Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 24.07.2006
Carsten Klenke

Ein gewaltiges Krisenpotenzial

Militärische Aspekte des Taiwan-Konflikts
Einer der sicherheitspolitisch heißen Krisenherde auf der Welt ist gegenwärtig zweifellos die Straße von Taiwan. Ende der 80er-Jahre wurde in der Volksrepublik China von zwei wissenschaftlichen Instituten jeweils eine Version von "Comprehensive National Power" (CNP - umfassende relative Macht) entwickelt.

Beide Entwürfe haben gemeinsam, dass in einem umfangreichen und komplizierten Bewertungs- und Berechnungsschlüssel die relative Position der Volksrepublik China im Konzert der Mächte ermittelt wird. Ziel der Staatsführung war dabei, nicht nur festzustellen, wo China im Vergleich mit anderen Staaten stand, sondern auch, in einer ganzheitlichen Betrachtung die Wechselwirkungen aller Politikfelder zu bewerten, Synergien zu erkennen und zu nutzen, um gegenseitige Behinderungen oder Blockierungen identifizieren und beseitigen zu können.

Bei der Bewertung der Staatsziele stand auch schon vor der Definition des Konzeptes von CNP die Komplettierung des chinesischen Staatsgebietes weit oben auf der Liste. Die Wiedervereinigung mit Taiwan, Hongkong und Macao sowie die Integration der umstrittenen Inseln des Spratly-Archipels im südchinesischen Meer wurden nunmehr in die Wertungskategorien von CNP aufgenommen und dadurch mit den unterschiedlichsten Politikfeldern verknüpft, um so das Ziel zu erreichen. Daher ist es nachzuvollziehen, dass die chinesische Führung nach der Wiedervereinigung mit Hongkong und Macao mit voller Überzeugung betont, die Wiedervereinigung mit Taiwan werde mit allen verfügbaren Mitteln des Staates betrieben. Dem Konzept von CNP entsprechend schließt das militärische Mittel natürlich nicht aus.

Zur gleichen Zeit, als die Gesamtstrategie der CNP Gestalt annahm, machte sich die militärische Führung Chinas ebenfalls Gedanken über eine neue Verteidigungsdoktrin. Hatte der Schwerpunkt bis dahin auf dem "Volkskrieg" des Massenheeres im Guerillakrieg gelegen, so wurde nun der Schwerpunkt zur Marine und zur Luftwaffe verlagert. Das Heer sollte technologisch aufgewertet werden. Ziel war, das Staatsgebiet außerhalb der Staatsgrenzen oder zumindest grenznah zu verteidigen. Darüber hinaus sollte diese Neuausrichtung der Streitkräfte es möglich machen, die Gebietsansprüche gegebenenfalls auch mit militärischen Mitteln durchsetzen zu können.

Betrachtet man nun die Positionierung der Volksrepublik China gegenüber Taiwan, so wird deutlich, dass die CNP-Strategie angewendet wird. Neben dem diplomatisch-politischen Instrumentarium - außenpolitisch soll Taiwan möglichst isoliert werden - versucht Peking, auf Taiwans Innenpolitik durch Partei-zu-Partei-Gespräche Einfluss zu nehmen. Der starken wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtung der beiden Volkswirtschaften stehen dafür nicht zuletzt auch zunehmend militärische Mittel zur Verfügung. Dazu gehört vor allem die Stationierung von rund 700 Mittel- und Kurzstreckenraketen an der Taiwanstraße als Drohmittel und für eine eventuelle Blockade der Handelswege Taiwans. Ferner soll die Modernisierung ihrer Marine und Luftwaffe die Volksrepublik mittelfris-tig in die Lage versetzen, einen Angriff auf Taiwan als erfolgversprechend einzuschätzen. Das Anti-Abspaltungs-Gesetz aus dem Jahr 2005 verdeutlicht diesen breiten Ansatz. Es können damit alle nur möglichen Mittel des Staates, inklusive militärischer, genutzt werden, eine Unabhängigkeit Taiwans zu verhindern.

Die Taiwan-Frage hat mittlerweile aber auch eine innenpolitische Qualität besonderer Ausprägung erhalten. Seit Einführung der Wirtschaftsreformen und der Öffnungspolitik kann eine zunehmende Erosion der Legitimität der kommunistischen Partei Chinas festgestellt werden. Die Partei- und Staatsführung bedient sich zunehmend des wachsenden Nationalismus, um diesen Legitimationsverlust zu kompensieren. Besonders das Streben nach Rückgewinnung Taiwans ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Es besteht die Gefahr, dass die Pekinger Führung Opfer ihrer eigenen nationalistischen Rhetorik wird, um selbst nicht unterzugehen.

Seit der Flucht der nationalen Volkspartei Kuomintang (KMT) und ihrer Truppen vom chinesischen Festland am Ende des Bürgerkrieges 1949 und der Errichtung der Republik China auf Taiwan, erhob die autokratische Staatsführung unter Tschiang Kai-sheck den Alleinvertretungsanspruch auf ganz China. Präsident Lee Teng-hui (KMT) war es dann, der in der ersten Hälfte der 90er-Jahre die politische und wirtschaftliche Entwicklung Taiwans seit 1949 dahingehend interpretierte, für mehr politische und kulturelle Eigenständigkeit einzutreten. Implizit förderte er damit die Eigenstaatlichkeit der Insel.

Diese Entwicklung ließ in Peking die Alarmglocken schrillen - eine "Abspaltung" Taiwans musste auf jeden Fall verhindert werden. So veranstaltete Peking während des Wahlkampfes zur ersten direkten Wahl des Präsidenten in der Geschichte Taiwans 1996 massive "Manöver" seiner Raketenkräfte. Sie feuerten Mittelstreckenraketen in die Seegebiete vor wichtigen Häfen Taiwans. Diese Situation konnte erst durch die Entsendung zweier Trägerkampfgruppen der USA in die Taiwan-Straße entschärft werden. Die USA hatten 1971 zwar diplomatische Beziehungen mit der Volksrepublik aufgenommen und das "Ein-China-Prinzip" anerkannt. Sie haben sich aber 1979 mit dem "Taiwan Relations Act" gesetzlich verpflichtet, Taiwan bei seiner Verteidigung zu helfen. Die USA betreiben eine Politik der "Strategic Ambiguity" - strategische Unbestimmtheit -, die auf die Erhaltung des Status quo abzielt: keine gewaltsame Wiedervereinigung durch die Volksrepublik und keine Unabhängigkeitserklärung Taiwans.

Das Krisenpotenzial der Taiwan-Frage liegt hauptsächlich in innerpolitischen Gründen. In der Volksrepublik ist die Wiedervereinigung gesetzlich festgeschriebenes Staatsziel und politisches Machtlegitimationsmittel der Partei- und Staatsführung zugleich. Die damit verbundene Rhetorik der Führung lässt ihr wenig Spielraum im Falle einer Unabhängigkeitserklärung Taiwans, die Vereinigung zu erzwingen oder politisch unterzugehen. Auf der anderen Seite der Taiwanstraße definiert sich die DPP (Democratic Progressiv Party) über die mittel- bis langfristige Eigenstaatlichkeit Taiwans im Zuge eines demokratischen Selbstbestimmungsprozesses. Ob sich andererseits die KMT-Opposition langfristig über die Wiedervereinigung und mittelfristig über die Erhaltung des Status quo politisch glaubhaft positionieren kann, wird vielleicht der nächste Wahlkampf 2008 um das Präsidentenamt zeigen.

Drei Szenarien scheinen möglich zu sein:

Erstens: China entwickelt sich langfristig unter Beibehaltung des Status quo zu einer Demokratie, einhergehend mit der Gründung eines föderalen Staates unter freiwilliger Eingliederung Taiwans. Zugegeben, das positivste und unwahrscheinlichste Szenario.

Zweitens: Das "chinesische Experiment" der kommunistischen Ein-Parteien-Diktatur mit kapitalistischer Wirtschaft scheitert. Wirtschaftliche Ungleichgewichte, mangelnde politische Partizipation weiter Bevölkerungsschichten lassen China auseinanderbrechen und im Chaos versinken. Eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans wäre somit sicher der "kleinste Schaden".

Drittens: Das "chinesische Experiment" scheitert und Taiwan nutzt die "Gunst der Stunde", sich unabhängig zu erklären. Die Pekinger Partei- und Staatsführung sieht als einzige Möglichkeit zur Stabilisierung der inneren Situation und zum Machterhalt die Mobilisierung des Nationalismus durch gewaltsame Vereinigung. Ein Eingreifen der USA zugunsten Taiwans könnte nicht ausgeschlossen werden. Eine Beteiligung Japans und Australiens als Verbündete der USA wäre wahrscheinlich. Ein Nordostasien - wenn nicht Pazifikkrieg - wäre die mögliche Folge.

Der Autor ist Dezernent für Internationale Kooperation im Streitkräfteamt, Berlin.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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