Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 24.07.2006
Günter Knabe

NATO vor der Haustür

Afghanistan - Ein schwieriger Nachbar
Nur etwa 80 km lang ist die chinesisch-afghanische Grenze im Pamir-Hochgebirge und diese ist lediglich in zwei bis drei Sommermonaten überhaupt passierbar. Die meiste Zeit sind die Pässe in rund 4.000 Metern Höhe zu tief verschneit. Und dennoch ist Afghanistan ein schwieriger Nachbar für das Reich der Mitte.

Nach dem Sieg der Kommunisten 1949 hatten die Chinesen sehr bald mit Afghanistan zu tun. Mao Zedong machte sich zum Wortführer der Dritten Welt und schickte seinen Ministerpräsidenten Tschu-en-lai zur Gründungsversammlung der Bewegung der Blockfreien 1955 im indonesischen Bandung. Daran nahm auch Mohammed Zaher, der damalige König von Afghanistan teil. Sein stets neutrales Land war bald Schaukasten der angeblich uneigennützigen Entwicklungshilfe, die im Ost-West-Konflikt als Instrument genutzt wurde, politische Gunst zu gewinnen. In Afghanistan wetteiferten seit Anfang der 60er-Jahre dabei fast alle Länder miteinander, die überhaupt Entwicklungshilfe leisteten: wie zum Beispiel die USA und die Sowjetunion genauso wie Deutschland, Indien, Schweden und Bulgarien. Auch China bot dem Nachbarland solche Hilfe an. Peking erhob den Anspruch, dass seine Projekte den afghanischen Massen direkt zugute kommen sollten. Chinesen bauten unter anderem eine Textilfabrik auf und versuchten, den Afghanen die Fischzucht beizubringen. Mit den Helfern aus Ost und West kamen auch politische Ideen ins Land und Afghanen, die im Ausland studierten, brachten neue Vorstellungen mit nach Hause.

Der Ruf nach politischen Neuerungen wurde in der Hauptstadt Kabul lauter. 1964 trat eine neue Verfassung in Kraft und das feudalistische Königreich Afghanistan wurde zumindest formal zur parlamentarisch-konstitutionellen Monarchie. In dieser Verfassung wurde Pressefreiheit zugesichert, Parteien und Gewerkschaften sollten erlaubt werden - entsprechende Gesetze wurden vom König aber nie unterschrieben.

Dennoch organisierten sich in den 60er-Jahren viele politische Bewegungen, von denen manche als "Quasi-Parteien" arbeiteten. Dazu gehörten Moskau-orientierte Kommunisten, Sozialdemokraten genauso wie Bürgerlich-Liberale und erzkonservative Muslime und Maoisten. Sie alle durften sich weder als Partei bezeichnen noch im Namen zu ihrem jeweiligen Programm bekennen. Das galt auch für die Maoisten. Die meisten dieser Bewegungen hatten Wochenzeitungen, die hauptsächlich in Kabul verbreitet wurden und eine Art Parteiorgane waren. Das Blatt der Maoisten nannte sich "Scholai-e dschawid" ("Ewige Flamme") und wurde nach ein paar Monaten verboten. Afghanistans Maoisten wurden - genau wie die extrem konservativen Muslime - von den Behörden besonders scharf überwacht und bedrängt. Offenbar galten beide als potenziell besonders "gefährlich". Die afghanischen Maoisten waren überwiegend Intellektuelle und Studenten, die Afghanistan zwar radikal verändern wollten, dabei aber von den realen Bedingungen in der zutiefst muslimisch geprägten Stammesgesellschaft ihres Landes ausgehen wollten. Ob und wenn, in welchem Umfang die Maoisten am Hindukusch von Peking unterstützt wurden, war schwer auszumachen. Eine starke politische Kraft waren sie jedenfalls nicht. Und ihre ideologischen Vorbilder in China verbrauchten ihre Energien ab 1967 vor allem in ihrer "Kulturrevolution". Noch ehe die nach neun Jahren zu Ende war, wurde am 17. Juli 1973 der afghanische König von seinem Vetter Mohammed Daud gestürzt, der sich dabei auf sowjetisch ausgebildete Offiziere stützte.

Der Putsch war das Ende aller offenen Aktivitäten der politischen Bewegungen - auch der konservativ-muslimischen und der Maoisten. Die Kommunisten allerdings agierten - mit Moskaus Unterstützung - verdeckt weiter und rissen schließlich in der so genannten "Saur-Revolution" am 27. April 1978 die Macht an sich. Das konnte China nicht gefallen. Die Kabuler Kommunisten aber "revolutionierten" krass an der Mehrheit der afghanischen Gesellschaft vorbei und provozierten mit ihren Versuchen aus Afghanistan einen Sowjetstaat zu machen, heftigen Widerstand.

Viele Maoisten flüchteten damals vor der Verfolgung durch Moskau treue Landsleute nach Deutschland. Einige von ihnen, die sich nach eigenen Aussagen längst vom Maoismus losgesagt haben und sich jetzt Demokraten nennen, sind jüngst nach Afghanistan zurückgekehrt und arbeiten in hohen Positionen.

Verhängnisvolle Unterstützung

Das Regime der afghanischen Kommunisten war jedenfalls schon kurz nach ihrer "April-Revolution" 1978 so gefährdet, dass Moskau es mit massiver militärischer Intervention zu retten versuchte. Weihnachten 1979 begann der Einmarsch und schon im Februar 1980 standen rund 100.000 Sowjetsoldaten am Hindukusch. Chinas Nachbar Afghanistan war plötzlich zusätzliches Aufmarschgebiet des russischen Rivalen geworden. Der afghanische Widerstand gegen die sowjetische Besetzung und die Kabuler Kommunisten wurde sehr bald von den USA und China und einigen arabischen Ländern unterstützt. Washington und Peking arbeiteten dabei zusammen. Mittelschwere Waffen, Raketenwerfer und Flugabwehrgeschütze chinesischer Bauart - teils mit US-Dollar gekauft - wurden über Pakistan oder mit Maultieren direkt aus China an die Mujaheddin geliefert. Nach mehr als neun Jahren musste die UdSSR sich militärisch aus Afghanistan zurückziehen. Am 14. Februar 1989 marschierte der letzte Sowjetsoldat ab. Ein Erfolg auch für Peking.

Die afghanischen Widerstandsbewegungen kämpften weiter - gegen die Kommunisten unter Najibullah. Sie wurden weiter unterstützt - auch von China. Im Frühjahr 1992 war auch dieser Kampf zu Ende. Die Kommunisten waren besiegt. Das Blutvergießen ging dennoch weiter. Die Chefs der verschiedenen Mujaheddin-Gruppierungen kämpften um die Macht, bis die radikal-islamischen Taliban als Schöpfung der CIA und des pakistanischen Geheimdienstes das Land nach 1994 innerhalb von zwei Jahren überraschend schnell unter ihre Gewalt bekamen. Mit ihrer brutal angewendeten reaktionären Auslegung des Islam stellten sie Ruhe her. Das Land war nahezu ein Protektorat Pakistans geworden, das so auch sicheren Zugang zu den Märkten in Zentralasien gewonnen hatte. Die Amerikaner konnten sich an die Verwirklichung ihrer Pläne machen, Erdgas aus den riesigen Vorkommen in Turkmenistan in einer Pipeline durch Afghanistan an die pakistanische Küste am Indischen Ozean zu leiten.

Welches große Risiko die Unterstützung der fundamentalistischen Mujaheddin, einschließlich Osama bin Ladens, im Kampf gegen die Sowjets und die Kommunisten in Afghanistan von Anfang barg, das spürten die Chinesen schneller als die Amerikaner. Muslime aus Xingjian im Westen der Volksrepublik sammelten Kampferfahrungen bei den Mujaheddin in Afghanistan und kehrten - als Gefahr - in die Heimat zurück. Peking versuchte, die Taliban dazu zu bringen, die Guerillakampf-Ausbildung von chinesischen Muslimen einzustellen. Vergeblich.

Die Amerikaner erkannten die Todesgefahr, die Al-Qaida-Organisation ausgeht, erst durch den Terrorangriff vom 11. September 2001. Im Kampf gegen den Terror sind sich Chinesen, Amerikaner und Russen zwar einig. Peking versteht darunter auch die Unterdrückung seiner Muslime in Xingjian und Putin ist das eine sehr genehme Begründung des Kriegs in Tschetschenien. Auch die weitgehende Vertreibung der Taliban und der Al-Qaida durch die US-Streitkräfte und ihrer Verbündeten in der Operation "Enduring Freedom" seit Herbst 2001 kann China nur recht sein - und erst recht ein noch ausstehender Sieg über bin Laden und die Taliban. Nur stehen deswegen jetzt Washingtons Soldaten und die NATO mit den ISAF-Truppen am Hindukusch auf lange Sicht an Chinas Grenze. Und Afghanistan bleibt ein schwieriger Nachbar für das Reich der Mitte.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.