Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
Rainer Hörig

Schmale Wege aus dem täglichen Verkehrschaos

Die indische Infrastruktur ist eigentlich gar keine
Indien empfängt seine Gäste aus Übersee nur des Nachts. Die Flüge aus Europa und Amerika landen in den großen Flughäfen Delhi und Mumbai stets in den frühen Morgenstunden. Vor den Immigrationsschaltern warten dann hunderte übermüdete Fluggäste. Das Gepäck kommt langsam auf ein einziges, quietschendes Förderband, das oft vor lauter Menschen kaum mehr auszumachen ist. Weil Wartehallen und Gaststätten fehlen, drängeln sich am Ausgang Taxifahrer und Abholer um den besten Platz. Wer es schafft, diesem Chaos zu entrinnen, findet sich - wenn er Pech hat, und das haben viele - schon bald in einem Verkehrsstau wieder. In Indien muss man sich ans Warten gewöhnen.

Seit Jahren schon befindet sich das Land an den Grenzen seiner Kapazitäten. Chaos an Flughäfen, notorisch verstopfte Straßen in den Innenstädten, schlaglochübersäte Landstraßen, Menschenaufläufe in den Bahnhöfen. Alle Anstrengungen zum Ausbau der maroden Infrastruktur werden durch die rasante Steigerung des Verkehrsaufkommens mehr als wettgemacht. Der Wirtschaftsboom lockt immer mehr ausländische Geschäftsleute und Techniker ins Land. Die Flucht vom Land in die Städte bringt mehr und mehr Pendler hervor. Und auch die erfolgreiche Tourismusindustrie trägt zum ständig wachsenden Verkehrsaufkommen bei.

Die Regierung ist sich dieser Probleme durchaus bewusst. "Das mit Abstand größte Defizit Indiens ist sein Infrastruktur-Defizit", sagt der für den Reformprozess verantwortliche Finanzminister Palaniappan Chidambaram. Einige gute Vorsätze hat die Regierung auch umgesetzt: Sie hat die Luftfahrt von staatlichen Fesseln befreit und teilweise privatisiert; Milliarden von Rupien fließen seit einigen Jahren in den Ausbau der Fernstraßen. Doch das größte Transportsystem, die indischen Eisenbahnen, wartet noch auf die so notwendige technische Revolution.

Die Bahn - ein veralteter Monolith

Mit 63.000 Kilometern verfügt die indische Eisenbahn über das zweitgrößte Streckennetz der Welt. Sie beschäftigt 1,5 Millionen Menschen - und ist damit vermutlich der weltweit größte Arbeitgeber. Etwa 11.000 Züge werden täglich auf die mitunter mehrere tausend Kilometer lange Reise geschickt. Tag für Tag nutzen 13 Millionen Menschen die Eisenbahn. Somit ist der Schienenverkehr immer noch das indische Massentransportmittel schlechthin. Wie kein anderes Transportsystem führt die Eisenbahn Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung zusammen, hier treffen Bauersfrauen auf Geschäftsleute, Tagelöhner auf Pilger.

Doch im Gegensatz zum rasanten Fortschritt in anderen Sektoren gerät die schwerfällige Eisenbahn mit ihrer Bürokratie zunehmend ins Hintertreffen. "Die Eisenbahn hat das Image eines knarrenden, unpersönlichen und veralteten Monolithen", kritisiert das Nachrichtenmagazin "India Today". Der immer schärfere Konkurrenzdruck durch Auto und Flugzeug wächst langsam aber stetig. Die indische Eisenbahn reagiert: Sie bemüht sich um mehr Kundenfreundlichkeit. Seit einigen Jahren können Tickets und Platzreservierungen im Internet und an einigen Geldautomaten gebucht werden. So können sich wohlhabende und gebildete Fahrgäste das stundenlange Anstehen am Bahnhofsschalter ersparen. Seit Neuestem fahren zudem viele Züge pünktlich, die Unfallrate sinkt. "Wir suchen die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft, um Kapital zu mobilisieren", erklärt Mukul Marwah, Pressesprecher der Central Railway in Bombay. "Finanzielle Engpässe sind das größte Hindernis für die Modernisierung und den Ausbau der Eisenbahn."

In Zukunft soll mehr Geld in die Modernisierung wichtiger Streckenabschnitte, die Sanierung altersschwacher Brücken und den Aufbau eines modernen Signalsystems investiert werden. Fernziel ist der Ausbau der Strecken zwischen den vier Metropolen Delhi, Bombay, Chennai und Kalkutta für so genannte Hochgeschwindigkeitszüge, die - immerhin - 100 Kilometer in der Stunde schaffen sollen.

Im Gegensatz zum "demokratischen" Transportmittel Eisenbahn gelten Autos in Indien immer noch als Fahrzeuge der Elite. In einem Land, in dem mindestens ein Viertel der Bevölkerung nicht die Grundbedürfnisse stillen kann und unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, gelten andere Maßstäbe. Ein Privatfahrzeug ist hier purer Luxus, der nicht einmal einem Prozent der Bevölkerung zur Verfügung steht. Kleinwagen wie der Ford Fiesta oder Opel Corsa gelten in Indien bereits als "Luxusautos", und für den Preis einer Mercedes-Limousine kann man sich auch ein schickes Eigenheim bauen.

Doch wie lange noch wird das Auto ein solches Nischenprodukt bleiben? Die Automobil- und Zulieferindustrie ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die deutsch-indische Handelskammer in Bombay nennt Indien den am schnellsten wachsenden Automobilmarkt der Welt. Im vergangenen Jahr wurden fast 900.000 Pkws verkauft - und mehr als sechs Mal soviele Motorräder und Roller.

Auch die Zulieferindustrie boomt und rüstet sich für den internationalen Wettbewerb. "Mit steigendem Bruttosozialprodukt wächst auch die Nachfrage nach Autos und Motorrädern", erklärt Baba Kalyani, Chef des Gussteillieferanten Bharat Forge in der Autostadt Pune. "Ich erwarte, dass die Branche jährlich um 12 bis 15 Prozent zulegt." Besonders bequem ist Autofahren in Indien nicht. Die Autofahrer müssen sich die Straßen mit Ochsenkarren, Kuhherden und klapprigen Lastwagen teilen. Fast die Hälfte des gesamten Verkehrsaufkommens rollt über nur zwei Prozent der Straßen - das 66.000 Kilometer umfassende Netz der Highways.

Doch was in Indien als Highway bezeichnet wird, entspricht eher der Qualität einer deutschen Landstraße. Dank den jüngsten Investitionen allerdings nicht mehr überall: Seit vier Jahren entstehen vierspurige Autobahnen zwischen den vier Metropolen, eine 4.000 Kilometer lange Nord-Süd-Verbindung sowie eine 3.300 Kilometer lange Ost-West-Achse.

Gegen den alltäglich Verkehrskollaps in den Städten dagegen ist vorerst keine Medizin zur Hand. Mehr als die Hälfte der Luftverschmutzung wird dort vom Auto- und Motorradverkehr verursacht. In Delhi und Kalkutta leiden 70 Prozent der Bevölkerung an Atemwegserkrankungen. Der mittelständische Unternehmer Sujit Patwardhan, der ein Bürgerforum zu Verkehrsfragen in Pune nahe Bombay initiierte, gibt zu bedenken: "Ich freue mich, dass immer mehr Menschen ein Auto kaufen können. Aber ich fürchte auch, Autofahren könnte bald mehr Pein als Freude sein. Unsere Städte ersticken am Verkehr, die Atemluft wird immer schlechter. Parkplätze sind schon jetzt Mangelware. Es kann gut sein, dass sich die Einstellung der Menschen zum Automobil bald ändert." Nach dem Erfolg der U-Bahn in Kalkutta und der neuen Schnellbahn in Neu Delhi sollen jetzt auch Bombay, Bangalore und Haiderabad eine Metro erhalten.

Rasantes Wachstum in der Luftfahrt

Verkehrsstaus sind alltäglich auf Indiens Straßen, kommen aber auch in der Luft immer häufiger vor. Mit dem explosionsartigen Wachstum der Luftfahrtindustrie geraten die altmodischen Flughäfen an die Grenzen der Belastbarkeit. Auch hier soll die Lösung lauten: Teilprivatisierung und Modernisierung mit privatem Kapital. In Bangalore plant ein Firmenkonsortium unter der Leitung von Siemens India Ltd. einen zweiten Flughafen in der ländlichen Umgebung. Der Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport ist Mitglied eines Firmenkonsortiums, das den internationalen Flughafen der Hauptstadt übernehmen und sanieren soll. Proteste der Beschäftigten in Delhi und Bombay, die um ihre Arbeitsplätze fürchten, konnten die Privatisierung nicht aufhalten.

Doch insgesamt schreitet der überfällige Ausbau der Infrastruktur nur langsam voran, denn er berührt häufig viele verschiedene Interessen - und nicht alle sind mit dem, was als Fortschritt verkauft wird, einverstanden. Privatisierung bedeutet in vielen Fällen den Abbau von Arbeitsplätzen und höhere Nutzergebühren. Verkehrsprojekte benötigen in der Regel viel Land, und das ist in Indien rar und teuer. Ein neuer Flughafen bedeutet etwa das Aus für Dutzende von Dörfern; deren Bewohner müssen ihr Heim und ihr Ackerland hergeben. Nicht selten treffen Großprojekte daher auf den Widerstand ganzer Bevölkerungsgruppen, die um ihre Existenzgrundlagen fürchten.

Die Lösung der Verkehrsprobleme wird viel Zeit brauchen und der alltägliche Verkehrsinfarkt dürfte noch lange Normalzustand bleiben. Bis auf Weiteres stellt man sich in Indien auf eine andere Art des Reisens ein. Mit dem Motto: Der Weg ist das Ziel.

Rainer Hörig arbeitet als freier Journalist und Autor in Pune.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.