Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 32 - 33 / 07.08.2006
Rainer Hörig

Die Natur wird verehrt und dennoch ausgebeutet

Gesetze zum Umweltschutz gibt es, sie reichen aber nicht aus

Hört auf, ich bin doch nur ne arme Putzfrau! All' mein Geschirr ist futsch, kauft Ihr mir etwa neue Töpfe?" Schimpfwörter und Steine regnen auf Polizisten, sie schlagen mit Tränengas und Bambusknüppeln zurück. Inmitten des Tumults speit ein Bagger schwarze Qualmwolken in den heißen Mittagshimmel. Seine mächtige Schaufel zermalmt gnadenlos eine Hütte nach der anderen. Im Schatten eines mächtigen Baumes suchen die Bewohner Schutz - vergeblich.

Wieder einmal ist das bewaffnete Räumungskommando unterwegs, mit dem die Stadt Bombay die wuchernden Slums einzudämmen versucht. Die Beamten tun ihre Pflicht. Sie versuchen, Bombays grünes Wunder, den Borivli-Nationalpark, zu retten, der sich im Nordosten der Stadt aus dem Betonmeer erhebt. Hier streunen Hirsche und Leoparden durch üppige Dschungel, hinterm Bambusdickicht schlummern buddhistische Höhlentempel und kleine Ureinwohnerdörfer. Zwei Seen liefern kostbares Trinkwasser für die Millionenstadt. Doch der Moloch Bombay droht seine grüne Lunge zu verschlingen. "Steinbrüche, Holzdiebstahl, und Landbesetzung durch Slumbewohner bedrohen die Existenz des Parks", klagt der Umweltschützer Debi Goenka. Er ging deswegen vor Gericht und erreichte einen Räumungsbefehl für 61.000 Slumhütten an der Westgrenze des Parks. Doch andere Bürgergruppen, die die Interessen der Vertriebenen vertreten, reichten Gegenklage ein und stellten öffentlich die Frage, warum Hirsche und Leoparden mehr Rechte besitzen als Slumbewohner.

In Indien besitzen ökologische Konflikte stets eine soziale Komponente, denn für die Armen sind kostenlos verfügbare Ressourcen wie Feuerholz und Trinkwasser überlebenswichtig. Dürren, Fluten und Erdbeben erinnern gelegentlich auch die Wohlhabenden daran, dass menschliches Leben von der Natur abhängt. Alle in Indien entstandenen Religionen teilen die Überzeugung, die ganze Welt, Steine, Berge, Flüsse, Wälder, Tiere, Pflanzen, Bakterien und Mikroben seien vom heiligen Geist erfüllt. Jedes Lebewesen besitzt demnach eine Daseinsberechtigung, denn es repräsentiert göttlichen Willen. Weil die Menschen für ihr Wohlergehen auf andere Lebewesen angewiesen sind, muss das natürliche System in seiner ganzen Vielfalt erhalten bleiben.

Diese Erkenntnis gossen die alten Weisen in einen Verhaltenskodex, den sie "Ahimsa", wörtlich übersetzt "Nicht-Gewalt", nannten. Ahimsa ist weit mehr als das Gebot, nicht zu töten. Es umfasst auch Toleranz im Verhalten und Bescheidenheit im Selbstverständnis des Einzelnen. Bis heute verehren fromme Hindus Flüsse, Berge, Tiere und Pflanzen.

Doch in der Wirtschaft und Politik gelten andere Gesetze. Heute wird der Lauf heiliger Flüsse durch riesige Staudämme blockiert. Heilige Bodhi-Bäume fallen der Verbreiterung von Straßen zum Opfer. Die Menschen betonieren die Erde zu und vergiften sie mit Pestiziden. Den alten Weisheiten zum Trotz geht die indische Nation mit den ihr anvertrauten Naturschätzen nicht sorgsamer um als andere auch. Indiens heilige Flüsse sind zu Kloaken verkommen.

Keine einzige Stadt, nicht einmal die Hauptstadt Delhi, besitzt eine funktionierende Abwasserreinigung. Indische Nahrungsmittel sind gefährlich hoch mit Pestizidrückständen verseucht. Selbst die Muttermilch enthält gesundheitsschädliche Chemikalien. Mehr als 10.000 Menschen sind bis heute an den Folgen des Giftgasunfalls 1984 in Bhopal gestorben. Und jedes Jahr ereignen sich in Indien ein halbes Dutzend kleinere Bhopals. In den großen Städten hat die Luftverschmutzung katastrophale Ausmaße angenommen, Atemwegserkrankungen und Allergien häufen sich. Auch um den Wald ist es schlecht bestellt: Zwar sprechen offizielle Zahlen von einem Waldbestand von mehr als 20 Prozent der indischen Landfläche; doch Umweltschützer behaupten, ein großer Teil der als Wald registrierten Flächen sei längst degradiert und abgeholzt. Das Ministerium für Umwelt und Forsten, oberster Hüter der Wälder, hat nach eigenen Angaben zwischen 1999 und 2003 insgesamt 382.000 Hektar Waldland für andere Nutzung freigegeben - hauptsächlich für Besiedlung und Ackerbau, für Bergwerke und Staudämme.

Doch wenn Wälder verschwinden, verlieren Bambusflechter, Korbmacher, Holzschnitzer und Zimmerleute ihre Arbeit. Adivasi, die Nachfahren der Ureinwohner, die im und vom Wald leben, finden kein Auskommen mehr und müssen in die Slums der Städte fliehen. Dorfbewohner müssen weitere Wege zurück-legen, um Feuerholz, Wildfrüchte und Heilkräuter zu sammeln oder ihr Vieh zu weiden. Fehlt der Waldbewuchs, so kann die Erde die heftigen Monsunregen nicht mehr aufnehmen. Es entwickeln sich Sturzbäche, die die humusreiche Erdkrume fortspülen und Überschwemmungen verursachen. Immer mehr Regionen werden anfällig für Dürren, denn nach der Entwaldung werden die unterirdischen Wasserspeicher nicht mehr genug gefüllt.

Vielerorts gehen die Betroffenen gegen den Raubbau an der Natur auf die Straße. Kleinbauern und Adivasi protestieren seit mehr als 15 Jahren gegen ein gigantisches Staudammprojekt am Narmada-Fluss. In den Bergregionen von Orissa wehren sich zahlreiche Adivasi-Gemeinschaften gegen das Auflassen neuer Bauxitminen, weil sie beobachten konnten, wie der Bergbau die Lebensgrundlagen ihrer Nachbarn zerstörte. Ein anderes Beispiel für den Kampf der Bevölkerung gegen umweltschädliche Industrieanlagen stammt aus Chipri. Im Jahr 1998 nahm in diesem Dorf an der indischen Westküste die Chemiefabrik "Star Oxochem" die Produktion chemischer Säuren auf. Der Betreiber versprach den Dorfbewohnern Arbeitsplätze. Doch nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass die Fabrik das Grundwasser verseuchte. Zahlreiche Proben aus verschiedenen Wasserquellen erwiesen sich bei Tests als "zum Trinken und zur Feldbewässerung ungeeignet".

Nach anhaltenden Protesten der Dorfbevölkerung ordnete das Umweltschutzamt im Mai 2003 die Schließung der Fabrik an. Einen Monat später wurde die Säureproduktion wieder angefahren. Die Dörfler sprachen Politiker und hohe Beamte an, aber außer leeren Versprechen erhielten sie nichts. Im Juli 2004 starben zwei Kinder in Chipri an Diarrhoe. Daran trüge die Fabrik die Schuld, meinen die Dorfbewohner. Der Dorfrat beschloss ein Ultimatum und widerrief die Betriebserlaubnis zum 31. Dezember 2004. Als am ersten Tag des Jahres 2005 noch immer nichts geschehen war, attackierten die Dorfbewohner den Betrieb, zerstörten Autos, Computer, Büromöbel. Wenig später ordnete das Umweltschutzamt abermals die Schließung der Chemieschleuder an.

Die indischen Parlamente haben eine Reihe von Gesetzen zum Schutz der Umwelt erlassen. Doch oft reichen sie selbst in akuten und nachweisbaren Fällen nicht aus, um skrupellosen Umweltverschmutzern das Handwerk zu legen. Bürokratie und Politik fehlt es häufig am Willen, die Gesetze zur Reinhaltung von Luft, Wasser und Erde durchzusetzen. Wirtschaftliche Anreize, also Arbeitsplätze und Steuereinnahmen, aber auch Schmiergelder erweisen sich meist als stärker als die Fürsorge für Mensch und Natur.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.