Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
Sabine Muscat

Genauso schwierig wie China

Die deutsche Wirtschaft hat Indien als Markt und Produktionsstätte entdeckt
Die Geschäftsführung der Sick AG in Waldkirch hofft auf schnellen Erfolg in Indien. Das Gemeinschaftsunternehmen in Delhi soll noch in diesem Jahr profitabel werden - im zweiten Jahr nach der Gründung. Als großes Wachstumsland mit unterentwickelter Logistik ist Indien der ideale Markt für die Produkte des Unternehmens, die beim Sortieren von Paketen helfen oder dafür sorgen, dass die richtigen Container auf ein Schiff verladen werden.

Der badische Hersteller von Sensortechnik hat ein ungewöhnliches Geschäftsmodell gewählt: Der Partner ist ein lokales Beratungsunternehmen, das mit seiner Marktkenntnis und seinen Kontakten den Einstieg erleichtern soll. Nach vier Jahren wird der Berater sich zurückziehen - der Kaufpreis für die Anteile bemisst sich am bis dahin erzielten Geschäftserfolg. "Das soll eine Ehe auf Zeit werden, in der beide Partner mit Geld in der Tasche auseinander gehen", sagt Wolfgang Windau, Leiter der Geschäftsentwicklung von Sick.

Der deutsche Mittelstand hat ein neues Ziel. In Bombay kann sich Bernhard Steinrücke, Geschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer, nach eigenen Angaben vor Anfragen kaum noch retten. "Das Interesse an Indien ist explosionsartig gewachsen", bestätigt Rudolf Weiler, ein Pionier auf dem Markt. Der Geschäftsführer des Elektronikunternehmens Digisound in Norderstedt hat nie allein auf China gesetzt. Er lässt seit Jahren auch in Indien produzieren. Seither versucht Weiler, deutsche Unternehmer von seiner Strategie zu überzeugen: Der von ihm gegründete "German-Indian Round Table" lud im vergangenen Jahr in elf deutschen Städten zu mehr als 60 Veranstaltungen ein, rund 80 Mittelständler nahmen Anfang 2005 an einer Unternehmerreise nach Indien teil.

Auch von indischer Seite werden die Mittelständler hofiert. Die Round-Table-Mitglieder erhielten im April auf der Hannover-Messe eine Frühstücksaudienz bei Ministerpräsident Manmohan Singh. "In Deutschland ist jede Menge Technologie und Innovationskraft in den Händen der mittelständischen Industrie", schmeichelte der indische Handelsminister Kamal Nath den Deutschen schon vor dem Besuch. Wie schon im März beim Weltwirtschaftsforum in Davos nutzte die indische Regierung als Partnerland der Industrieschau in Hannover die Chance, um sich den Gastgebern als kommende Wirtschaftsmacht zu präsentieren.

Die Deutschen hätten diese Nachhilfe dringend nötig, meint Kunal Kumar Kundu, Analyst bei Progeon, einer Tochter des indischen IT-Konzerns Infosys, und Autor einer Studie der Deutschen Bank über deutsche Direktinvestitionen in Indien: "Deutsche Unternehmen, vor allem der Mittelstand, scheinen mit Indien nicht so schnell warm geworden zu sein wie ihre Konkurrenten in den USA und in anderen europäischen Staaten." Auch Handelsminister Nath klagt, dass deutsche Unternehmer den indischen Markt nicht ausreichend im Blick hätten.

Die Zahlen erzählen mittlerweile eine andere Geschichte: Indiens Handel mit Deutschland ist in den vergangenen beiden Jahren jeweils um mehr als 20 Prozent gewachsen und damit schneller als der Warenaustausch des Subkontinents mit der gesamten EU. Dass davor nicht so viel passiert war, lag eher an Indien. "Wirklich attraktiv ist Indien erst seit drei bis vier Jahren", sagt Andreas Waldraff, der mit seinem Unternehmen UBF.B deutsche Automobilzulieferer beim Markteintritt in Indien berät. Erst seit der indische Aufschwung eine kritische Masse erreicht hat, boomt die Nachfrage nach Investitionsgütern aus Deutschland. Davon profitieren vor allem die Maschinenbauer: Sie exportierten 2005 Waren im Wert von 1,5 Milliarden Euro nach Indien -

43,5 Prozent mehr als 2004. Textilmaschinen, Antriebstechnik und Werkzeugmaschinen waren die am meisten nachgefragten Produkte.

Die Investitionsbilanz der Deutschen ist ebenfalls besser als ihr Ruf. 1,5 Milliarden US-Dollar haben deutsche Unternehmen zwischen 1985 und 2005 in Indien investiert, damit waren sie drittgrößter europäischer Investor nach Großbritannien und den Niederlanden. Deutsche Unternehmen haben in Indien rund 650 Töchter gegründet. Seit 1991 haben sie mit indischen Partnern 1.095 Abkommen über Technologietransfer geschlossen. Und während der Mittelstand erst nachzieht, sind die Großen längst angekommen.

Die indische Siemens-Tochter hat 14.000 Mitarbeiter und baut gerade die 15. Fabrik. Der Softwarekonzern SAP betreibt in Bangalore sein größtes Forschungslabor außerhalb Deutschlands. Die Chemieriesen Bayer und BASF haben das Land als einen ihrer wichtigsten Wachstumsmärkte identifiziert.

Meist stimmt in Indien nicht nur der Umsatz, sondern auch der Ertrag. "Die indischen Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen haben regelmäßig eine höhere Profitabilität als ihre Muttergesellschaften", schreibt Kundu in der Studie der Deutschen Bank. Auch das verzerrt die Investitionsstatistik: "Die indischen Töchter großer deutscher Unternehmen brauchen für neue Projekte keinen müden Euro aus Deutschland", sagt Steinrücke. Sie reinvestieren ihre lokalen Gewinne.

Das Schöne an Indiens Wachstum ist aus Sicht der Unternehmen, dass es hausgemacht ist. Im selben Ausmaß, in dem sich die großen Konzerne des Landes für den Weltmarkt rüsten, steigt ihr Bedarf an deutschen Maschinen und deutschem Know-how. Höhere Einkommen der Mittelklasse führen dazu, dass die Privathaushalte mehr konsumieren und Geld anlegen. Die Unternehmensberatung A.T. Kearney hält Indien für den attraktivsten Markt für Investitionen im Einzelhandel. Ausländische Finanzdienstleister reißen sich um die Verwaltung der Ersparnisse der Mittelschicht. Auch hier sind die Deutschen gut im Geschäft: Die Deutsche Bank hat investiert, die indische Tochter der Allianz schrieb im Gegensatz zu China, wo der Versicherer in einem schwierigen Marktumfeld kämpft, schon zwei Jahre nach ihrer Gründung 2001 schwarze Zahlen.

Dagegen drohen die Deutschen ausgerechnet im Automobilmarkt, den Anschluss zu verpassen. Der Pkw-Markt hat sich seit 1998 auf mehr als eine Million Autos im Jahr verdoppelt - und da in Indien nur sechs Autos auf 1.000 Einwohner kommen, ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. Deutschland ist vor allem ein Name im Luxussegment: Mercedes fertigt in Pune, BMW baut eine Produktion in Madras auf. Doch während der China-Pionier Volkswagen erst jetzt einen Produktionsstandort gefunden hat, füllen Kleinwagen japanischer und koreanischer Marken die Straßen indischer Städte.

Suzuki beherrscht mit seinem indischen Partner Maruti Udyog die Hälfte des Pkw-Marktes, Hyundai bringt es auf 18 Prozent. Auch die lokalen Hersteller behaupten sich: Tata hat mit seinem Kleinwagen 16 Prozent des Marktes erobert. Für die deutschen Zulieferer ist die Nationalität des Kunden egal: Die Bosch-Tochter Mico, das größte deutsch-indische Einzelunternehmen, hat 100 Millionen Euro in eine neue Produktion von Einspritzpumpen für Dieselmotoren investiert - Lieferverträge gibt es mit Herstellern wie Tata und Mahindra.

Die Nachfrage nach Industriegütern deutscher Hersteller wird auch durch die Infrastrukturprogramme der indischen Regierung angekurbelt: Ein von Siemens geführtes Konsortium baut den neuen Flughafen in Bangalore, Siemens Indien verdient außerdem seit Jahren gutes Geld mit Stromübertragungstechnik, die Verkehrssparte sammelt Auftrag um Auftrag beim Ausbau des Schienenverkehrs. Mit dem größten privaten indischen Stromkonzern Tata Power und der koreanischen Doosan Heavy Industries bewirbt sich das Unternehmen nun um die Modernisierung von vier Kraftwerken - die Ausschreibungen sind Teil des "Ultra Mega Power Projects"-Programmes der Regierung. Die zügige Realisierung dieser Projekte ist ein Muss, wenn Indien seine Dynamik beibehalten will. Nach Berechnungen der Weltbank könnte die Produktivität in Indien um 80 Prozent gesteigert werden, wenn das Land sein Energieerzeugungsproblem in den Griff bekäme. Die Studie bezieht sich auf das Jahr 2004, in dem 60 Prozent der Unternehmen auf private Stromerzeugung angewiesen waren.

Und es gibt weitere schwerwiegende Probleme für Investoren: Die großen logistischen Schwierigkeiten haben vor allem die Massenhersteller bisher von Indien abgehalten: "Die meisten ‚Just-in-time'-Konzepte scheitern oder stehen regelmäßig vor dem Zusammenbruch, weil die indische Infrastruktur mit den an sie gestellten Anforderungen nicht Schritt halten kann", heißt es in einer Marktanalyse der Handelskammer.

Doch das hohe Haushaltsdefizit erschwert eine drastische Aufstockung der staatlichen Infrastrukturinvestitionen. Angekündigt sind 150 Milliarden US-Dollar bis zum Jahr 2010 - das entspricht in ungefähr der Summe, die China jedes Jahr in diesem Sektor ausgibt. Die indische Regierung wird wie im Fall der Flughafen- und Kraftwerksmodernisierungen auf die Bereitschaft ausländischer Konzerne angewiesen sein, nicht nur zu liefern, sondern sich an Projekten der öffentlichen Hand zu beteiligen - und deren Risiko mitzutragen. Dieses Vertrauen zu gewinnen, wird nicht einfach sein. Der indische Staatssektor ist berüchtigt für Bürokratie, Überregulierung und Ineffizienz. Bei der Stromerzeugung will die Regierung ausländischen Investoren den Einstieg schmackhaft machen, indem sie staatliche Regulierungen für Abgabepreise lockert. Auch das Genehmigungsverfahren für die Projekte soll zentral gebündelt werden.

Selbst nach der Abschaffung des Systems, in dem für jede Produktionsausweitung Lizenzen nötig waren, klagen Investoren über den hohen administrativen Aufwand, von dem der Aufbau eines Geschäftes begleitet sei. Erschwert wird die Situation durch die föderalen Strukturen: Von Bundesstaat zu Bundesstaat können die Vorgaben der Behörden sehr unterschiedlich sein. So darf der Großhandelskonzern Metro in seinen Märkten in Bangalore kein Obst und Gemüse verkaufen, am zweiten Standort Kalkutta wurde die Genehmigung bereits erteilt.

Trotz dieser Defizite hat Indien eine Reihe von Vorzügen, die es im Vergleich zu China ausspielen kann. In dem demokratischen Staat herrscht Gewaltenteilung - die Voraussetzung für eine unabhängige Justiz. Die Probleme, die deutsche Unternehmen in China beim Schutz ihrer Technologie haben, lassen viele nun Hilfe suchend nach Indien blicken.

"Erzwungener Technologietransfer ist in Indien überhaupt kein Thema und auch Markenschutzverletzungen kommen selten vor", sagt Handelskammer-Chef Steinrücke. "Hier gibt es klare Gesetze und die werden auch angewendet." Das allerdings kann lange dauern: An indischen Gerichten stauen sich 26 Millionen Klagen, schätzt die Unternehmensberatung KPMG.

Und selbst den Faktor, der oft als Indiens größtes Plus gesehen wird, versehen Marktkenner mit einem Fragezeichen: "Indien wird im Vergleich zu China oft als einfacher empfunden, weil dort Englisch gesprochen wird", sagt Ulrich Ackermann, Leiter der Außenwirtschaftsabteilung beim Verband der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA). Dabei seien die Mentalitätsunterschiede genau so groß, die Beziehungsgeflechte für den Außenseiter genau so schwierig zu entwirren. Wer in dieses Dickicht vorstoßen will, braucht gute Berater.

Für abenteuerlustige Mittelständler will Ackermann jedenfalls keine Entwarnung geben: "Indien ist für Mittelständler genau so ein schwieriger Markt wie China."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.