Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006
Christoph Oellers

"Das ist wie Wein und Wasser"

Lucio und Owen Hargreaves über ihre Nationen und Bayern-München
Ein trüber Aprilnachmittag auf dem Gelände des FC Bayern. Noch 66 Tage bis zur WM, vier Tage bis zum Spitzenspiel in Bremen. Roman Grill, Mitglied der Presseabteilung, blickt wie ein nervöser Jäger auf dem Hochsitz zum Trainingsspiel der Profis, rutscht auf seinem Stuhl hin und her, in der rechten Hand das Mobiltelefon, eine Nachricht eintippend, dann hochfahrend: "Die haben keinen besseren auf der Position."

Grill meint Owen Hargreaves, 25. Und er meint die Engländer, er meint die englische Nationalmannschaft, für die Hargreaves bislang 29 Mal das Trikot getragen hat. Er rollt zur Tischkante und malt Kreuze aufs Papier. Kräftig drückt er den Bleistift bei der Raute im Mittelfeld ein, besonders energisch an der Stelle vor den vier Abwehrkreuzen, die Position der Nummer 6. Es ist die Lieblingsposition von Owen Hargreaves. "Lampard kann das nicht, Gerard kann das nicht und

Beckham sowieso nicht." Grill agiert nicht als Pressesprecher sondern als Berater seines Mandanten.

Owen Hargreaves und Lucio gehören zu 150 Ausländern, die ihren Beruf in der Fußball-Bundesliga ausüben. 150 von 400 Profis insgesamt. Etwa zwei Dutzend "Gastarbeiter" werden ihre Länder bei der WM vertreten. Hargreaves und Lucio leben seit neun beziehungsweise fünfeinhalb Jahren in Deutschland. Das gibt dem ohnehin Besonderen eine besondere Note: Mit der Heimat zu Gast in der zweiten Heimat.

Hargreaves ist mit 16 Jahren von Calgary in Kanada nach München gekommen, in die B-Jugend des Clubs, für den er immer noch spielt. Das sei Zufall gewesen, da ihn ein deutscher Trainer entdeckt habe. "Ich hätte auch in Mailand, Turin oder Barcelona landen können." Immerhin war er kanadischer Meister mit der U15-Mannschaft und für ihn war klar, dass er das Land verlassen werde. "Die haben nur zweimal die Woche trainiert." Ein Riesenschritt sei das gewesen, aber er hatte nun einmal diesen Ehrgeiz, diesen unbedingten Willen, es schaffen zu wollen. "Ich komme aus einer Fußballerfamilie." Der Vater hat ein bisschen gespielt, der ältere Bruder stand bei den Bolton Wanderers vor dem Durchbruch, als ihm das Kreuzband riss. Und: "Wir sind eine britische Familie." Die Mutter stammt aus Wales, der Vater aus England, sie sind der Arbeit wegen nach Kanada ausgewandert.

Hargreaves spielt unten beim Stand von 2:3 einen verunglückten Pass nach vorne und rauft sich die Haare. Später wird er sagen, dass das strategische Spiel nicht das seine ist. "Ich bin eher Wettkämpfer." Derjenige mit dem Kämpferherz.

Den Ball hat Lucio dankend angenommen und zum Konter genutzt. Lucio, der Brasilianer, der Weltmeister von 2002, der in voller Länge Lucimar da Silva Ferreira Lucio heißt, spielt mit Leibchen. Leibchenträger dürfen sich gemeinhin als erste Wahl fühlen. "Bei Trainer Magath nicht", knurrt Grill. "Nein - auch der FC Bayern hat auf dieser Position keinen Besseren, wenn der Owen fit ist." In der Winterpause ist er an der rechten Leiste operiert worden. Die letzten Spiele stand er beim Anpfiff jeweils auf dem Platz, um den ein weiterer Nationalspieler kämpft, der bei der WM voraussichtlich dabei sein wird: Martin Demichelis aus Argentinien. In manchen Vereinen Europas ist es inzwischen so, dass die Reservisten feste Größen im Kader ihres Heimatlandes sind. Früher galt das für kleine Länder, heute aber sind Fußballmächte wie England, Argentinien oder Deutschland betroffen.

Lucio ficht das nicht an. Ob mit oder ohne Leibchen: Er weiß, dass er bei Bayern wie in der Selecao, in der brasilianischen Nationalmannschaft, seinen Platz in der Innenverteidigung hat, wenn er sich wenigstens in Normalform befindet.

"Ich freue mich total. Ich bin da sehr emotional, wenn ich das Dress überziehe", sagt Lucio nach dem Training. Gemeint ist nicht sein Club, sondern das Trikot für die Selecao. "Ich liebe mein Land, und ich liebe es, für mein Land zu spielen und es zu repräsentieren." Für Lucio ist selbstverständlich, dass er die Hymne vor Beginn eines Länderspiels mitsingt, auch wenn der Text etwas eigen sei. ("Von den stillen Ufern des Ipiranga hörten sie den Schrei eines heroischen Volkes widerhallen, und im gleichen Augenblick leuchtete mit blitzenden Strahlen die Sonne der Freiheit am Himmel des Vaterlandes.") "Aber die Melodie und der Rhythmus sind wunderbar." Ihm stellten sich in diesen Momenten die Haare auf. Er streicht mit seiner rechten Hand ein paar Mal über den linken Unterarm, als ob allein schon der Gedanke genügt habe, dieses Gefühl hervorzurufen. 35 Mal hat er bisher für Brasilien gespielt. Im Januar 2001 kam er als knapp 23-Jähriger nach Leverkusen. Deutschland sei für ihn so etwas wie eine zweite Heimat geworden. "Die Kinder haben sich schon sehr eingelebt." Als "deutscher Brasilianer" wird er gelegentlich wegen seines kämpferischen Auftretens auf dem Rasen bezeichnet. Er legt Wert darauf, sich selbst nie so charakterisieren zu wollen. "Über mich rede ich lieber nicht." Es ist aber bezeichnend, dass er als Vorbild Carlos Dunga angibt, der in den 90er-Jahren für Stuttgart spielte und seiner Spielweise wegen auch schon ins deutsche Fach gesteckt wurde. Dabei muss sich seine Identifikation mit dem Land seiner Arbeit in Grenzen halten. Einen vor allem von Bayern jetzt geplanten Sprachtest für Grundschulschüler würde Lucio kaum bestehen.

Grill bekümmert das nicht. Seit 2004 ist Lucio bei den Bayern. Er versteht zwar einiges, aber spricht kaum Deutsch. Grill zieht die Achseln hoch, die Unterlippe runter, als habe man sich von Clubseite hinreichend bemüht, man sich aber nun dem Schicksal gefügt.

Lucio wirkt etwas abwesend, wenn er über seinen Verein spricht. Er spricht zwar viel über Erwartungen sowie Druck, "Tag für Tag", und auch darüber, dass die WM gerade für ihn kein Thema sei, "weil jetzt die Arbeit für den Club wichtig ist", aber er wirkt nüchtern und monoton. Er lacht nur, wenn es um Privates geht oder um die Nationalmannschaft. Er beschreibt ausführlich die Ausgelassenheit im Team während der vergangenen WM in Japan und Südkorea. "Da verging kaum eine Minute, wo wir nicht getrommelt, getanzt, gesungen oder gelacht hätten." Zur Stimmung in der Kabine bei der Selecao und bei Bayern sagt er: "Das ist wie Wein und Wasser."

Hargreaves gibt noch einmal alles, er will jedes Trainingsspiel gewinnen. Er sprintet über 80 Meter, erkämpft einen Eckball, legt ihn für Willy Sagnol, den französischen Nationalverteidiger, auf, der mit dem Schuss zögert, stattdessen halbherzig nach innen flankt; der Ball wird abgefangen und diesmal hat der Fehlpass Folgen: 3:4. Geschossen hat das Tor Neuzugang Dos Santos, der mit Paraguay in der Vorrunde auf England treffen wird. Auch Roque Santa Cruz spielt für Paraguay. Beim Training, wenn acht gegen zwei im Kreis spielen und er den in der Mitte hetzenden Hargreaves tunneln will, "sage ich ihm, dass er das mit seinem Torwart machen kann". Ohnehin hat Hargreaves gerade Oberwasser, da die Engländer im letzten Duell Paraguay 4:0 besiegt haben. Eine von beiden Mannschaften wird voraussichtlich im Achtelfinale auf Deutschland treffen. "Das wäre natürlich sehr speziell", sagt Hargreaves in seiner unaufgeregten Art. Und dazu findet es noch in München, im Wohnzimmer des FC Bayern, statt.

Wie für Lucio liegt für Hargreaves die WM noch in weiter Ferne. Er will sich ganz auf Bayern konzentrieren, auf Pokal und Meisterschaft. "Wenn man zu weit vorausdenkt, verliert man das, was als nächstes kommt." Schöner Satz mit fußballübergeifendem Potenzial. Nur: Das nächste Spiel war gegen Bremen und ging ohne den lädierten Lucio 3:0 verloren. WM-fristig hingegen wichtig war: Hargreaves spielte 90 Minuten auf seiner Lieblingsposition vor den Augen des englischen Nationaltrainers eine gute Partie.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.