans vom Schlage des Lutz H. nur das Schöne, weigern sich Buße zu tun und in Abgründe zu schauen.

Dann lieber hart gesottene Fußball-Atheisten, ist sich H. mit den Kollegen einig, eckige Charaktere, denen das Runde fremd geblieben ist, die es auch in H.'s Firma reichlich gibt. Denn die nehmen einem wenigstens im Stadion oder vor der Großbildwand nicht die besten Plätze weg. Und sie verschonen einen außerdem mit unreinem Gequassel über die heiligste Nebensache der Welt.

Arnd Brummer ist Chefredakteur des evangelischen Magazins "chrismon".


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