Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 27 / 03.07.2006
Birgit Johannsmeier

"Alles spricht nur noch von einem Atomkraftwerk"

Das Baltikum strebt eine von Russland unabhängige Energieversorgung an
Schon von weitem ist das Ölschieferkraftwerk von Narwa zu sehen. Seine rotweiß-gestreiften Schornsteine erheben sich wie ein Wahrzeichen über der Kleinstadt, die im Nordosten Estlands liegt. Die beiden äußeren Schlote haben erst kürzlich einen frischen Anstrich erhalten. Arvo Tordik ist darauf genauso stolz, wie auf den neuen Kontrollraum, der im Inneren des Kraftwerks liegt.

Mehr als drei Jahre hat der Umweltexperte daran gearbeitet, die Stromproduktion in den Blöcken 8 und 11 auf Europäischen Standard zu bringen. "Hier wird alles per Computer gesteuert", erklärt Arvo Tordik. "Und wir haben den Ausstoß von Schwefeldioxid massiv reduziert. Mit den alten Brennöfen geht immer noch das Hundertfache in die Luft." Allerdings hat diese Modernisierung den staatlichen Energieversorger gut 250 Millionen Euro gekostet, für jede weitere fehlt Eesti Energie das Geld. Darum ist Tordik besorgt: "Irgendetwas muss auf dem estnischen Energiemarkt passieren, sonst wissen wir ab 2016 nicht mehr, woher wir unseren Strom nehmen sollen."

In den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union konnte Estland eine Übergangsperiode für die Stromgewinnung aus dem schmutzigen Ölschiefer erstreiten. Der Brennstoff wird vor Ort gewonnen und deckt zurzeit noch nahezu den gesamten Strombedarf. Schon im Sozialismus wurden zahlreiche Kraftwerke mit langen Schloten in der Region rund um Narwa, nahe der russischen Grenze aufgestellt. Aber Estland hat sich verpflichtet, dass nach dem 31. Dezember 2015 kein giftiges Schwefedioxid mehr ausgestoßen wird. Deshalb sucht man beim staatlichen Stromversorger Eesti Energie fieberhaft nach neuen Lösungen.

Große Hoffnungen hatten die Experten bis vor kurzem in den Bau eines umweltfreundlicheren Gaskraftwerkes gesteckt. Dafür allerdings müsse man die Gas-importe drastisch erhöhen, erklärt Tönis Meriste, der die Entwicklungen betreut. Die Erfahrungen des letzten Winters hätten aber gelehrt, dass sogar die Teilnahme an der russisch-deutschen Pipeline keine Lösung für Estland sei. "Das Gas käme immer von der falschen Seite, aus Russland", erklärt Tönis Meriste. "Und Russland wird seine Geschäfte stets mit Politik vermischen. Man kann sich auf Moskau nicht verlassen." Ganz Europa habe im letzten Winter den Druck auf die Ukraine und andere Staaten verfolgen können. Für Estland selbst gab es keine Lieferprobleme, auch der mit Russland ausgehandelte Gaspreis blieb niedrig, aber es gibt keine Garantie. Denn Moskau bietet dem estnischen Energieversorger keine Langzeitverträge an, sondern wartet zweimal im Jahr mit Preissteigerungen auf. Außerdem wolle Russland neuerdings sogar im europäischen Energiemarkt eine Schlüsselposition einnehmen, erinnert Meriste. "Die Russen wollen Einfluss nehmen. Das hat Präsident Putin deutlich zu verstehen gegeben. Deshalb wurde unsere Euphorie für das Gas abrupt gestoppt."

Die zukünftige Stromversorgung plagt auch die baltischen Nachbarn. Weil der litauische Atommeiler Ignalina baugleich mit dem Unglücksreaktor von Tschernobyl ist, muss er bis 2009 abgeschaltet werden. Lettland verfügt nur über Wasserkraft und ist abhängig von Stromlieferungen aus Estland und Litauen. Die Lösung könnte jetzt ein gemeinsames Atomkraftwerk für das Baltikum sein. Es soll in Litauen, ganz in der Nähe von Ignalina errichtet werden. Bis zum Jahres-ende wollen die Ministerpräsidenten der drei baltischen Länder entscheiden, wie diese zukünftige Stromquelle finanziert werden kann.

Einari Kisel ist Staatssekretär im Estnischen Wirtschaftsministerium. Er hat soeben eine neue Energiestrategie für Estland entworfen und hofft, dass mit dem neuen Atommeiler sogar ein baltischer Energiemarkt entstehen wird. Höchste Priorität habe die Selbstversorgung bis zum Jahr 2015. Estland wolle bis dahin nicht mehr abhängig von Russland sein. Eine schwierige Aufgabe, weil Estland, Lettland und Litauen bis heute noch Teil des russischen Stromnetzwerkes aus den 70er-Jahren sind. Über einen Ring sind die baltischen Länder mit Moskau, St. Petersburg, Weißrussland und der Ukraine verbunden. Die russische Exklave Kaliningrad wird über diese Verbindung mit russischem Strom versorgt, der im Transit durch die baltischen Länder von Moskau nach Königsberg geliefert wird.

"Wir möchten auch gerne mit westlichen Netzen verbunden sein", meint Staatssekretär Kisel, "das wäre eine Garantie unserer Sicherheit. Aber leider sind Estland, Lettland und Litauen völlig isoliert." Trotzdem arbeiten die drei Länder seit Anfang der 90er-Jahre eng im Energiebereich zusammen und können einander mit Strom beliefern. "Und wir haben eine gemeinsame Geschichte, wir waren alle von der Sowjetmacht besetzt und können uns aufeinander verlassen. Das schweißt uns auch für einen gemeinsamen Energiemarkt zusammen."

Knapp 300 Kilometer von Tallinn entfernt wird in der lettischen Haupstadt Riga das Netzwerk der baltischen Stromkreisläufe gesteuert und kontrolliert. Eine Schaltzentrale, die zu gleichen Teilen Estland, Lettland und Litauen gehört. Je nach Bedarf, wird von hieraus per Computer Strom von den Nachbarn in das lettische Netz gespeist. Mehr als 40 Prozent seiner Energie muss Lettland importieren, erklärt Aivars Kesko, der beim staatlichen Energieversorger Latvenergo für die Stromproduktion verantwortlich ist. Am meisten liefert das große Wasserkraftwerk am Fluss Daugava, ein kleiner Teil wird mit Gas in einem Heizkraftwerk produziert. "Aber was passiert, wenn Litauen und Estland uns nicht mehr beliefern können?", fragt Kesko. "Wir sind dann abhängig vom Gas. Wir haben keine Kohle, kein Öl." Aber alle wollten billigen Strom und Atomkraft sei nun mal am billigsten. "Wir denken auch an Wind oder neue Wasserkraftwerke", fügt Kesko hinzu, "aber das ist teuer. Außerdem können die erneuerbaren Energien den Bedarf unmöglich decken."

Dabei hat Lettland direkt nach seiner Unabhängigkeit 1991 gerade auf den Ausbau der erneuerbaren Energien gesetzt. Das Land ist von vielen kleinen Wasseradern durchzogen. Deshalb regte die lettische Regierung den Ausbau der Wasserkraftwerke an und bot für jede Kilowattstunde den doppelten Tarif. Mittlerweile sind 149 Kraftwerke in Betrieb, die zwei Prozent des lettischen Strombedarfs decken. Nicht genug, meint der Umweltexperte Valdis Bisters. Die Wasserkraft sei völlig überschätzt worden, weil man scharfe Umweltauflagen nicht bedacht hatte. Valdis Bisters entwirft im lettischen Umweltministerium Strategien für eine rentable Energiepolitik. Das größte Potenzial sieht er in der Bioenergie. Lettland fehlen 400 Megawatt im Jahr, allein 100 Megawatt könnte die Biomasse liefern. Aber das Thema komme bei der Regierung nicht auf den Tisch. "Alle sprechen jetzt nur von der Atomkraft", klagt Bisters. "Wird der neue Meiler Realität, dann bleibt kein Geld mehr, um die erneuerbaren Energien weiter auszubauen."

Auch das lettische Wirtschaftsministerium setzt auf den Ausbau nuklearer Energie. Staatssekretär Ugis Sarma hofft, dass die baltischen Länder mit einem großen Reaktor in Zukunft Überkapazitäten produzieren und an die skandinavischen Nachbarn verkaufen können. Immerhin wird bereits im Herbst ein Kabel zwischen Estland und Finnland verlegt, das zum ersten Mal das isolierte Stromnetz im Baltikum mit dem Westen verbinden wird. Vielleicht könne der neue Atommeiler sogar zu einer Renaissance der Atomkraft in Europa führen, meint Ugis Sarma. Schweden und Deutschland wollten ja ihre Atomkraftwerke schließen, "aber es gibt auch andere Beispiele wie in Finnland, die jetzt einen neuen Meiler bauen", sagt er. "Und vielleicht können wir das zweite wegweisende Beispiel sein."

Die Richtung sollte vor 23 Jahren auch mit dem Atommeiler Ignalina vorgeben werden: Damals stellte Moskau in der Sowjetrepublik Litauen seine beiden größten Atomreaktoren auf. Ignalina liegt vier Autostunden von Riga entfernt, ganz im Osten des Baltikums, im Grenzdreieck zwischen Lettland, Litauen und Weißrussland. Ursprünglich waren auf dem Gelände vier Reaktoren geplant, doch nach dem Unfall in Tschernobyl wurden die Bauarbeiten eingestellt. Und seit sich die litauische Regierung in Brüssel verpflichtet hat, den Meiler bis 2009 abzustellen, sei Ignalina genau der richtige Ort, um das erste gemeinsame Atomkraftwerk im Baltikum zu errichten, meint Direktor Viktor Shewaldin, der von Anfang an Ignalina geleitet hat. Ein halbes Jahr lang habe das deutsch-französische Konsortium Arewa rund um den alten Reaktor geologische Untersuchungen vorgenommen und der Regierung geraten, dort ein neues Atomkraftwerk zu bauen. "Wir haben eine perfekte Infrastruktur", behauptet Shewaldin. "Stromleitungen, Facharbeiter und eine Stadt, in der man wohnen kann."

Zeitgleich mit Ignalina wurde die Kleinstadt Visaginas quasi aus dem Boden gestampft. Wie auf dem Schachbrett wurden Straßen und Plattenbauten zwischen Birken- und Kiefernwäldchen gesetzt. Die hochdotierten Löhne im Atomkraftwerk lockten Tausende aus der ehemaligen Sowjetunion mit ihren Familien nach Visaginas. Deshalb zahlt Brüssel für die Stilllegung des Meilers jetzt Zuschüsse in Milliardenhöhe. Mit dem Geld sollen auch neue Wirtschaftsbranchen entstehen. Und damit neue Arbeitsplätze für all jene, die ihren Job verlieren werden, wenn Ignalina vom Netz geht. Der Bau eines neuen Kraftwerks käme da vielen ganz gelegen.

Das weiß auch Jurgis Vilemas. Wenn er über das Thema Ignalina spricht, kommt er leicht in Rage. Jurgis Vilemas ist Wissenschaftler und leitet das litauische Energieinstitut. Jahrelang hat er sich dafür stark gemacht, den alten sowjetischen Atommeiler aus wirtschaftlichen Gründen nicht so schnell vom Netz zu nehmen, aber von einem neuen Kraftwerk will er nichts wissen. Hoch gehandelt wird bei den Partnern aus Estland, Lettland und Litauen zurzeit ein neuartiger Druckwasserreaktor, der soeben für drei Milliarden Euro in Finnland errichtet wird. Entwickelt wurde dieser größte Meiler der Welt von Arewa, an der die deutsche Siemens-AG und die französische Framatome beteiligt sind. Es könne überhaupt nicht die Rede von einer gefährdeten Stromversorgung im Baltikum sein, meint Jurgis Vilemas. Auch nach der Stilllegung von Ignalina in drei Jahren nicht. Dann werde in Litauen ein modernisiertes Kraftwerk ans Netz gehen, das mit einem Gemisch aus Schweröl und Wasser befeuert wird und Strom für alle drei baltischen Länder liefern kann. Jurgis Vilemas sieht vielmehr die starke Lobby der Firma Arewa am Werk, die bei Politikern und Stromproduzenten im Baltikum für ihren neuen Reaktor geworben hat. "Plötzlich sprechen alle von einem gemeinsamen baltischen Energiemarkt", kritisiert Jurgis Vilemas. Arewa habe niegrigste Kilowattstunden versprochen, was jeder nach dem rasanten Preisanstieg für Gas und Öl gerne hört. Was aber sei, wenn die Preise wieder fallen? "Arewa will nur den finnischen Reaktor bei uns nachbauen", behauptet Jurgis Vilemas, "aber für uns ist er viel zu groß und ein finanzielles Riskio."

Die Idee eines neuen Atommeilers für das Baltikum wird auch in der Öffentlichkeit heiß debattiert. Doch trotz mancher Kritik an der gefährlichen Stromerzeugung durch Kernspaltung zeigen sich die Menschen

in Litauen, Lettland und Estland aufgeschlossen. "Am Anfang unserer Unabhängigkeit haben wir in Litauen gegen die Atomkraft gekämpft, weil es sowjetische Technik vom Typ Tschernobyl war", meint eine Litauerin, "aber heute denke ich, dass die drei baltischen Länder ohne das Atomkraftwerk nicht überleben werden." "Wir wollen in Lettland unabhängig von Russland sein", sagt ein Lette. "Sie bauen diese Gasleitung mit Deutschland einfach ohne uns. Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie." "Die Idee gefällt mir", findet auch ein Este. "Es ist immer gut, etwas Eigenes zu haben. Mir wäre es allerdings lieber, wenn das Kraftwerk bei uns in Estland, in Narwa ist."

In Narwa, ganz in der Nähe der großen Stromkraftwerke wird auch der Ölschiefer gewonnen. Eine harte Arbeit über und unter Tage, die schon seit Generationen die gesamte Region ernährt. Riesige Lehmwüsten und brachliegende Abräumhalden haben die Landschaft völlig zerstört, aber langsam wird hier und da aufgeforstet und rekultiviert. Schädlich ist nicht nur das Schwefeldioxid, das beim Verbrennen des Ölschiefers in die Luft geblasen wird. Giftig sind auch die Rückstände in der Asche, die allmählich ins Grundwasser sickern. Trotzdem sorge die Idee eines gemeinsamen Atomkraftwerkes seine Grubenarbeiter, erzählt Abteilungsleiter Dmitrij Jokotutsenko. Er hat den Job noch von seinem Großvater übernommen und sieht in den europäischen Umweltauflagen Estlands größte Barrieren. "Ich habe den Eindruck, dass Brüssel es nicht mag, wenn sich ein kleines Land selbst mit Energie versorgen kann. Aber hoffen wir, dass Estland unsere Ölschieferminen trotzdem nicht schließen wird."

Ende des Jahres wird die Machbarkeitsstudie zeigen, ob es tatsächlich einen gemeinsamen Atommeiler im Baltikum geben wird. Aber die Zeichen sind günstig, da soeben sogar Polen Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Balten gezeigt hat. Vielleicht wird dann neben der neuen Stromverbindung nach Finnland eine Vernetzung mit Zentraleuropa folgen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.