Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 34 - 35 / 21.08.2006
Jörn Fischer

Die politische Verantwortung

Geschichte der Rücktritte in der Bundesrepublik
Was haben ein Einkaufswagenchip und ein Panzer gemeinsam? Sie gaben Anlass zu Rücktritten von Mitgliedern der Bundesregierung. Jürgen Möllemann stolperte 1993 als Wirtschaftsminister über die Briefbogenaffäre: Auf ministeriellem Briefpapier pries er das "pfiffige Produkt" eines angeheirateten Vetters an. Und Gerhard Stoltenberg wurde ein Jahr zuvor der durch sein Ministerium nicht unterbundene illegale Panzerexport in die Türkei zum Verhängnis.

Dies sind nur zwei Demissionen, die Pascal Beucker und Frank Überall in ihrem Buch "Endstation Rücktritt" behandeln. "Warum deutsche Politiker einpacken", so der Untertitel, möchten die beiden Journalisten in ihrem gut 300 Seiten starken Werk ergründen. Die Frage nach dem Warum ist berechtigt. Warum tritt Rudolf Seiters nach der tödlichen RAF-Fahndungspanne von Bad Kleinen als Innenminister zurück, während die auch zuständige Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hingegen im Amt bleibt? Warum übersteht Hessens Ministerpräsident Roland "Teflon" Koch den Schwarzgeld-Skandal der Landes-CDU ohne Amtsverlust, während sein baden-württembergisches Pendant Lothar Späth nach einer "Traumschiff-Affäre" zurücktritt? Und warum ist die Frage nach dem Warum eigentlich so schwierig zu beantworten?! In Deutschland gibt es keine formalen Regeln darüber, in keinem Gesetz und in keiner Geschäftsordnung, wann ein Politiker seine Ämter aufzugeben hat. Diese banale Tatsache lässt Spekulationen über die Konsequenzen, die ein Politiker aus einem Fehltritt zu ziehen hat, breiten Raum.

Um es vorwegzunehmen: Die diffizile Frage nach dem Warum kann auch dieses Buch nicht beantworten - schon allein deshalb nicht, weil ein systematischer Versuch der Beantwortung nicht gewagt wird. Es erschöpft sich in diesem Punkt weitgehend in dem häufig wiederkehrenden Hinweis auf die Machtbasis der Skandalierten in den eigenen Reihen: Fällt die Rückendeckung der Parteifreunde, so ist der Abgang in aller Regel besiegelt. Welche Rolle etwa den Medien bei politischen Rücktrittsdebatten zukommt, wird zwar in einem Unterkapitel behandelt, doch das Urteil der Autoren über die eigene Zunft fällt erstaunlich unkritisch aus. Sie erkennen immerhin an, dass die Medien lieber Be- als Entlastendes berichten, kommen jedoch letztlich zu dem Schluss, dass "Journalisten Politiker nicht stürzen können, sondern höchstens die Munition für einen Sturz transportieren". Ob der später rehabilitierte Lothar de Maizière, 1990 wegen angeblicher Stasi-Tätigkeiten aus dem Kabinett Kohl zurückgetreten, dies genauso sieht?

Das Buch gliedert sich im Prinzip in zwei Teile: Zunächst wird eine "Phänomenologie des Rücktritts" entwickelt. Dahinter steckt der Versuch, sowohl eine Rücktrittstypologie als auch allgemeingültige Aussagen zum Phänomen der politischen Rücktritte unter einen griffigen Kapitel-Titel zu rubrizieren. Dieser etwa 60 Seiten umfassende Abschnitt ist für den spezifisch an Rücktritten - und nicht nur an der Dokumentation von Skandalen - interessierten Leser der gewinnbringendste. Hintergründe, Mechanismen und Prozesse von Rücktrittsdiskussionen werden am ehesten hier behandelt.

Unfreiwillig aus dem Amt

Der zweite Teil unterscheidet sich dagegen an vielen Stellen nur wenig von einer Affären-Chronik. Der Schwerpunkt liegt dort nämlich auf Rücktritten, bei denen der Politiker unfreiwillig aus dem Amt gedrängt wurde - die Politikwissenschaft spricht hier von Push-Rücktritten -, wobei die Anlässe der Demission vielfältig sein können. Die Autoren kategorisieren hier zum Beispiel nach Rücktritten aufgrund zu guter "Nehmerqualitäten" (Vorteilnahme), Rücktritten als Konsequenz der Übernahme politischer Verantwortung nach den Fehlern anderer und Rücktritten, die den Schwierigkeiten mancher Funktionsträger im Umgang mit dem Nationalsozialismus geschuldet sind. Und auch wenn das Liebes- und Privatleben von Politikern für deutsche Journalisten meist weitgehend tabu ist, wird ferner ein erhellender Blick auf Demissionen geworfen, bei denen das Private plötzlich politisch wurde. Gerade an solchen Stellen zeigt sich, wie Rücktritte und solche, die nicht erfolgten, auch Indikatoren für gesellschaftliche Wandlungsprozesse sind.

Neben dem Push-Rücktritt wird auch der Typus des "Rücktritts aus Überzeugung" behandelt. Dazu zählen die Autoren jene Rücktritte "aufrechter" Minister, die aus politischer Überzeugung gegen eine aus ihrer Sicht nicht mehr tragbare Regierungspolitik ihren Platz auf der Regierungsbank räumen.

Man fragt sich gelegentlich, welche Kriterien an die Auswahl der beschriebenen Fälle angelegt wurden: Während der 2001 wegen "Problemen mit dem Finanzamt" zurückgetretene Europaminister Nordrhein-Westfalens, Detlev Samland, auf immerhin drei Seiten behandelt wird, finden Rücktritte von Mitgliedern der Bundesregierung wie beispielsweise die von Postminister Schwarz-Schilling, Gesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt oder Kanzleramtschef Bodo Hombach lediglich im Anhang des Buches Erwähnung.

Ein echtes Manko dieses Buches ist das fehlende Fazit. Nach Dutzenden Seiten zu Skandalen und Affären um Hundeshampoo klauende Minister, busengrapschende Abgeordnete, intrigierende CSU-Jünglinge, ihre Nazi-Vergangenheit verschleiernde Ministerpräsidenten und Lottoscheine fälschende Kreisvorstände würde sich der Leser natürlich eine pointierte Analyse des Gelesenen wünschen. Darin hätte man sich beispielsweise mit der Frage auseinandersetzen können, wie sich die insbesondere Anfang der 1990er-Jahre aufgetretene Häufung von Rücktritten aus ostdeutschen Landeskabinetten erklären lässt. Stattdessen wird im letzten Kapitel ein etwas isoliert dastehender Blick über die Grenzen zu einigen prominenten Rück-tritten im Ausland geworfen.

Was ist die bleibende Erkenntnis der Lektüre von "Endstation Rücktritt"? Politiker sind auch nur Menschen.

 

Pascal Beucker / Frank Überall: Endstation Rücktritt. Warum deutsche Politiker einpacken. Econ Verlag, Berlin 2006; 352 S., 18 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.