Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006
Christoph Oellers

Schiedsrichter müssen vor allem eines können: sicher wirken

Ein Amateur unter lauter Profis
Sie wirken nur scheinbar im Hintergrund: Die Männer mit der Pfeife. Zücken sie allerdings ihre gelben oder, schlimmer noch, roten Karten, stehen sie auch für die Zuschauer sichtbar im Zentrum des Spiels. Denn dann müssen sie sich von aufgebrachten Spieler-Gemütern beschimpfen lassen, die sich in einer Traube um sie drängen. Aber vor allem: Sie dürfen sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, genau wie der Fels in der Brandung. 78.000 Fußball-Schiedsrichter zählt der DFB, 18 sind es in der Bundesliga, zehn von ihnen pfeifen international. Markus Merk ist als deutscher Schiedsrichter für die WM nominiert worden.

Der Pfiff kommt zweimal zu früh für den Jubel. Markus Merk, der deutsche WM-Schiedsrichter, erkennt die Tore nicht an. Abseitsposition. So hat er es gesehen. Die Tore in Bremen hätten für den FC Bayern Ausgleich und Siegtreffer sein können. Das wäre eine frühe Vorentscheidung um die deutsche Meisterschaft 2006 gewesen. Die Proteste der Spieler sind jedoch verhalten; auf der Bank des FC Bayern kaum eine Reaktion. An der Entscheidung wird auch nicht rumgerüttelt, als die Niederlage feststeht; auch nicht als die Reporter ihre kritischen Fragen am Spielfeldrand stellen, auch nicht als sich alles in Zeitlupe angeguckt wird, als in den Sportschaus und -studios die "Fernsehgerichte" tagen, die Sequenz für Sequenz mit Experten durchgehen und Merks Entscheidungen dann doch für korrekt befinden. Wie die Spielsituation aber der offizielle Schiedsrichterbeobachter gesehen hat, der bei jedem Spiel in den Profiligen auf der Tribüne sitzt, darüber dringt nichts an die Öffentlichkeit.

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat vor einigen Jahren mal mit dem früheren Schiedsrichter Eugen Striegel einen eigenen Mann beim ZDF platziert, der strittige Entscheidungen des jeweiligen Spieltages analysiert hat. Doch das Experiment wurde nach einem Jahr abgebrochen. "Er wurde da in die Enge getrieben mit Fragen, um den eigenen Stand in die Pfanne zu hauen. Das war nicht gut", sagt Klaus Löw, Schiedsrichter-Referent in der Frankfurter DFB-Zentrale.

Die Frage nach dem Abseits gehört zu den drei heikelsten, die ein Schiedsrichter auf dem Platz in Sekundenbruchteilen entscheiden muss. Abseits, Strafstoß, Platzverweis.

Ein Schiedsrichter, sagt man, kann ein Spiel verpfeifen, er kann es wie kaum ein anderer, manipulieren. Er ist deswegen beliebtes Objekt von Einflussnahmen vor und im Spiel. Seine Unbestechlichkeit gehört zur Grundvoraussetzung seiner Amtswaltung. Nur: Wenn er weiß, was für Summen beim Fußball im Spiel sind, was die erhalten, die auf dem Platz Tore schießen und verhindern sollen, was die abzocken können, die in den Wettbüros die richtigen Kombinationen mit den richtigen Ziffern wählen, was die Branche insgesamt so umsetzt, dann erscheint es für Normalsterbliche, für den gemeinen Zuschauer, leicht nachvollziehbar, dass der "Mann in Schwarz" auch mal ein Auge oder beide zudrücken kann. So wie ein katholischer Geistlicher doch auch sein Leben lang nicht seine Triebe im Griff haben könne. Löw sieht den Gerechtigkeitssinn bei Schiedsrichtern besonders stark ausgeprägt. Und Markus Merk erzählt, dass er als Teenie schon Schiedsrichter geworden ist, weil er sich ungerecht behandelt gefühlt habe, als er für einen schlechteren Spieler auf die Reservebank musste, damals in der C-Jugend des 1. FC Kaiserslautern.

78.000 Fußball-Schiedsrichter zählt der DFB. 18 sind es in der Bundesliga, zehn von ihnen pfeifen international. Zwei, nämlich Herbert Fandel und Markus Merk, waren für die WM nominiert, übrig geblieben ist nach dem FIFA-Lehrgang Ende März allein Merk, der schon bei zwei Weltmeisterschaften dabei war. "Bei diesem System kommen nur die Besten durch." Löw redet dabei allerdings allein über seinen Verband. Die Auswahl der 30 WM-Schiedsrichter kommentiert er nicht. "Ob die Fifa richtig entschieden hat, kann ich erst nach der WM sagen." Eine gewisse Enttäuschung ist aus ihm jedenfalls herauszuhören, dass man als Gastgeber nicht doch zwei Schiedsrichterposten eingeräumt bekommen hat.

"Die meisten werden Schiedsrichter, weil sie als Fußballer zu schlecht sind", sagt Löw, der selbst mal in unteren Ligen gepfiffen hat. Als zweiten Grund nennt er die Aufbesserung des Taschengeldes. "Ich finanziere mir damit teilweise mein Studium", sagt Betriebswirtschaftler Andreas M., 22. Er bekommt 30 Euro plus Fahrkosten pro Spiel. Außerdem käme man mit dem Schiedsrichterausweis in fast jedes Bundesligaspiel umsonst rein. Im März war er bei Bayern gegen Köln und hat sich über eine Abseitsentscheidung des Linienrichters zu Lasten der Kölner wie ein Rohrspatz aufgeregt. Darüber wurde am Abend im Fernsehen diskutiert und ihm, M., Recht gegeben. Es wäre der Siegtreffer der Kölner gewesen.

Andreas M. pfeift Bezirksliga in Mecklenburg-Vorpommern. Markus Merk pfeift seit 1988 in der Bundesliga, als es noch 72 Mark für ein Spiel gab. Seitdem hat er knapp 300 Spiele in dieser Liga gepfiffen - so viele wie kein anderer. Zweimal wurde er zum Weltschiedsrichter des Jahres gewählt, bei der letzten Europameisterschaft leitete er das Finale. Mit Merk begann das, was man als Professionalisierung innerhalb eines amateurhaften Status bezeichnen könnte. Während früher noch der etwas rundliche Mann in Schwarz keine unübliche Erscheinung war, gehören Fitnesstests und Waldläufe nun zum Pflichtprogramm. Merk versteht das Schiedsrichterwesen als Leistungssport. Das Wichtigste ist auch für den Unparteiischen, möglichst auf Ballhöhe zu sein. Das Spiel ist andererseits in den letzten Jahrzehnten immer athletischer, immer schneller geworden. Merk läuft den Marathon unter drei Stunden, dürfte bessere Fitnesswerte haben als die meisten Fußballer. Schließlich übertragen jetzt 16 statt zwei Kameras. Während eines Lidschlags produziert jede von ihnen acht Bilder. Druck und Verantwortung, die richtige Entscheidung zu treffen, sind gewachsen, zumal auch die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Bedeutung dieses Sports rasant gestiegen ist.

Zweimal im Jahr, jeweils vor Beginn der Saison und der Rückrunde, zieht der DFB seine Spitzenschiedsrichter zu einem Lehrgang zusammen. Da geht es häufig um psychische Dinge, wie man mit Stress umgeht, wie mit Gebaren der Spieler, welcher Gestik man in welcher Situation sich bedient.

In der Ära Merk ist aus der "Aufwandsentschädigung" eine veritable Bezahlung geworden. In den vergangenen 15 Jahren ist das Entgelt für ein Bundesligaspiel um fast das Dreifache gestiegen, liegt nun bei 3.068 Euro. Da könnte ein Bundesligaschiedsrichter also schon ganz gut allein von seinem nebenberuflich erworbenen Geld leben. Fast alle haben aber ihre Berufe und gehen ihnen nach, ob als Anwalt, als Chirurg, als Polizist. Merk hat erst vor anderthalb Jahren seine Zahnarztpraxis aufgegeben. Offiziell wegen der Gesundheitsreform, faktisch wohl deswegen, weil er als Referent in Motivationsseminaren überzeugen konnte. "Sicher entscheiden" ist ein Vortrag, der in Vorstandsetagen deutscher Unternehmen großen Anklang findet. "Eine Entscheidung", hat er mal in einem FAZ-Gespräch gesagt, "muss auf dem Platz unverrückbar erscheinen, auch wenn man sich selbst nicht ganz sicher ist."

Beim DFB hält man nichts von den immer wieder laut werdenden Forderungen nach dem Profi-Schiedsrichter. Aus einfachem Grund: "Die müssten bei uns angestellt sein, und wir hätten dann die Ruhestandsgehälter am Bein", sagt Referent Löw. Und die Karrieren enden früh wie die von Piloten: Mit 45 ist international, mit 47 national Schluss. Das Schiedsrichterdasein besteht allerdings nicht nur darin, ein bisschen Regelkunde zu betreiben und dann zum Spiel zu fahren. "Die bilden sich fort, in der Zeit, in der sie nicht pfeifen." Kenntnisse über die Spieler und deren Eigenheiten würden zum Beispiel vorausgesetzt. "Das sind Profis, ohne den Beruf als Schiedsrichter auszuüben." Löw hätte nichts dagegen, wenn ehemalige Bundesligaspieler die Attraktivität des Jobs erkennen würden. "Wir laden ja seit 20 Jahren dazu ein. Getan hat sich leider nichts."

Der wichtigste, wenn auch nicht der häufigste und meist nicht der heikelste Pfiff ist natürlich der über ein erzieltes Tor. Seit dem "Wembley-Tor" von 1966, dem 3:2 im WM-Finale England gegen Deutschland, kommt es immer wieder zu Diskussionen über zusätzliche Hilfsmittel. 1994 etwa wurde ein Bundesligaspiel wiederholt, weil der Schiedsrichter ein Tor gegeben hatte, das nach Betrachtung der Fernsehbilder eindeutig keines war. In der abgelaufenen Saison gab es auch wieder Fälle, in deren Zusammenhang heftig eine Torkamera oder der Chip im Ball gefordert wurde. Der DFB lehnt jede Art von Oberschiedsrichter ab, etwa Kameras wie im Eishockey. Gegenüber dem Chip ist er aber offen. Allerdings erscheint das System noch nicht ausgereift. Bei der U17-Weltmeisterschaft in Peru endete ein torloses Spiel für den Ball mitunter vier zu drei.

Christoph Oellers arbeitet als freier Journalist in München.


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