Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 30 - 31 / 24.07.2006
Willi Germund

Armut und Vernachlässigung sind ideale Nährböden für Maos Ideen

Die Maoisten: in Nepal Teil der Macht - in Indien weit entfernt davon

Pushpa Kamal Dahal lebte schon im Untergrund, als es Nepals Maoisten noch gar nicht gab. Während der gelernte Agraringenieur im Politbüro von Nepals legaler "Kommunistischer Partei" saß, kannte niemand das wahre Gesicht von "Prachandra" - auf Deutsch dem "Wilden". Im Februar 1996 gründete der heute 52-jährige Revolutionär - er lebte damals noch überwiegend heimlich in Indien - mit einigen Genossen die "Kommunistische Partei Nepals" (Maoisten). Zehn Jahre später führt der "Lange Marsch" der Nachahmer Mao Zedong nicht nur in die Tempel der Macht von Kathmandu.

Prachandra steht auch an der Spitze einer frisch erstarkten maoistischen Rebellion in Südasien. In 13 von 28 Staaten Indiens grüßen sich nach Expertenmeinung rund 20.000 maoistische Guerilleros mit dem "Roten Gruß", der an die Schläfe erhobenen, geballten Faust. Ihr Aktionsradius reicht von Bihar an der Grenze zu Nepal über Zentralindien bis in den Bundesstaat Maharaschtra, in dem die Finanzmetropole Bombay liegt.

Neu Delhis Premierminister Manmohan Singh bezeichnete die Naxaliten, wie Indiens Maoisten genannt werden, vor einigen Monaten gar als "größte Gefahr" für die Stabilität seines Landes und für die sonst eher rosig eingeschätzten wirtschaftlichen Pers-pektiven Indiens. In China, dem Mutterland der revolutionären Überzeugung, dass die Wurzel des Umsturzes in den Händen von Bauern auf dem Land liegt, will man von Südasiens selbsternannten Jüngern Maos heute nichts mehr wissen. Ebenso gerne würde Peking verschweigen, dass Indiens Maoisten in den 60er-Jahren vom Reich der Mitte aufgepäppelt wurden.

In Nepal, dem knapp 25 Millionen zählenden Himalaja-Staat zwischen den beiden Giganten Indien und China, befindet sich Prachandra auf dem besten Weg, der mächtigste Mann der Nation zu werden. Die "Maobadis", wie die Rebellen im Volksmund genannt werden, kontrollierten bereits 80 Prozent von Nepals Territorium, bevor Prachandra am 16. Juni per Regierungshubschrauber aus seiner Hochburg im Osten des Landes nach Kathmandu geflogen wurde.

Kaum war der Maoistenführer in der offiziellen Residenz des amtierenden Premierministers Girija Prasad Koirala angekommen, erklärte der "Wilde": "Ich will nicht, dass der Tag, an dem ich den Untergrund verlasse, schlecht gemanagt wird." Unverzüglich und unverhofft erhielten die Politiker der sieben Parteien, die im Herbst des vergangenen Jahres einen Pakt gegen den absolutistisch regierenden König Gyanendra gebildet und den Monarchen im April mit massiven Demons-trationen entmachtet hatten, Appetithappen der Zukunft, die nun bevorsteht. Plötzlich tauchten Dutzende von Prachandras bewaffneten Genossen auf und übernahmen die Sicherheitsvorkehrungen in dem Gebäude. Die Maoisten organisierten eine Pressekonferenz. Während die Politiker folgsam nickten, verkündete Prachandra, dass die 90.000 Mann starken Streitkräfte Nepals überflüssig seien: "Die Armee kann nicht gegen China oder Indien bestehen, aber eine Volksmiliz von 25 Millionen Nepalesen wird ihnen Paroli bieten."

Feudales Erbe

Kein Wunder also, dass in dem Zwölf-Punkte-Programm, das Premierminister Koirala und Prachandra unterzeichneten, kein Wort über die Entwaffnung der "Maobadis" verloren wurde, die im größten Teil Nepals das Sagen haben. Stattdessen wurde die Beteiligung der Rebellen an einer Übergangsregierung vereinbart. Spätestens bis April 2007 sollen Wahlen zu einer Verfassungsgebenden Versammlung stattfinden. Angesichts der weitreichenden Kontrolle der Maoisten steht ihr Sieg bei dem Urnengang so gut wie fest.

Pushpa Kamal Dahal gleicht mit seinem grau melierten Schnauzbart und den gepflegten Haaren nicht unbedingt dem Klischee des revolutionären Idols, das als Südasiens frisch gebackener Mao die Massen begeis-tern könnte. Zwei Jahrzehnte im Untergrund haben zudem Anwandlungen überlebt, unter denen viele Politiker des Himalaja-Staats und in Südasien leiden. Sie organisieren ihre Parteien um Familienclans. Prachandra beweist bereits, dass auch die revolutionären "Maobadis" sich nicht von diesem feudalen Erbe befreien konnten.

Als er unlängst das Politbüro mit dem Argument umbildete, dies sei für Verhandlungen nötig, rückte sein Sohn plötzlich in Entscheidungsfunktionen auf. Zu den Gesprächen in Kathmandu brachte Prachandra neben dem Chefideologen Baburam Bhattarai auch gleich seine wichtigste Beraterin mit: Ehefrau Sita Dahal. Prachandras Genossen forderten seit dem ersten Tag ihres Kampfes die Abschaffung der Monarchie. Bauernräte sollen in den Dörfern die bisherigen, oft halbfeudalen Strukturen ersetzen. Die Ideen fanden vor allem in den Bergdörfern Nepals Unterstützung. Der "nur" zehn Jahre dauernde Marsch an die Macht in Kathmandu war freilich unter anderem nur möglich, weil Nepals "Maobadis" im Gegensatz zu ihren Vorbildern nie den Gang an die Urnen ablehnten - ein krasser Gegensatz zu den Genossen im Süden, den Naxaliten von Indien.

Ihr Name rührt von dem Ort Naxalbari her. Bei einem Blutbad wurden dort in den 60er-Jahren Dutzende von Landarbeitern massakriert. "In manchen Gegenden kontrollieren wir bereits 75 bis 80 Prozent der Dörfer", behauptet Banu, ein Parteikader der Naxaliten rund 40 Jahre später, "wir haben das Land umverteilt, es gibt Schulen und medizinische Versorgung." Banu gehört zur "Peoples Liberation Guerilla Army" (PLGA), der Kampftruppe der Naxaliten. Im Bedarfsfall werden die Kämpfer von Dorfmilizen unterstützt. Nahrungsmittel besorgen sich die Revolutionäre in Dörfern. Die Finanzen sind kein Problem. Schließlich muss "das Geld des Feindes umverteilt werden", wie die 35-jährige Komika Debnath erklärt, die seit 18 Jahren bei den Maoisten mitkämpft.

Lange Jahre brodelte der Konflikt nahezu unbeachtet als "Kastenkrieg" in verarmten und vernachlässigten Gegenden Indiens. Auf der einen Seite standen landlose Angehörige von unteren Kasten, die beispielsweise im Bundesstaat Bihar lediglich Nahrungsmittel als Bezahlung erhielten. Auch die Adivasis, die Angehörigen von in Wäldern lebenden Stämmen, schlugen sich auf die Seite der Maoisten. Ihnen gegenüber standen Bauern mit Grundbesitz, die sich bedroht fühlten und sich mit Selbstverteidigungsmilizen wehrten.

Der Konflikt heizte sich dank des indischen Wirtschaftsboom auf. "Die Adivasis in Zentralindien mit ihrem reichen Mineralvorkommen und Wälder leiden am stärksten unter der wirtschaftlichen Liberalisierung", sagt der Zeitungskolumnist Prem Shakar Jha. Die Stämme leben in ihren traditionellen Gebieten. Für jedes Blatt und jeden Ast finden sie eine nützliche Verwendung. Der Staat Indien, dem per Gesetz alle unterirdischen Vorkommen gehören, verkauft in diesen Gebieten unterdessen immer mehr Schürf- und Nutzungsrechte an große Konzerne.

Allein im Bundesstaat Chattisgarh investieren Privatkonzerne rund 1,8 Milliarden US-Dollar in die Minen- und Bergbauindustrie. Die Maoisten halten mit aller Gewalt dagegen. "Die Botschaft der Maoisten ist einfach. Sie sagen den Leuten, dass sie wegen des Einflusses ausländischen Kapitals und der Ausbeutung durch die Reichen leiden", sagt Chotom Das von der "Revolutionären Demokratischen Front" (RDF), einer den Maoisten nahen Gruppierung. Indiens Behörden reagierten mit der Gründung von "Salwa Judum", einer paramilitärischen Miliz, die mit Unterstützung der Polizei agiert. Ihre Taktik: Sie brennen Dörfer nieder, deren Einwohner als Anhänger oder Sympathisanten der Naxaliten gelten. Zwischen 50.000 und 70.000 Menschen wurden durch diese Politik der "verbrannten Erde" inzwischen aus ihrer Heimat vertrieben und in Lager gepfercht, die Gefängnissen gleichen.

Dennoch sind Naxaliten jetzt in einem Viertel der rund 600 Distrikte Indiens aktiv. Im Gegensatz zu Nepal dürften sie kaum Chancen besitzen, die Regierung in Delhi zu kippen oder die Macht zu erobern. Mit Nepals Maoisten-Führer Prachandra in einer Schlüsselstellung in Kathmandu besitzen Indiens Naxaliten ein leuchtendes Vorbild. Zumal zwischen Nepal, Zentralindien, dem Nordosten mit den Bundesstaaten Assam und Darjeeling und Bangladesh schon seit Jahrzehnten der Schmuggel aller Art blüht. Die Waffen, die die Maoisten sich so besorgen können, mögen veraltet sein. Armut und Vernachlässigung aber bleiben idealer Nährboden für Maos Ideen.

Der Autor ist freier Journalist und Südasien-Korrespondent.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.