Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 24.07.2006
Friedrich Löhr

Kostgänger und Sorgenkind auf dem Weg zum Kernwaffenstaat

Nordkorea im Widerstreit zwischen Öffnung und Sicherheitsdenken

Nordkorea, offiziell "Demokratische Volksrepublik Korea" (DVRK) genannt, sieht sich als kleines Land, aus Kriegsereignissen hervorgegangen und umgeben von mächtigen Nachbarn, die seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit latent bedrohen. Seine Regierung hat daher frühzeitig den Weg der konsequenten Unabhängigkeit und eigenständigen Entwicklung eingeschlagen. Auf den ersten Blick erscheint die DVRK, ganz anders als China, daher auch nach 60 Jahren noch immer als hermetisch gegen die Außenwelt abgeschottetes Land.

In den vergangenen Jahren, vor allem seit 2002, sind freilich ansatzweise Öffnungstendenzen auszumachen. Sie sind überwiegend mit der Nähe zu China und Südkorea verknüpft, waren aber auch Begleiterscheinung der umfangreichen Humanitären Hilfe, die dem Land und seiner Not leidenden Bevölkerung von Unterorganisationen der UNO, allen voran dem World Food Programme (WFP), und zahlreichen Nichtregierungsorganisationen geleistet wurde.

Not macht erfinderisch, Devisenknappheit ebenfalls. Der nordkoreanischen Wirtschaft geht es noch immer schlecht, obwohl die zaghaften Wirtschaftsreformen seit 2002, große Anstrengungen der Bevölkerung und der Anstieg der Exporte nach China die Indikatoren leicht nach oben zeigen ließen. Die nordkoreanische Einheitspartei gestattete mehr Selbstverantwortung für die Betriebe, ja sogar mehr Freiraum für marktwirtschaftliches Denken im Kleinformat. Sie förderte damit zwar implizit die Tendenz zu weiterer Öffnung des Landes. Doch im Widerstreit zwischen Öffnung und Sicherheit, Wirtschaftsfreiheit und Regimesicherung kann eine wirtschaftliche Öffnung wegen wiederholter Kampagnen zur verstärkten Ideologisierung und Indoktrinierung der Bevölkerung ihr dynamisches Potenzial noch nicht vollständig entfalten. Aber die leicht positive Tendenz der wirtschaftlichen Entwicklung Nordkoreas hält an - politische Störfaktoren nicht ausgeschlossen.

Nordkorea ist von seiner ursprünglichen Struktur her ein Industrieland. In früheren Jahrzehnten war es in Grenzen ein Absatzmarkt auch für westliche Großanlagen, bis die Zahlungseinstellungen des Landes auch seine Fähigkeit zum Erwerb von Investitionsgütern stark einschränkten. Seine landwirtschaftliche Nutzfläche beträgt nur etwa 18 Prozent. Jeder Quadratmeter urbaren Bodens wird genutzt. Es fehlt aber an Düngemitteln und fossiler Energie in sechsstelliger Tonnagemenge.

Nach dem Zusammenbrechen des so genannten "Agreed framework" mit den USA 2002 und dem Ausbleiben der US-Erdöllieferungen war Nordkorea in zunehmendem Maße auf chinesische Unterstützung angewiesen. Als bewährter Verbündeter aus der Zeit des Koreakriegs und ideologisch Verwandter sprang das Riesenreich ein. In traditioneller Freundschaft, aber gewiss auch aus strategischen Überlegungen der Begrenzung des amerikanischen Einflusses auf der koreanischen Halbinsel, der Vorbeugung eines möglichen Zusammenbruchs des Regimes und der Erhaltung von Stabilität an der Grenze zum "Rostgürtel" des armen Nordostchinas stützt es seinen nicht immer einfachen Partner mit massiver Wirtschaftshilfe, vor allem bei der Nahrungsmittel- und Energieversorgung. Allerdings wird - entsprechend dem Wunsch Pjöngjangs - der Reis nicht mehr geschenkt. Sein Handel mit Nordkorea ist in den vergangenen Jahren fast exponentiell auf weit mehr als einer Milliarde US-Dollar angestiegen. Dabei machten Konsumgüter den Löwenanteil der kommerziellen nordkoreanischen Importe aus China aus, während China umgekehrt vorwiegend Rohstoffe (Kohle, Eisenerz) importiert.

Zu den Reis- und Erdöllieferungen Chinas treten massive Investitionen, teils auf konzessionärer Basis. Deren Paradebeispiele sind die Glasscheibenfabrik bei Pjöngjang (24 Millionen US-Dollar) und eine Fahrradfabrik, aber auch potenziell lukrative Großinvestitionen im Bergbau. Im Windschatten dieser Wirtschaftshilfe haben geschäftstüchtige chinesische Kaufleute das Land als Markt entdeckt - teils zum aktuellen Absatz von Konsumgütern, teils aber auch, um einen Fuß in der Tür zu haben, wenn die Grenztore der DVRK sich einmal weiter öffnen. Andererseits wurde jüngst die Visafreiheit für Chinesen aufgehoben; die Zahl der chinesischen Geschäftleute in Pjöngjang hat abgenommen.

Insgesamt scheint China bei aller unverbrüchlichen Freundschaft seinen Wirtschaftsaustausch mit Nordkorea stärker auf eine normale geschäftliche Basis stellen und von geschenkten Leistungen wegkommen zu wollen. Nordkorea wiederum macht sich die Erkenntnisse aus verschiedenen hochkarätigen, auch von deutschen politischen Stiftungen durchgeführten Seminaren zu eigen und fordert die Umsteuerung von Humanitärer Hilfe hin zur klassischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und zu "capacity building", deren Aufnahme durch den Westen derzeit vor allem durch die ungelöste Nuklearfrage und durch Menschenrechtsprobleme verhindert wird.

Pjöngjang hat die offizielle Beendigung der Humanitären Hilfe zum Jahresende 2005 durchgesetzt. China liefert weiterhin Nahrungsmittel - wie der brüderliche Nachbar Südkorea weitgehend auflagenfrei und vor allem ohne dass der Verbleib der Hilfsgüter im Einzelnen vor Ort überwacht würde. Das so genannte Monitoring ist aber ein unerschütterlicher Grundsatz internationaler Nahrungsmittelhilfe; die Reduzierung der Ausländerzahl in der DVRK hat die Zahl der "Assistenzbesuche" und damit die Hilfsgütermenge gerade beim WFP drastisch reduziert. Wo vorher Nichtregierungsorganisationen wie die Deutsche Welthungerhilfe erfolgreich wirkten, arbeitet ihr Personal jetzt unter dem Namen der EU. Der Schwerpunkt des EU-Engagements in der DVRK liegt nunmehr bei "entwicklungsorientierter Übergangshilfe" - die den Menschen unmittelbar zugute kommt, aber stärker an Nachhaltigkeit orientiert ist als schlichte Nahrungsmittel- und Medikamentenabgabe.

Wichtigstes außenpolitisches Ereignis des ersten Halbjahrs 2006 war für die DVRK die Reise des nordkoreanischen "Großen Führers" Kim Jong Il an den Dreischluchtendamm und in die Wachstumszentren Südchinas vom 10. bis 18. Januar. Der nordkoreanische Staatschef folgte dabei fast genau auf den Spuren von Deng Xiaopings "Südlicher Reise" von 1982. Protokollarisch als "inoffiziell" bezeichnet, wurde der Besuch von den nordkoreanischen Medien doch breitest dokumentiert, Kim mit seiner Anerkennung des chinesischen Reformsozialismus und seiner Bereitschaft, von diesem zu lernen, zitiert. Gleichzeitig betonte der "Große Führer" die Fortsetzung der Suche nach dem für die DVRK angemessenen und richtigen Weg zu weiterer Entwicklung und wirtschaftlichem Wachstum.

Unmittelbare praktische Konsequenzen des Besuchs wie etwa Wirtschaftsreformen sind bislang nicht zu verzeichnen. Manche Stimmen wollen diese für später nicht völlig ausschließen; Nordkoreas vielschichtiges politisches System neigt freilich auch dann nicht zu Entwicklungen im Zeitraffertempo.

Sicher ist bereits jetzt, dass der wirtschaftliche Entwicklungsstand Chinas und Südkoreas breiten Kreisen der Bevölkerung im Norden bekannt ist, was Nachahmungsakte nicht ausschließt, soweit diese den Bestand des Systems nicht gefährden. Der früher propagierte Wettbewerb der Systeme auf der koreanischen Halbinsel ist aus neueren nordkoreanischen Verlautbarungen verschwunden. Pjöngjang richtet sich anscheinend auf Koexistenz ein.

Seit Herbst 2002 befindet sich die DVRK nach eigener Erklärung auf dem Weg zum Kernwaffenstaat. Am 10. Februar. 2005 behauptete sie Kernwaffen zu besitzen. Um gleichwohl der Entnuklearisierung der koreanischen Halbinsel näher zu kommen, trafen sich auf chinesische Initiative ab Sommer 2003 außer dem Gastgeber und den beiden Koreas auch die USA, Russland und Japan zu insgesamt fünf Runden der so genannten Pekinger Sechs-Parteien-Gespräche. Deren Höhepunkt war die Verabschiedung einer Gemeinsamen Erklärung am 19. September 2005, die damals von den Teilnehmern als Durchbruch bezeichnet wurde. In dem Dokument verpflichtete sich Nordkorea zur Aufgabe seiner Atomwaffen- wie auch zivilen Nuklearprogramme. Es stellte die Rückkehr zum atomaren Nichtverbreitungsvertrag und die Erfüllung seiner Verpflichtungen gegenüber der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) in Aussicht, bekräftigte allerdings zugleich sein Recht auf zivile Nutzung der Kernenergie. Die Parteien vereinbarten, zu einem geeigneten Zeitpunkt Gespräche über die Lieferung von Leichtwasser-Reaktoren an die DVRK aufzunehmen. Die USA sagten zu, Nordkorea nicht anzugreifen sowie - gemeinsam mit Japan - ihre Beziehungen zur DVRK zu normalisieren. Vorgesehen waren schließlich künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit sowie Unterstützung der DVRK insbesondere auf dem Energiesektor.

Bereits einen Tag nach der Erklärung wurde der unverändert tiefe Graben zwischen den Regierungen Nordkoreas und der USA deutlich. Pjöngjang las die Erklärung so, dass die USA bereits vor Aufgabe der nordkoreanischen Nuklearprogramme einen Leichtwasserreaktor als vertrauensbildende Maßnahme liefern müssten.

Der anstehenden sechsten Runde der Verhandlungen steht seit geraumer Zeit die unbeirrte Vorbedingung Nordkoreas im Wege, Amerika möge zunächst seine finanziellen Sanktionen gegen das Land aufheben, die vor allem zu einer Blockierung von 24 Millionen US-Dollar bei der Banco Delta Asia in Macao geführt haben und den Zahlungsverkehr des Landes erheblich zu beeinträchtigen scheinen.

Auch China hat es bislang trotz intensiver diplomatischer Anstrengungen in den vergangenen Monaten nicht vermocht, diese Blockierung aufzubrechen. Das Riesenreich hat großes Eigeninteresse an der Erhaltung und Stärkung der Stabilität in der Region Ostasien und dürfte daher als wichtigster Handelspartner und Initiator der Sechs-Parteien-Gespräche seinen erheblichen Einfluss auf Nordkorea geltend machen, das Land in gesichtwahrender Weise an den Pekinger Verhandlungstisch zurückzuführen. Dort warten auf alle Parteien lange und schwierige Gespräche.

Der Autor ist Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK). Der Verfasser des Beitrags gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder, nicht die der Bundesregierung.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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