Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 19 / 08.05.2006
Cordula Tutt

Vorrunde mal anders

Bei den Mannschaften, die aufeinander treffen, gibt es nicht nur Freunde

Wenn zwei Mannschaften bei der WM aufeinander treffen, hat das längst nicht nur mit Fußball zu tun. Fans, Politiker und Medienleute nutzen auch Befindlichkeiten der Nationen und alte Konflikte, um eine Begegnung aufzuheizen. Schon in der Vorrunde des Weltturniers stehen einige Begegnungen an, in denen große Gegensätze jenseits des Spielfeldes mindestens so wichtig sind wie der Sport auf dem Rasen.

Misstrauische Nachbarn:

Deutschland und Polen (Gruppe A): Klischees gibt es genug: das vom arroganten Deutschen oder vom schlitzohrigen Polen. Oder: Überlegenheitskomplex trifft Minderwertigkeitskomplex. Die Menschen auf beiden Seiten der Oder verbindet eine Geschichte voller Gemeinsamkeiten, aber auch Krieg und dann wieder Verständigung. Beim Fußball sind da chauvinistische Töne leider inbegriffen. Mit einer Massenschlägerei im November "übten" etwa deutsche und polnische Hooligans für die WM. Unweit von Frankfurt (Oder) verteidigte jede Seite ihren Ruf besonderer Brutalität.

Grundsätzlich gilt: Wie oft zwischen kleineren und größeren Nachbarn wissen die Polen mehr von den Deutschen als umgekehrt. Zuletzt hat sich der Blick etwas verschoben. Deutsche haben schon mal Angst vor Polen, die in der EU in Konkurrenz treten. Globalisierung konkret: Deutsche Arbeiter sind mit ihren Lohnkosten und hiesigen Steuern oft nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber Polen. So lernten die Bochumer Opel-Arbeiter das polnische Gliwice fürchten, auch weil ein Opel-Arbeiter dort nur 700 Euro im Monat verdient. Umgekehrt sind etliche Polen kritisch gegenüber Deutschen. Die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, gilt als besonders wenig willkommen.

Das Miteinander ist schwer, ohne einander geht es aber nicht. Da könnte die Fußball-WM helfen. Immerhin sind mit Miroslav Klose und Lukas Podolski zwei polnischstämmige Spieler im deutschen Kader. Als Bezugspunkt für Spiele zwischen Polen und Deutschland gilt für viele aber immer noch die "Wasserschlacht" bei der WM 1974, als die deutschen Gastgeber in Frankfurt im Regen glücklich 1:0 gegen eine gleich starke polnische Mannschaft gewannen. Alte Verbundenheit gibt es im Ruhrgebiet, wo viele Menschen polnische Wurzeln haben. Wenn polnische Fans zum Spiel ihrer Mannschaft auf Schalke gegen Ekuador anreisen, stehen Gastgeber bereit. Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski sagte, Hotels müssten die Gäste nicht buchen: "Alle Polen kommen bei Verwandten unter!"

Duell der Gesellschaftssysteme:

England und Schweden (Gruppe B): Als vor fünf Jahren ein Schwede ihr Nationaltrainer wurde, ging ein Aufschrei durchs englische Fußballland. Das Boulevardblatt "Daily Mail" lästerte: "Wir haben uns an eine Nation von sieben Millionen Skifahrern und Hammerwerfern verkauft, die ihr halbes Leben in der Dunkelheit verbringt." Dick aufgetragen und gerne verletzend entlädt sich der Humor über Sven-Göran Eriksson. Der wird nun nach der WM scheiden - er hatte über ein paar Engländer gelästert. Briten und Schweden repräsentieren die Gegensätze unter den Gesellschaften der EU. Die einen stehen für ein liberales, eben angelsächsisches Wirtschaftssystem, in dem der Staat immer etwas kritisch beäugt wird. Die anderen gelten als die Verkörperung der Sozialdemokratie, mit starkem Staat und dem Anspruch von Chancengleichheit. Dazu kommt ein völlig anderes Verständnis von Humor, ironisch-ätzend auf der Insel, und, ähm, bestenfalls minimalistisch in Schweden, sagen Engländer. Während die Schweden als recht gesundes Volk gelten, haben Briten das meiste Übergewicht. Das eine Gesundheitssystem gilt als vorbildlich, das andere als chronisch unterfinanziert. Nicht nur Fußballfans beider Länder wird aber nachgesagt, sie huldigten gern dem Alkohol.

Vom Ergebnis her scheinen beide ähnlich erfolgreich zu sein. Bei der Wirtschaftsleistung haben die Länder die Deutschen längst zurück gelassen: Knapp 34.000 Euro erwirtschaftet der durchschnittliche Engländer im Jahr, knapp 36.000 ein Schwede. Bei Lebenserwartung und Internetnutzung haben die Schweden knapp die Nase vorn, die Briten fahren mehr Autos und haben eine jüngere Bevölkerung. Schweden gilt als das Land, in dem die Gleichberechtigung am weitesten verwirklicht ist. England ist immerhin der Ort in Europa, in dem Bankerinnen oder Anwältinnen die höchsten Entschädigungen wegen Benachteiligung erstritten.

Beim Fußball könnte ein Minderwertigkeitskomplex Antrieb für die Engländer sein. Die Länderspielbilanz ging mit vier Unentschieden und zwei Niederlagen eindeutig zu Gunsten der Skandinavier aus. Trotz aller Häme haben die Briten aber wohl doch ein inniges Verhältnis zu den Schweden. Speziell zum Trainer: "Geh endlich, Sven", titelte Anfang 2006 die "Daily Mail". Andere setzen ihm ein Denkmal. Der britische Autor Nick Grosso widmete ihm ein Bühnenstück, das 2005 uraufgeführt wurde. Ein Erfolg: Thema ist das turbulente Liebesleben des Schweden.

Das größte Wohlstandsgefälle:

Niederlande und Elfenbeinküste (Gruppe C): Im Entwicklungsindex der Uno trennen die Niederlande und die Elfenbeinküste 161 Plätze - soweit stehen sonst keine zwei Länder auseinander, die in der Vorrunde gegeneinander wetteifern. Das europäische Land steht gut da bei Lebenserwartung, Bildung und Pro-Kopf-Einkommen - macht weltweit Platz 12 für die Holländer. Die Elfenbeinküste in Westafrika landet nur auf Platz 163 von 177 Ländern.

Die 18 Millionen Ivorer werden im Schnitt nur 45 Jahre alt, die 16 Millionen Niederländer aber 79 Jahre. Ein Bürger der ehemaligen französischen Kolonie erwirtschaftet statistisch 770 US-Dollar im Jahr. Jeder Niederländer bringt es auf 31.700 Dollar - auf mehr als in Deutschland. Deutlich ist auch die Kluft im Internet: Mehr als 60 Prozent sind im Oranje-Staat online, in Westafrika nicht einmal zwei Prozent.

Die ivorische Mannschaft, die "Elefanten", haben sich erstmals für die WM qualifiziert. Groß ist die Hoffnung, dass das gespaltene Land durch das Team geeint wird. Fußball ist Straßensport: Auch in Klubs haben Tore oft kein Netz, Spieler tragen Plastiksandalen. Macht nichts, gute Spieler lassen sich nicht abschrecken.

Einer ist Salomon Kalou. Der 20-Jährige wollte den Spagat zwischen beiden Welten schaffen - und wurde zum Symbol der verschärften Ausländerpolitik in den Niederlanden. Der Stürmer von Feyenoord Rotterdam stammt von der Elfenbeinküste, Hollands Trainer Marco van Basten wollte ihn einbürgern, damit er im Orange-Trikot spielt. Die strikte Ausländerministerin Rita Verdonk entschied dagegen. Nach dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh sehen viele Niederländer Zuwanderer als Bedrohung.

Kalou hatte den Einbürgerungstest nicht bestanden. Der ist für Hochleistungssportler aber nicht verbindlich. Obwohl Verdonk die Gerichtsverfahren verlor, stellen sie stets neue Bedingungen. Ob Kalou nun für die Elfenbeinküste bei der WM kickt, ist noch offen.

Alte Wunden aus der Kolonialzeit:

Angola und Portugal (Gruppe D): Das letzte Mal trafen beide Teams vor über vier Jahren aufeinander. Es sollte ein Freundschaftsspiel zwischen Portugal und Angola sein, Chaos und Übergriffe sprengten das Spiel. Vier angolanische Spieler wurden wegen brutaler Fouls vom Platz gewiesen. Ein Spiel zwischen beiden Mannschaften ist nie normal - tief sitzen die Wunden der Kolonialzeit, die bis 1975 währte.

Davor tobte in Angola 14 Jahre ein Krieg gegen die europäischen Machthaber. Nach der Unabhängigkeit blieb das Verhältnis eng, aber nicht unbelastet. Der Bürgerkrieg, diesmal vor allem um reiche Bodenschätze, ging 26 Jahre weiter. Es starben etwa eine Million Menschen. Auch portugiesischen Politikern wurde immer wieder vorgeworfen, im Geheimen mitzumischen. Rund vier Millionen Angolaner flohen aus ihrem Land, viele davon nach Portugal. Dort leben viele als schlecht gestellte Unterschicht in Slums am Rand großer Städte. Vorigen Sommer zeigten Jugendlichen aus diesen Slums Badegästen am Strand, dass sie Angst verbreiten können. Jugendliche Horden lösten eine Massenpanik aus und klauten, was sie kriegen konnten: Geld, Handys und Taschen.

Manchmal wird Angolas Nationalmannschaft ein Team der Überlebenden genannt. Viele der "Schwarzen Antilopen" haben Eltern und Angehörige im Krieg verloren. Fast ausschließlich stammen die Profis aus angolanischen Vereinen oder unterklassigen Klubs in Portugal. Die längste Zeit gab es im Land nicht einmal ein Nationalteam, deshalb sind die Hoffnungen und der Jubel nun umso größer. Mit dabei sind wohl auch zwei Spieler, die länger in Portugal gelebt haben als in Angola. Verteidiger Pedro Emanuel aus Porto verließ Afrika als Dreijähriger. Verteidiger Rui Marques war sieben. Marques nannte die Begegnung mit Portugal am 11. Juni "ironisch": "Ich bin eher Portugiese als Angolaner." Trotz aller Belastungen ist er optimistisch, dass alles gut geht. "Das Spiel ist keine Frage von Leben oder Tod - es gibt wichtigere Dinge."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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