Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 27 / 03.07.2006
Gerlind Schaidt

Mehr Eigenverantwortung für Schulen

Nordrhein-Westfalen startet die umfangreichste Bildungsreform seit 40 Jahren
Auf Schüler, Eltern und Lehrer in Nordhrein-Westfalen kommen nach den großen Ferien grundlegende Veränderungen zu. Gegen den heftigen Widerstand der rot-grünen Oppositionsfraktionen hat der Düsseldorfer Landtag in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause mit den Stimmen der CDU-FDP-Regierungskoalition ein neues Schulgesetz beschlossen, das sie vor der gewonnenen Landtagswahl 2005 versprochen hatte. Damit wurde im bevölkerungsreichsten Bundesland die umfassendste Bildungsreform seit 40 Jahren auf den Weg gebracht.

Das Gesetz gilt als zentraler Baustein schwarz-gelber Reformpolitik und soll Nordrhein-Westfalen nach dem Willen der Landesregierung wieder an die Spitze der Bundesländer zurückführen. Erstmals seit Auflösung der konfessionellen Volksschulen und Einführung der Gesamtschulen in den 60er-Jahren nehmen CDU und FDP wieder gemeinsam Einfluss auf das Bildungswesen an Rhein und Ruhr. Unter dem Applaus der Koalitionspartner hatte Schulministerin Barbara Sommer (CDU) während der Schlussdebatte im Landtag ihren Kritikern zugerufen: "Der Wind der Veränderung ist spürbar!" Das Gesetz folgt vier zentralen Leitideen. Angestrebt werden mehr Leistung und zugleich mehr individuelle Förderung aller Schüler. Erreicht werden soll außerdem eine größere Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und mehr Eigenverantwortung der Schulen. Das gegliederte Schulsystem bleibt jedoch unangetastet.

Die schulische Betreuung setzt künftig früh an. Ab 2007 wird bei allen Kindern zwei Jahre vor der Einschulung festgestellt, ob ihr Sprachvermögen altersgemäß entwickelt ist und ob sie die deutsche Sprache hinreichend beherrschen. Das geschieht in der Verantwortung der Schulämter im Rahmen eines zweistufigen Verfahrens in den Kindertageseinrichtungen und Grundschulen. Bei Defiziten werden die Eltern dazu verpflichtet, ihr Kind an vorschulischen Sprachkursen teilnehmen zu lassen. Bei der Anmeldung zur Grundschule wird nochmals überprüft, ob die Kinder die deutsche Sprache hinreichend beherrschen. Ist das nicht der Fall, werden die Kinder erneut zu Sprachkursen verpflichtet. Die Kindertagesstätten werden zu Zentren für vorschulische Sprachförderung ausgebaut.

Das Einschulungsalter wird vom Schuljahr 2007/08 schrittweise vom 30. Juni auf den 31. Dezember vorgezogen. Dazu wird der Stichtag alle zwei Jahre um einen Monat vorverlegt. Kinder, die nach dem 30. September das sechste Lebensjahr vollenden, können von den Eltern ohne Angabe von Gründen ein Jahr später eingeschult werden. Zum Schuljahr 2014/2015 soll die Umstellung abgeschlossen sein. Durch das frühere Einschulungsalter wird die Zeit, in der die Kinder nach heutigem Erkenntnisstand besonders lern- und aufnahmebereit sind, effektiver genutzt. Grundsätzlich kann die Grundschule frei gewählt werden. Allerdings haben Kinder Vorrang, die in der Nähe der Grundschule wohnen. Wenn es dann noch freie Plätze gibt, können auch Kinder, aus anderen Stadtteilen zum Zuge kommen. Die Grundschulbezirke werden deshalb 2008 aufgehoben. Auch die Berufsbildenden Schulen können künftig frei gewählt werden.

Grundschüler sollen ab dem nächsten Schuljahr schon mit dem Versetzungszeugnis in die dritte Klasse in Zahlen ausgedrückte Noten erhalten. Vom Schuljahr 2007/2008 an sollen Schulen das Arbeits- und Sozialverhalten der Schüler auf den Zeugnissen dokumentieren. Dafür sind die Notenstufen sehr gut, gut, befriedigend, und unbefriedigend vorgesehen. Außerdem sind ergänzende Beschreibungen möglich. Das "Sitzenbleiben" wird nicht abgeschafft. Allerdings ist im Schulgesetz festgelegt, dass die Versetzung der Regelfall ist. Die Schulen müssen Konzepte und Förderangebote entwickeln, damit dieses Ziel erreicht wird.

Empfehlungen der Lehrer über den Wechsel an die weiterführenden Schulen werden aufgewertet. Sie benennen vom nächsten Schuljahr an eine Schulform, für die das Kind "geeignet" ist und eventuell auch eine zweite "mit Einschränkungen". Wollen die Eltern ihr Kind auf eine Schule schicken, für die es keine Empfehlung hat, wird ein dreitägiger Prognoseunterricht angesetzt. Halten alle Prüfer das Kind für ungeeignet, verweigert das Schulamt die Aufnahme in die gewünschte Schule. Bevor es zu diesem äußersten Mittel kommt, sind Vermittlungsgespräche vorgesehen, damit Eltern und Lehrer zu einem gemeinsamen Entschluss kommen. Generell gilt das Prinzip der Durchlässigkeit. Vor allem leistungsstarke Haupt- und Realschüler sollen nach jedem Halbjahr die Möglichkeit für einen Aufstieg in die Realschule oder ins Gymnasium erhalten. Nach jedem Schulhalbjahr in den Klassen fünf und sechs entscheidet die Klassenkonferenz, ob Eltern ein Aufstieg ihrer Kinder in eine höhere Schule empfohlen werden soll. Später geschieht das bei jeder Versetzung. Die Schulleitung bekommt mehr Autorität. Sie kann künftig Kinder leichter vom Unterricht ausschließen oder in eine Parallelklasse schicken. Vom 14. Lebensjahr an können Schüler für Dauerschwänzen mit einem Bußgeld belegt werden.

An den Gymnasien wird die Sekundarstufe I um ein Jahr auf fünf Jahre verkürzt. In der Oberstufe bleibt es bei drei Jahren, so dass das Abitur nach 12 Jahren abgelegt werden kann. Künftig werden Mathematik, Deutsch sowie eine Fremdsprache und ein Neigungsfach zum schriftlichen Prüfungsfach.

An den Gesamtschulen bleibt es beim Abitur nach 13 Jahren. Die Abiturienten müssen im nächsten Frühjahr erstmals landesweit einheitlich Klausuren schreiben. Alle Schulen müssen sich künftig regelmäßig einer Überprüfung durch unabhängige Experten unterziehen. Über die daraus resultierenden Verbesserungsvorschläge schließen Schule und Schulaufsicht Zielvereinbarungen.

Schließlich werden Schulen schrittweise zu "Eigenverantwortlichen Schulen". In Absprache mit dem Schulträger und der Schulaufsicht können Schulen selbst über Stellenbewirtschaftung, Personalverwaltung, Einsatz von Sachmitteln oder Unterrichtsorganisation entscheiden. Schulleiter werden künftig von der Schulkonferenz auf Zeit gewählt. Der Schulkonferenz gehört auch ein stimmberechtigtes Mitglied des Schulträgers an. Nach fünf Jahren muss sich der Schulleiter zur Wiederwahl stellen. Erst nach der zweiten Wiederwahl ist er auf Lebenszeit gewählt. Die Schulleiter sind dann auch Dienstvorgesetzte der Lehrer und haben damit erweiterte personalrechtliche Befugnisse. Sie dürfen zum Beispiel Lehrer während der Probezeit entlassen und Mehrarbeit anordnen. Auch die dienstliche Beurteilung der Lehrer wird auf die Schulleitungen übertragen. Bei Nicht-Wiederwahl fallen die Schulleiter automatisch zurück in das unbefristete Beamtenverhältnis.

Wohl wissend, dass diese massiven Reformen von vielen Lehrern zunächst eher misstrauisch betrachtet werden, weil tief in den bisherigen Schullalltag eingeschnitten wird, entschloss sich Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) zu einer ungewöhnlichen "Charme-Offensive". Unmittelbar nach Verabschiedung des neuen Schulgesetzes schrieb er zusammen mit seiner Schulministerin in einer bislang beispiellosen Briefaktion alle 186.040 Lehrer im Land an und warb um ihr Vertrauen. Gleichzeitig geht es dem Regierungschef aber auch darum, die Lehrerinnen und Lehrer für das Reformprojekt zu gewinnen. "Wir wenden uns persönlich an Sie, um Sie um ihre Unterstützung für dieses umfassende Reformvorhaben zu bitten", schreiben Rüttgers und Sommer. Sie versichern, Eltern, Schüler und Lehrer würden von dem neuen Gesetz profitieren.

Nach einer Emnid-Umfrage findet das neue nordrhein-westfälische Schulgesetz bei den Eltern breite Unterstützung. Danach sprachen sich 78 Prozent für "Kopfnoten" auf dem Zeugnis aus. Zentrale Prüfungen unterstützen 80 Prozent, verbindliche Deutsch-Tests vor der Einschulung 75 Prozent. 91 Prozent der Eltern begrüßen die Absicht, die Zahl der Sitzenbleiber durch individuelle Förderung zu senken.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.