Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 20 / 15.05.2006
Claudia Heine

Lange Suche nach der Gewissheit

Damals vor 20 Jahren: Der Bundestag debattiert über den Einsatz von Kernenergie

Philosophische Überlegungen finden selten einen Platz im politischen Alltagsgeschäft. Aber Tschernobyl war auch kein "Alltag", weshalb Bundeskanzler Helmut Kohl in der Bundestagsgebatte vom 14. Mai 1986 grundsätzlich wurde: "Wir können der Unvollkommenheit des Menschen nicht entrinnen. Absolute Sicherheit gibt es für keinen Bereich menschlichen Lebens." Ähnlich äußerte sich Hans-Jochen Vogel, der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende: "Nach Tschernobyl ist nichts mehr so wie es vorher war. Tschernobyl hat uns gezeigt: Die Katastrophen, die wir bisher kannten, waren und sind in ihren Auswirkungen zeitlich beschränkt. Atomare Katastrophen eröffnen ganz neue Dimensionen."

Aus dieser Feststellung resultierte die Forderung der SPD, mittelfristig aus der Atomernergie auszusteigen, indem keine neuen Kernkraftwerke mehr gebaut und die vorhandenen nur noch für eine Übergangszeit genutzt werden. Radikaler äußerten sich die Grünen: "Es gibt keine friedliche Nutzung der Kernernergie. Alle 374 Kernkraftwerke auf dieser Erde sind Kriegserklärungen an die Menschen. Deshalb fordern wir, alle Atomanalagen abzustellen, jetzt und sofort." Hannegret Hönes, die Fraktionssprecherin der Öko-Partei, stieß damit jedoch auf wenig Resonanz auf den Regierungsbänken. Denn eines stellte Helmut Kohl trotz seiner Bemerkung über die menschliche Unvollkommenheit klar: "Es geht nicht um einen deutschen Ausstieg aus der Kernenergie, sondern um einen Einstieg in eine internationale Anstrengung für mehr Sicherheit." Die deutschen Anlagen würden mit zu den sichersten weltweit gehören. "Deshalb ist das theoretisch verbleibende Restrisiko vertretbar und die Nutzung der Kernergie ethisch zu verantworten." Hans-Jochen Vogel reagierte empört und erwiderte in der fünfstündigen, heftigen Debatte, wer so etwas sage, habe nichts gelernt und müsse wohl erst durch noch größeres Unheil überzeugt werden, dass der Mensch nicht allmächtig und es humane Grenzen des technisch Machbaren gebe.

Zum Glück ist dieses Unheil bisher ausgeblieben. Doch 20 Jahre nach Tschernobyl und trotz des vor fünf Jahren geschlossenen "Atom-Konsenses" der rot-grünen Bundesregierung erlebt die Atomkraft eine Renaissance. Noch nicht in Deutschland, denn hier hält auch die Große Koalition am beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie bis 2021 fest. International steht sie damit jedoch allein auf weiter Flur. Der Kampf ums Öl, der Streit ums Gas und die Einsicht in die Begrenztheit der Ressourcen lässt anscheinend nur einen Ausweg zu: den Ausbau der Atomkraftwerke. Erst Ende April kündigte Igor Schuwalow, der russische G8-Beauftragte, eine Initiative seines Landes an: Auf dem G8-Gipfel im Sommer möchte Russland den weltweiten Ausbau der Kernenergie zum Thema machen. In den kommenden Jahren sei der Neubau von 200 bis 300 neuen Atomkraftwerken notwendig. Anfang 2006 waren weltweit 442 Atomkraftwerke am Netz. Von den 31 Anlagen in Russland entsprechen elf dem Typ des zerstörten Tschernobyl-Reaktors.

Dieser wurde 1986 unter einem Beton-Sarkophag begraben. 20 Jahre später ist er brüchig und unsicher geworden. Über 800.000 Hilfskräfte, so genannte Liquidatoren, waren damals im Einsatz, um die Folgen zu "beseitigen". Aber: Was sind die Folgen? Noch heute ist die Diskussion darüber in vollem Gang. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von knapp 50 unmittelbaren Strahlenopfern ausgeht, spricht Greenpeace von 93.000 Toten und 270.000 Krankheitsfällen. Nach Angaben von Unicef leiden in den am stärksten betroffenen Regionen in der Ukraine und Weißrussland 4.000 Kinder an Schilddrüsenkrebs.

Das Wissen um die Gefahren hat nicht zu einer Gewissheit über die Folgen geführt. Es gilt immer noch, was Hans-Jochen Vogel am 14. Mai 1986 fragte: "Wer weiß denn wirklich, welche Langzeitwirkungen die Cäsium- und Strontiumausschüttungen tatsächlich im Lauf der Jahre haben?" Sicher ist hingegen, dass der GAU von 1986 die Akzeptanz von Atomkraft in der Bevölkerung nachhaltig beeinflusst hat. Genaue Opferzahlen waren dafür nicht nötig. Es reichten die Bilder von an Leukämie erkrankten Kindern aus der Ukraine, die in der Folgezeit über die Bildschirme die Wohnzimmer erreichten. Über 60 Prozent der Deutschen befürworten derzeit einen Ausstieg aus der Atomenergie. Steckt dahinter der Gedanke an die "Unvollkommenheit des Menschen"?


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.