Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006
Reinhard Mohr

Was Männer wirklich verbindet

Fußball ist unser Leben
Am Anfang war der Ball. Er kullerte durch den Sandkasten, über eine grüne Wiese oder rollte die gepflasterte Seitenstraße hinunter, die noch ein braunes Rinnsal aus dem benachbarten Schweinestall säumte. Es muss irgendwann 1958 gewesen sein, vier Jahre nach dem "Wunder von Bern". Konrad Adenauer befand sich auf dem Zenith seiner Macht, und die dreijährigen Steppkes in der gewerkschaftseigenen Wohnsiedlung waren schon auf Ballhöhe, wenn auch nicht zur Freude der Oma aus dem vierten Stock.

Wenige Jahre später mussten die Wäschestangen im Hof dran glauben: Sie wurden zu Fußballtoren umfunktioniert. Im Minuten-takt gellten nun die Mütterstimmen von den Balkonen: "Rüdiger, lass das! Die Bettlaken werden doch ganz schmutzig!"

Darauf konnte leider keine Rücksicht genommen werden. Die Mütter hatten keine Chance, denn schon damals galt Sepp Herbergers Wahrheit: "Das Spiel dauert 90 Minuten." Oder auch länger.

Als der nahe liegende Sportplatz endlich fertig war, tobten Rüdiger und seine Freunde stundenlang und bei jedem Wetter übers Feld - bis zur totalen Erschöpfung. Nun waren die Tore aus Holz - hilfsweise blaue Trainingsjacken von Adidas, die man auf den Rasen legte. Die Mädchen hatten sich zu dieser Zeit längst schon wichtigeren Dingen zugewandt - Puppen, Kleidern, Schuhen, ihrem Ballettunterricht und dem Poesiealbum.

Für die Knaben war es die Erfüllung aller Sehnsüchte, wenn sie ihren ersten eigenen handgenähten Lederfußball zum Geburtstag bekamen. Noch frisch und unbenutzt roch er wie das Versprechen auf ein großartiges Leben voller Glück und Abenteuer.

Am Samstagnachmittag vereinigten sich Väter und Söhne dann generationsübergreifend am heiligen Gral - zum Ritual der allwöchentlichen Autowäsche. Während die wassergetränkten Schwämme sanft über die Kühlerhaube des VW-Käfer glitten, dröhnte es aus den Transistorradios auf dem Trottoir: "Hallo, hallo, Hugo Dittberner, wir rufen die Kampfbahn Rote Erde in Dortmund!"

Die wohlige Atmosphäre eines berechenbaren kollektiven Ausnahmezustands legte sich über die schier endlose Autoreihe, und die verchromten Stoßstangen all der Opels, Borgwards und Fords schienen noch mehr zu glänzen als sonst, als am Ende "in die angeschlossenen Funkhäuser zurückgegeben" wurde.

Eine knappe halbe Stunde später, pünktlich um 17.45 Uhr, begann das samstägliche Hochamt: Die "Sportschau". Ihr tiefer, ja heiliger Ernst ist heute kaum noch vorstellbar. Ganze Familienkriege entbrannten an der Schicksalsfrage: "Daktari" (ZDF) oder "Sportschau" (ARD).

Natürlich siegte fast immer die "Sportschau", die "Tagesschau" der Fußballfans. Das wahre Evangelium. Vater und Sohn bildeten eine übermächtige Phalanx gegen jeden weiblichen Widerspruch. Niemand redete zu dieser Zeit von Geburtenschwund oder vom Aussterben des deutschen Volkes.

Sabine Christiansen spielte noch mit Backförmchen im Sandkasten statt mit Polit-Puppen im Fernsehstudio, und Werner Höfer leitete Sonntag für Sonntag souverän den "Internationalen Frühschoppen", in dem noch anständiger deutscher Riesling getrunken wurde.

Damals gab es auch noch keinen TV-Schnick-schnack mit Vor-, An- und Abmoderation, endlosen Werbeteppichen, Trailern, Gags und Gimmicks, Gewinnspielen und überlangen Pseudointerviews.

Es gab nur Fußball pur. Spiel für Spiel, Tor für Tor. Ernst Huberty war der kongeniale Präsentator, der mit wenigen Sätzen das Wesentliche sagte.

Spiele, Ergebnisse, Tabelle und guten Abend! Dann ab in die Badewanne.

Diese frühkindlich-geschlechtsspezifische Prägung sitzt tief und hat sich inzwischen auch in die männliche Genetik eingegraben. Fußball ist eine profane Alltagsreligion, eine Ersatzutopie, die niemals wirklich enttäuscht werden kann, weil es immer weiter geht - bis hinter den Horizont.

Selbst nach furchtbaren Niederlagen und schreck-lichen Abstiegsdramen geht es in der nächsten Saison wieder von vorne los. Auf Demütigung folgt Revanche, auf triumphale Siege folgen grausame Abstürze.

Gewiss: Es gibt die Auszehrung gesellschaftlicher Visionen, es gibt Intellektuellendämmerung und galoppierende Politikverdrossenheit - doch von Fußballverdrossenheit hat man noch nie gehört.

Fußball ist selbstverständlich auch Theater, griechisch, römisch und postmodern zugleich. Er ist aber auch Kampf und Krieg. Doch bei aller körperlichen Härte und Unversöhnlichkeit ist dieser Krieg fast immer unblutig und so gut wie nie tödlich.

Fußball ist die permanente Wiederauferstehung ohne Kreuzigung, ein Spiel mit der unmittelbaren Konfrontation, das aber in der gleichen Sekunde zeigt, wie man ihr ausweichen kann: Doppelpass genügt. Ein Dribbling hier, ein Querpass dort, und schon läuft der Gegner ins Leere, und die "Kirsche" saust ins Netz, das Runde fliegt ins Eckige, wohin es mit Fug und Recht gehört.

Fußball ist für Männer aber auch das, was für Frauen und andere liebenswerte Geschöpfe Tai Chi, Yoga, Rolfing, Gesprächstherapie, tantrische Chakren, buddhistisches Nirwana und stundenlanger Schuheinkauf bedeuten: tiefempfundene Entspannung, die Erlösung von dem Übel, Transzendenz im Hier und Jetzt. Die Magie der Kugel, sie wirkt.

Zugleich fordert das Fußballspielen aber auch außerordentlich viele nützliche menschliche Eigenschaften: Kraft, Schnelligkeit, Gewandtheit, Ballgefühl, Intelligenz, räumliches Denken, Teamgeist, Willensstärke, Durchhaltevermögen, Selbstdisziplin. Leider sind es immer noch nicht genug, um mit der Fußballreligion die Welt zu retten.

Ohne Fußball aber wäre sie nicht nur ein reines Jammertal, sondern auch ein einziger Kriegsschauplatz. Denn nicht nur innerhalb einer Gesellschaft oder Nation, sondern auch zwischen den Völkern sorgen der Sturm und Drang auf dem grünen Rasen für Aggressionsabbau und seelische Entlastung, für emotionalen Ausgleich und anhaltende Sinnstiftung, Hooligans hin oder her.

Es gibt kaum etwas Friedlicheres auf dieser Welt als Männerfreunde, die sich gemeinsam ein Halbfinalspiel der Champions League anschauen und dabei ein paar Biere trinken. In dieser Zeit sind sie gar nicht in der Lage, irgendetwas Böses zu tun.

Was bei allem Lärmen und Toben im Fußballstadion und vor dem Fernseher zu Hause oder in der Kneipe so oft unsichtbar bleibt, ist der kathartische Effekt des Fußballs, der sich nicht zuletzt aus (lebens-)philosophischen Quellen speist. Viele Dichter und Denker, Künstler und Intellektuelle haben sich mit dem rätselhaften runden Ding an sich beschäftigt, Bücher, Hörspiele, Filme und Gedichte verfasst und dabei versucht, der Metaphysik des Fußballs auf die Schliche zu kommen, seinem angeblich unergründlichen Geheimnis.

Dabei liegt es eigentlich ziemlich offen zutage: Beim Fußball geht es stets um alles und nichts. Um ganz Großes und ganz Kleines. Um die weite Welt und die schmerzhafte Entzündung am Schambein des Mittelstürmers des SV Meppen.

Es ist wie im richtigen Leben. Tödlicher Ernst wandelt sich in einen mehr oder weniger guten Witz, und was eben noch eine Tragödie schien, ist kurz darauf die reine Farce. Über sieben Brücken musst Du gehn, sieben schwere Jahre überstehen - und dann wirst Du wieder Weltmeister.

Oder auch nicht.

 

Reinhard Mohr ist freier Autor für "Spiegel online" und die "Weltwoche".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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